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Jan Engelmann, Michael Wiedemeyer (Hrsg.): Kursbuch Arbeit. Ausstieg aus der Jobholder-Gesellschaft - Start in eine neue Tätigkeitskultur?

"Eine Theorie, die den globalen Wirtschaftsoptimismus überzeugend darlegt, müsste einen effektiven politischen Mechanismus beinhalten, mit dem die Zustimmung von Milliarden von Menschen zu den Spielregeln, nach denen sie spielen sollen, erreicht werden kann, auch wenn viele von ihnen in Armut und manche sogar im Elend leben müssen. Die Politik hat nicht ausgedient, nur weil es das neue Paradigma so will, und die Geschichte hört nicht auf, nur weil die "New Economy" es so sieht. Wenn es das Schicksal gut mit ihnen meint und sie am richtigen Ort wohnen, werden unsere Ur- und Ururenkel in hundert Jahren tatsächlich ein Leben in Wohlstand führen, der sich als hohes Maß an materiellem Komfort und/oder Freizeit definieren lässt. Die technischen und ökonomischen Voraussetzungen für solch eine Entwicklung sind vorhanden. Aber wenn unsere Nachkommen sich dieses Zustands auf Dauer erfreuen wollen, wie wir es ihnen natürlich wünschen, müssen sie sehr viel mehr Geschick als ihre Vorfahren dabei beweisen, die globale wie auch die nationale und lokale Politik zu gestalten. Wenn es ihnen an dieser Fähigkeit und am Glück mangelt oder wenn sie am falschen Ort wohnen, werden Sie vielleicht sogar ums Überleben kämpfen müssen."

Cornelia Beuel |
    Mit dieser sozialdarwinistischen Perspektive beendet der britische Wirtschaftskolumnist Peter Jay sein im Propyläen Verlag erschienenes Pamphlet "Das Streben nach Wohlstand - Die Wirtschaftsgeschichte des Menschen". Ernsthafter und seriöser wird in dem von Jan Engelmann und Michael Wiedemeyer herausgegebenen "Kursbuch Arbeit" über die Zukunft des Arbeits- und Beschäftigungssystems nachgedacht.

    Kapitalismus war nie nur eine Wirtschaftsform, sondern stets auch eine soziale und kulturelle Existenzweise. Heute, da Umwälzungen globalen Ausmaßes den Alltag erfassen, tritt unverstellt zutage, was das heißt: "Kultur des Kapitalismus". Es heißt: Erosion sozialer Zugehörigkeit und Verantwortung. Es heißt: Fragmentierung von Lebensläufen oder - in der Sprachregelung ihrer Protagonisten - "Kultivierung der Flexibilität". Das aber heißt: die Dehnfestigkeit individueller Biographien bis zum zerreißen zu strapazieren. Oder wie der Soziologe Oskar Negt in seinem Plädoyer gegen "eine Ökonomie erster und zweiter Klasse" schreibt:

    Es hat nie in der Geschichte eine so enge, dürftige, offizielle Definition des Menschen gegeben wie hier: abgemagert, um seine Potenziale, seine Fähigkeiten gebracht. Er soll sich nicht ausruhen in der Bildung, Muße und Mußefähigkeit entwickeln, sondern sich schnell umbilden, flexibel sein, vergessen, was er gestern gedacht hat. Gegen diesen Aberwitz eines manipulierbaren, jedes Eigensinns beraubten und allseitig verfügbaren Menschen entschieden Einspruch zu erheben, das wäre einer breiten Kulturoffensive wert.

    "Kursbuch Arbeit" ist der überaus lesenswerte Versuch einer Bestimmung des Politischen. Den Autorinnen und Autoren aus Praxis, Wissenschaft und Journalismus, unter ihnen so renommierte Sozialwissenschaftler wie Oskar Negt, Zygmunt Baumann, André Gorz oder Richard Sennett geht es um die offensichtlichen sozio-ökonomischen Ungleichheiten, die die neue Ökonomie hervorbringt, um die Verformungen der Charaktere und um die mit ihr synchron sich herstellende massenhafte Bewusstlosigkeit. Grundlage dieser Anthologie von soziologischen Essays, Berichten und Geschichten aus dem realen Kapitalismus sind Fragen nach den Auswirkungen der gegenwärtigen Form des Kapitalismus auf die Menschen und ihre Lebenswelt. Wie entwickelt sich eine Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit ausgeht, genauer: in der immer mehr gesellschaftlicher Reichtum durch immer weniger "lebendige Arbeit" produziert wird? Wer sind die "Nutznießer" und wer die Ausgespuckten? Wie verändert sich das soziale Klima, das Menschenbild - was ist eigentlich die "Idee des Menschen" heute? Keine braven "Common Sense"-Texte sind hier vereint, die unentwegt die indoktrinierende, alles Denken vereinnahmende Propaganda der "kapitalistischen Erfolgsgeschichte" fortschreiben, sondern Stellungnahmen, Interventionen und Analysen einer Politik, die Menschen und soziale Errungenschaften skupellos aufgibt, dem - nach Oskar Negt - "Globalisierungsbetrug" opfert und deren Rhetorik uns soziale Einschnitte als "Erfolg" und als unrevidierbare "Naturgesetze" verkaufen will. So schreibt Oskar Negt:

