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Jedes Wort zählt

Medizin. - Jedes Jahr werden in Deutschland 80.000 Menschen sprichwörtlich sprachlos: ein Schlaganfall beraubt sie der Fähigkeit, Worte zu finden für das, was sie empfinden und denken. Aphasie nennen die Mediziner diesen Zustand. Doch nicht nur Ärzte arbeiten mit diesen Menschen ohne Sprache, auch Hirnforscher und Sprachwissenschaftler interessieren sich für die Aphasie, um besser zu verstehen, wie sich die Sprachverarbeitung im Gehirn vollzieht. Eine Konferenz beleuchtete am vergangenen Wochenende in Potsdam das Phänomen.

Von Volkart Wildermuth |
    Eine kleiner Blutklumpen schwimmt durch die Gefäße, in einer Ader des Gehirns bleibt er stecken, blockiert die Sauerstoffversorgung. Schon bald sterben einige Nervenzentren ab - ein Schlaganfall. Oft sind die Patienten nicht nur gelähmt, es hat ihnen auch die Sprache verschlagen. Und das ist für die Kranken wie für ihre Angehörigen außerordentlich erschreckend, wie Professor Ria de Bleser von der Universität Potsdam bei der Behandlung von vielen hundert Aphasiepatienten erfahren hat:

    Menschen, die nicht kommunizieren können, haben das menschlichste, was es überhaupt gibt, verloren. Das ist ein Riesenverlust, man will aus dieser Isolation, die man ohne Sprache hat, herauskommen. Diese Leute wissen genau, was sie sagen möchten, sie haben also keinen Intelligenzverlust, sondern können es einfach nicht mehr sagen.

    Der Gedanke, das Gefühl ist klar, doch auf dem Weg zum Mund zerbröselt alles, heraus kommen nur wirre Worte. Was für den Einzelnen eine Katastrophe ist, bietet der Wissenschaft eine Chance. Das hat der Franzose Paul Broca vor hundertfünfzig Jahren als erster erkannt. Eine seiner Patientinnen sprach stockend, reihte nur Hauptwörter und Verben aneinander und hatte jedes Gefühl für die Grammatik verloren. Nach ihrem Tod entdeckte er ein großes zerstörtes Hirngebiet hinter der linken Schläfe. In dieser Region liegt das Zentrum für die Sprachproduktion, vermutete Broca. Noch heute werden solche Patientinnen Broca-Aphasiker genannt. Es gibt aber auch Aphasiker, die ganz flüssig sprechen, deren Sätze aber keinen Sinn ergeben. Bei der Wernicke-Aphasie, benannt nach dem deutsche Nervenarzt Karl Wernicke, ist ebenfalls die linke Hirnhälfte betroffen, allerdings ein etwas weiter hinten gelegenes Gebiet. Hier wird offenbar die Bedeutung mit den Worten verknüpft. Ein Schlaganfall kann aber noch weitere Sprachzentren beeinträchtigen. Etwa Teile des geistigen Lexikons, so dass die Patienten bestimmte Wortgruppen, etwa die Bezeichnungen für Tiere oder Werkzeuge, nicht mehr verstehen und verwenden können. Jeder Ausfall eines bestimmten Aspektes der Sprache belegt, dass diese Funktion von einem eigenen Nervenzentrum übernommen wird. So lässt sich durch die Arbeit mit den Aphasikern herausfinden, wie das Gehirn die Sprachverarbeitung organisiert. Der Schwerpunkt der Potsdamer Tagung "Science of Aphasia 5" lag auf der Frage, ob diese Organisation für alle Sprachen gleich ist. Insgesamt wurden Aphasien in 14 Sprachen beschrieben, von Englisch, über Finnisch bis zu Zulu. Sie alle zeigen dieselben Untergruppen der Aphasie: Grammatikstörungen, Wortfindungsstörungen oder Probleme, den Sinn mit den Worten zu verknüpfen. Es scheint wirklich eine universelle Grammatik zu geben, die im Gehirn jedes Menschen gleich verarbeitet wird, egal welche Sprache er spricht. Das gilt sogar für die Gebärdensprache. Denn auch taubstumme Menschen zeigen nach einem Schlaganfall die typischen Symptome der Aphasie, erläutert Ria de Bleser.

    Der wird wie ein Aphasiker, der vorher gesprochene Sprache verwendet hat, Wortfindungsstörungen haben. Das wird sich in seinen Gebärden zeigen, indem er stockende Gebärden durchführt, indem die Gebärden von den normalen Gebärden abweichen werden, durch Ersetzungen von Teilgebärden durch andere, durch semantische Fehler, die beim Gebärden gemacht werden, sehr ähnlich wie bei der normalen gesprochenen Sprache eben.

    Die Aphasiker helfen den Wissenschaftlern, die Organisation der Sprache im Gehirn zu verstehen. Umgekehrt können die Forscher aber auch den Heilungsprozess unterstützen. Etwa die Hälfte der Patienten gewinnt innerhalb eines halben Jahres die Sprache zurück, bei den anderen bleiben die Probleme bestehen. Deshalb ist es wichtig, schnell mit einem Training zu beginnen, das gezielt die Aspekte der Sprache fördert, die durch den Schlaganfall beeinträchtigt wurden.

    Die Chancen, dass etwas wiederkommt, ist sehr groß. Die Frage ist, wie viel. Für die Patienten selbst sind kleine Fortschritte enorm. Für den normalen Beobachter sind die Fortschritte klein. Den Patienten ist es jedoch wichtig einfach die Kommunikation zu verbessern.

    Wunder kann auch Ria de Bleser nicht bewirken, aber sie ist davon überzeugt, dass bei jemandem, der die Sprache verloren hat, jedes einzelne Wort zählt.