Das ist sechs Jahre her. Der Junge von Jana L. kommt bald in die Schule, aber seine Mutter liegt im Pflegeheim und spricht kein Wort. Die Augen sind stundenlang offen - wie ziellos wandern die Blicke durch den Raum. Ab und zu reagiert Jana L. auf Geräusche und Lichtreize. Ernährt wird die Patientin über eine Magensonde. Nach einem langen Gespräch mit dem Hausarzt hat sich Christoph L. entschlossen, die Sonde entfernen zu lassen. Aber die Pflegeleitung des Heims hat diesem Plan heftig widersprochen. Einige der Schwestern haben ein persönliches Verhältnis zu Jana L. aufgebaut - sie wollen sie nicht verhungern lassen. Christoph L., der auch der Betreuer seiner Frau ist, meint aber dass Jana L. ein würdiger Tod ermöglicht werden sollte.
Fälle wie dieser beschäftigen seit einigen Jahren häufiger die Öffentlichkeit, die Mediziner und die Gerichte. Doch die Rechtsprechung der zuständigen Vormundschaftsgerichte ist widersprüchlich, denn es gibt keine eindeutige gesetzliche Regelung. Und die Experten, die sich mit dem Thema beschäftigen, sind uneins. Deswegen hat der 63. Deutsche Juristentag, der kommende Woche in Leipzig beginnen wird, das Thema auf die Tagesordnung gesetzt.
Von den Veranstaltern des Deutschen Juristentages ist - wie bei den Schwerpunktthemen des Juristentages üblich - ein Gutachten in Auftrag gegeben worden. "Empfehlen sich zivilrechtliche Regelungen zur Absicherung der Patientenautonomie am Ende des Lebens?" lautet die Frage, die Jochen Taupitz beantworten sollte. Taupitz ist Professor für Zivilrecht und Geschäftsführender Direktor des Instituts für Medizinrecht, Gesundheitsrecht und Bioethik, der Universitäten Heidelberg und Mannheim
Aus juristischer Perspektive vergleichsweise einfach zu beantworten, ist dabei die Frage, was geschehen muß, wenn der schwerkranke Patient bei Bewusstsein ist und noch selbst über seine Behandlung bestimmen kann. Für den Medizinrechtler Jochen Taupitz, ist klar, dass Patienten grundsätzlich das Recht haben, sich gegen eine Behandlung zu entscheiden - auch wenn das unvernünftig erscheint.
"Hier sehe ich kein gravierendes rechtliches Problem, sondern eher ein Problem in der Praxis, dass Ärzte sich nicht an den Willen des eigenverantwortlich handelnden Patienten halten. Klare Aussage: Jeder Patient hat das Recht eine medizinische Behandlung zu verweigern und sei die Verweigerung auch noch so unvernünftig aus der Sicht anderer. Jeder hat das Recht selbst über seinen Körper zu bestimmen - das betrifft aber nur das Geschehenlassen eines natürlichen Krankheitsverlaufes."
Wie in fast allen westlichen Industrienationen so ist auch in Deutschland heftig umstritten, wie das Selbstbestimmungsrecht von Patienten zu sichern ist, die bewusstlos sind, oder die aus anderen Gründen nicht alleine entscheiden können. In Deutschland hat dieses Thema allerdings eine zusätzliche Brisanz: Richter, die verfügen, dass schwerkranke, schwerbehinderte oder bewusstlose Menschen beispielsweise durch Abbruch der Ernährung, sterben dürfen, haben in der aktuellen Auseinandersetzung Erinnerungen an die nationalsozialistische "Euthanasie-Politik" wachgerufen.
Gegen diesen Bezug hat das Oberlandesgericht Frankfurt in einem 1998 veröffentlichten Beschluss scharf Stellung bezogen. Mit dem Beschluß wurde der Abbruch der künstlichen Ernährung bei einer 85jährigen Wachkoma-Patientin erlaubt. Der Abbruch der künstlichen Ernährung wird, so die Argumentation der Richter, nicht von Staats wegen verfügt. Er werde allenfalls auf Anregung der Betreuer und nur wenn er im Sinne des Patienten selbst sei vollzogen, um den Patienten einen würdigen Tod zu ermöglichen.