    Das Neue am Kapitalismus ist nicht seine Globalisierungstendenz. Sie gehört, wie die bürgerliche politische Ökonomie und Marx das hinreichend unter Beweis gestellt haben, zur Struktur dieser Wirtschaftsform. Was absolut neu ist, zeigt sich darin, dass Kapital und Markt noch nie so ungehindert und praktisch ohne domestizierende Schutzschichten agieren konnten. Idealtypisch betrachtet, haben wir es mit einer Welt als Börse zu tun.

    Ohne etwa ein sicheres Gestern herbeizusehnen oder gar das Arbeitsleben des klassischen Industrialismus zu idealisieren, registriert er die Erosionen, die kulturellen Brüche und sieht in der radikalen Umorganisation der Arbeitswelt vor allem einen Vorgang menschlicher Entwertung und des Zerfalls identitätsstiftender Kontinuität. Ohne das Vertrauen jedoch auf verlässliche Konstanten, genötigt Risiken zu übernehmen, deren Ursachen und Folgen für den einzelnen undurchschaubar bleiben, nicht zu wissen ob man heute befördert wird oder morgen schon rausfliegt, ob man als "effizient" oder eben als entbehrlich, als "überflüssig" gilt - all das gleiche einem Vabanquespiel. So gesehen schreibt der neue Kapitalismus, der Strukturumbruch einer produktionsorientierten zu einer spekulationsorientierten Ökonomie, für sein Personal eine Dramaturgie vor, bei der vielleicht noch das obere Fünftel auf Dauer mitspielen kann. Oder mit den Worten des Kulturkritikers und Philosophen Andre Gorz, der im Gespräch mit den Herausgebern, die Suggestionen der neoliberalen Ideologie wieder zur Kenntlichkeit ent-stellt:

    ... wie schaut denn die Wirklichkeit aus? In den letzten 20 Jahren hat eine fantastische Umverteilung stattgefunden. (...) Insgesamt ist heute die Summe der arbeitsunabhängigen Gewinne nur noch um ein Fünftel kleiner als die Summe der Löhne und Gehälter, die die Deutschen sich erarbeiten. (...) Arbeit ist in einem solchen Ausmaß abgebaut, umgestaltet, flexibilisiert, unsicher geworden, dass die Arbeitenden in einer Risikogesellschaft leben, während die Vermögenden in einer Kasinogesellschaft zu leben glauben, in der man spielend mit Geld mehr Geld machen kann.

    Im "Kursbuch Arbeit" geht es nicht etwa um Schwarzweißmalerei in Sachen neue Arbeitswelt. Die Möglichkeiten, die neue Organisationskonzepte, diskontinuierliche Erwerbsarbeit mit sogenannter "freier" Zeiteinteilung, "Eigeninitiative" und angebliche "Individualisierung" bieten, werden durchaus in den Reportage-Streifzügen im letzten Teil des Buches angesprochen. Und hier zeigt sich: wer damit leben kann, nicht zu wissen, ob er morgen noch tun wird, was er heute tat, wer mit der Selbstausbeutung und einer 50 bis 70 Stunden Woche aufblüht, wer sich von Inhalten und Sinnfragen zu lösen versteht, die Fragmentierung und Instrumentalisierung des eigenen Lebens bejaht und mit Freiheit und Kreativität verwechselt, der hat gewiss das Zeug dazu, sich auf die Seite der Gewinner zu schlagen - für eine Weile jedenfalls. Dabei mag Ausbeutung zur Selbstausbeutung umdefiniert noch nicht einmal das eigentlich Neue sein, dass sie aber von vielen der unter 40jährigen Arbeitseliten als Lust und persönliche Notwendigkeit - "Ich arbeite, also bin ich" - erlebt wird, darin liegt schon eine bemerkenswerte Mentalitätsverschiebung und Selbstentfremdung.

    Wo aber bleibt der Einspruch gegen diese organisierte und ausgesprochen "effiziente" Manipulation, gegen diese "organisierte Verantwortungslosigkeit", die den Menschen zur beliebigen Verschiebemasse degradiert? fragt Oskar Negt. - Vielleicht eine sozialromantische Forderung. Vielleicht aber auch nicht.

    Cornelia Beuel über Kursbuch Arbeit . Ausstieg aus der Jobholder-Gesellschaft - Start in eine neue Tätigkeitskultur? Der Band wird von Jan Engelmann und Michael Wiedemeyer bei der Deutschen Verlags-Anstalt in München herausgegeben. Er umfasst 464 Seiten und kostet 44,- DM.