Katja Lückert: Nun setzen wir unsere Reihe über das Thema "Heimat" fort. Heute kommt die russische Schriftstellerin Julya Rabinowich hier zu Wort. Sie wurde im Jahr 1970 in Sankt Petersburg geboren und kam im Alter von sieben Jahren nach Wien, wo sie studierte und sich zur Kolumnistin, Malerin sowie zur Dolmetscherin entwickelte. Frau Rabinowich, mögen Sie uns ein wenig an Ihren Kindheitserinnerungen teilhaben lassen? Wie war das 1977? Warum haben Ihre Eltern mit Ihnen Ihre Heimat Russland verlassen?
Julya Rabinowich: Nun, wir gehörten zu diesen sogenannten Kontingent-Flüchtlingen, die entweder nach Israel, oder nach Amerika eigentlich hätten auswandern sollen. Und das Ankommen in Wien und auch diese ersten Jahre habe ich in meinem Debütroman, im "Spaltkopf" geschildert, weil das natürlich eine äußerst prägende Zeit für mich gewesen ist, weil einerseits das Verlassen einer sicher geglaubten Welt und einer erklärlich geglaubten Welt natürlich eine ziemliche Herausforderung war, nachdem man hier im Westen angekommen ist und begonnen hat, den Westen überhaupt erstmals zu erforschen. Denn meine Eltern hatten natürlich überhaupt keine Ahnung, was sie hier erwartete, und für mich als Kind war das ein weiteres Abenteuer.
Lückert: Hatten Sie denn gewusst, dass das ein Abschied für immer werden würde?
Rabinowich: Nein! - Nein, und das habe ich zum Beispiel in dem Roman auch stark thematisiert. Das war natürlich ein Geheimnis. Ich hatte keine Ahnung. Man hatte mir erklärt, dass wir auf Urlaub fahren, und am Tag unserer Ankunft in Wien hat mein Vater begonnen, mir die Kommunismus-Sozialisation auszutreiben, die natürlich schon stattgefunden hatte mit sieben durch Kindergarten und erste Klasse, und hat mir erklärt, dass Lenin ein Arschloch sei, und ich hatte einen kompletten Nervenzusammenbruch, weil ich mir das einfach überhaupt nicht vorstellen konnte.
Lückert: Wurde denn Wien schnell eine neue Heimat für Sie? Wünschten Sie sich das selbst sehr, oder gelang es von selbst durch die neue Schule, die neuen Freunde und letztlich: die Sprache?
Rabinowich: Ich würde sagen, dass die Sprache das Ausschlaggebendste daran gewesen ist. Mir war es ungeheuer wichtig, schnell Deutsch zu lernen, weil mir klar war, dass diese Sprachlosigkeit mich für immer von den anderen trennen wird. Das war das Erste, an dem ich auffiel, wenn ich den Mund aufmachte, und das war auch das Einzige, das in meiner eigenen Macht lag, verändert zu werden.
Eine tragische Rückkehr zum Alten
Lückert: Wenn Sie heute zurückblicken, Frau Rabinowich, haben Sie noch Heimatgefühle zu Russland?
Rabinowich: Nein, überhaupt nicht. Russland ist in meiner Erinnerung der Ort meiner Kindheit, ein Hort bestimmter Gerüche und Geschmäcker und Erinnerungen an Kinderspiele, eine Welt, die untergegangen ist, weil natürlich alle diese Erinnerungen sind im Kommunismus sozialisiert worden, und das was Russland für mich jetzt darstellt, ist eigentlich eine tragische Rückkehr zum Alten.
Lückert: Sie haben ja selbst eine Tochter. Sind es letztlich die Kinder, die einen erden, die Heimatgefühle verstärken, weil sie unbedarft sind, Freundschaften schließen ohne Rücksicht auf den ewigen Vergleich der Kulturen?
Rabinowich: Ach, das habe ich bis jetzt selber so gehalten, würde ich sagen. Ich habe immer versucht, Freundschaften ohne Rücksicht auf Verluste zu gründen. Ich bin auch gern bereit, dabei beschädigt zu werden. Ich möchte das beim nächsten Mal wieder machen.
Lückert: Heimat ist ja das deutsche Wort – gibt es dafür ein russisches Wort mit genau dieser Bedeutung? Oder klingt das für Sie anders?
Rabinowich: Es klingt für mich anders, aber das liegt daran, dass Russisch für mich eigentlich keine Muttersprache mehr ist, eine schwächere und eine weniger ausgeprägte Sprache ist, eine Sprache von Erinnerungen und eine Sprache, die mich in einem noch recht unbewussten Zustand angetroffen hat. Das Deutsch hingegen ist quasi meine Pygmalionsarbeit an mir gewesen.
Lückert: Gerade ist Ihr neues Buch erschienen. Es trägt den Titel: "Dazwischen: ich" – es ist Ihr ersten Jugendbuch und es handelt von einem Mädchen, das mit seiner Familie in einem Heim lebt und ja, wartet – eigentlich auf ein Heimatrecht, könnte man sagen, also das Recht zu bleiben, Asyl? oder?
Ich hatte keine Todesfälle zu beklagen
Rabinowich: Sicherlich. Ich habe in meiner Tätigkeit als Dolmetscherin in Psychiatriesitzungen und Psychotherapiesitzungen sehr viele Kinder in dieser Situation kennengelernt und diese Begegnungen haben mich jahrelang nicht losgelassen. Einerseits weil sie mir ähnlich waren natürlich auf eine Art, indem sie ihr Land verlassen haben, indem sie der Sprache nicht mächtig waren, indem sie auch so ausgespuckt in ihr Schicksal auf einmal in einer völlig anderen Struktur gelandet sind; andererseits aber, weil es mir um einiges besser gegangen ist im Vergleich. Ich kam aus keinem Kriegsgebiet, ich hatte keine Todesfälle zu beklagen, ich habe keine Gewalt erlebt und mehr oder minder 80 bis 90 Prozent aller unserer Patienten waren davon betroffen. Und das war natürlich vor allem bei den Kindern ein sehr einschneidendes Erlebnis.
Lückert: Das vorherrschende Gefühl bei diesem Mädchen Madina ist ja eigentlich Scham, Scham, immer etwas geschenkt zu bekommen, nie etwas zurückgeben zu können. Das haben Sie sehr ausgefeilt. Warum?
Rabinowich: Weil das allen Kindern mehr oder minder gemein war, die ich getroffen habe. Ich kenne es zwar von mir, aber nicht so stark ausgeprägt. Ich glaube auch, dass das mit dem kulturellen Hintergrund zu tun hat, dass man unbedingt Gegeneinladungen aussprechen sollte, Geschenke, auch Gastgeschenke mitbringt, und das ist in dieser Situation natürlich vollkommen unmöglich. Die Leute sind ihrer Höflichkeitsmöglichkeiten beraubt und das ist auch für Erwachsene sehr erniedrigend im Endeffekt.
Lückert: Diese Organisation hieß Hemayat, klingt fast wie Heimat, stammt aber aus dem Arabischen und bedeutet Schutz, was ja auch Heimat bieten sollte.
Rabinowich: Genau!
Man braucht Stabilität
Lückert: Hatten Sie immer das Gefühl, hilfreich sein zu können? Sie übersetzten, aber waren Sie auch manchmal sprachlos angesichts der Lebensgeschichten, die Sie hören mussten?
Rabinowich: Das durfte ich nicht sein. Ich hatte kein Recht, sprachlos zu werden, denn in diesem Augenblick hätte ich ja die Hilfe, die von außen herangetragen wurde, unterbrochen. Das heißt, meine Nervenzusammenbrüche nach den schlimmen Geschichten erfolgten immer erst ein paar Stunden, nachdem ich das Büro verlassen hatte. Und in der Diakonie, wo ich auch in der Psychiatrie tätig war unter anderem, war es ähnlich.
Lückert: Sie sagen "war". Sie tun es nicht mehr?
Rabinowich: Nein. Mittlerweile tue ich es nicht mehr, unter anderem, weil ich am Beginn meiner Tätigkeit noch nicht so viele Lesereisen hatte. Da hatte ich eben erst begonnen. Und eine Therapie braucht natürlich fortlaufend Stabilität mit dem immer gleichen Dolmetscher und ich war einfach nicht mehr stabil täglich zu haben. Das war das Erste.
Das Zweite war, dass ich natürlich mehr Zeit, intensiver Zeit mit meiner Literatur verbringen wollte. Und der dritte Grund war, dass es mich nervlich einfach wie der stete Tropfen sehr ausgehöhlt hat.
Lückert: Wird sich unsere Vorstellung von "Heimat" stark verändern, Ihrer Ansicht nach, wenn sie die Heimat von so vielen Zugezogenen sein wird, die mit so vielen anderen Vorstellungen von "Heimat" wiederum kommen?
Rabinowich: Ich würde sagen, jeder soll seine Heimatvorstellung für sich behalten; dann geht’s gut. Wenn man beginnt, diese Vorstellung anderen aufzudrängen, von welcher Seite auch immer, wird das natürlich für großes Konfliktpotenzial sorgen.
Heimat nicht an Ländern festmachen
Lückert: Neben der alten Heimat Russland und der neuen Österreich gibt es für Sie auch noch gewissermaßen eine geistige, eine seelische, eine Wunschheimat?
Rabinowich: Ich habe meine Heimat an sich nie an Ländern festgemacht oder zumindest versucht, es nicht zu tun, sondern an Menschen und an Sprachen. Das ist etwas, über das ich mehr Kontrolle habe im Endeffekt. Es ist etwas, das einem schneller näherkommt als ein ganzes Land, würde ich sagen. Und ein Land, in dem ich keine Freunde habe, und ein Land, in dem mir niemand nah ist, kann natürlich auch nicht meine Heimat sein.
Ich liebe Venedig und ich bin sehr gerne in London. Ich habe viele Verwandte in New York. Aber das war an sich nie dieses Gefühl, das ich in Wien hatte. In Wien bin ich mit der Zeit hineingewachsen. Es ist eine Geschichte da, die mich verbindet, eine Vergangenheit, eine gemeinsame Vergangenheit, und die ist mir natürlich sehr viel wert.
Lückert: Heimat ist, wo man die Sprache spricht und gute Freunde hat, meint die Schriftstellerin Julya Rabinowich heute in unserer Serie. Ihr Buch "Dazwischen: ich" ist im Hanser Verlag erschienen.
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