Die Richter würden also nicht über Leben und Tod entscheiden, sondern nur überprüfen, ob auch wirklich nach dem Willen des Patienten gehandelt werde. Jochen Taupitz:
"Der Richter wird durch seine Entscheidung nicht etwa zum Richter über Leben und Tod, sondern der Richter hat durch seine Entscheidung zur zu befinden, ob die Entscheidung, die der Betreuer, als der gesetzliche Vertreter des Patienten, getroffen hat, ob diese Entscheidung dem recht entspricht. Es findet nur eine Kontrolle statt, keine eigene Entscheidung des Gerichts, unabhängig von der Gestalt des Betreuers. Und eine solche Kontrolle des Betreuerhandelns findet selbstverständlich im Nachhinein statt, wenn die Staatsanwaltschaft der Meinung ist, dass er sich falsch entschieden und dass er das Lebensrecht des Betreuten verletzt hat. Warum soll dann nicht eine gleichartige Entscheidung schon vor der Endgültigkeit der Maßnahme stattfinden?"
In der rechtswissenschaftlichen Debatte ist diese Position von Taupitz aber umstritten. Denn wenn das Vormundschaftsgericht verfügt, dass das Beatmungsgerät ausgestellt oder die Magensonde entfernt werden kann, weil dies im Sinne des Patienten sein soll, dann verschiebt sich die Verantwortung: Ärzte, Betreuer und Angehörige wissen mit diesem Beschluß des Gerichts, daß sie rechtens handeln. Damit ist ihnen die Last der Verantwortung zwar genommen worden. Sie wird dadurch aber den Richtern aufgebürdet. Die Richter, und damit der Staat, bekommen das letzte Wort über Leben und Tod.
Wenn dagegen ein Vormundschaftsgericht nicht befugt ist, eine Maßnahme zu beschließen, die den Tod herbeiführen soll, müssen Ärzte und Betreuer selbst entscheiden. Ihr Entschluss bleibt immer etwas Individuelles. Und sie gehen immer das Risiko ein, sich vor einem Strafgericht im nachhinein wegen eines Totschlags durch Unterlassen verantworten zu müssen. Das tatsächliche Risiko ist gering, bislang wurde kaum jemand wegen eines Behandlungsabbruchs auch nur angeklagt.
Aber die Botschaft der beiden Vorgehensweisen ist doch deutlich zu unterscheiden: Wenn das Vormundschaftsgericht vorab entscheidet, dann gibt es eine gesetzlich geregelte Routine. Bleibt so eine Vorab-Entscheidung ausgeschlossen, wissen Ärzte, Betreuer und Angehörige, dass sie sich auf einem außergewöhnlichen Terrain bewegen, auf dem nur höchstpersönliche Entscheidungen getroffen werden können, die keine staatliche Stelle jemandem abnehmen kann. Die individuelle Verantwortung wird damit noch einmal unterstrichen.
Für Jochen Taupitz ist die Entscheidung in seinem Gutachten klar: Er schlägt eine klare Regelung vor, die vor allem zum Ziel hat, die Betreuer und Angehörigen zu entlasten.
"Ich meine, dass jede lebensbeeinflussende Entscheidung einer dritten Person oder eines Betreuers von rechts wegen durch ein staatliches Gericht kontrolliert werden müsste. Es geht hier um Lebensentscheidungen im wahrsten Sinn des Wortes und hier brauchen wir Rechtssicherheit."
Dieser Vorschlag und entsprechende Diskussionen in den letzten Jahren werfen aber eine wichtige Frage auf: Gibt es überhaupt ein Gesetz in Deutschland, auf das sich Gerichte stützen können, wenn sie eine so weitreichende Entscheidung treffen wollen?
Eine ausdrückliche Regelung enthält das Betreuungsrecht zwar nicht. Jochen Taupitz und die Richter des Oberlandesgerichts Frankfurt mit ihrem Beschluß von 1998, verweisen aber auf den Paragraphen 1904 des Bürgerlichen Gesetzbuches. Darin heißt es: Die Einwilligung des Betreuers in eine Heilbehandlung oder einen ärztlichen Eingriff, bedarf der Genehmigung des Vormundschaftsgerichtes, wenn die begründete Gefahr besteht, dass der Betreute auf Grund der Maßnahme stirbt.
Das bedeutet, wenn beispielsweise bei einem geistigbehinderten Menschen ein Eingriff an der Bauchschlagader erforderlich ist, muss der Betreuer zum Vormundschaftsgericht gehen und sich eine Genehmigung für diesen Eingriff holen, weil die Gefahr groß ist, dass der Patient diesen Eingriff nicht überlebt.
Da ein Patient den Abbruch der künstlichen Ernährung auf keinen Fall überleben wird, so die Argumentation von Jochen Taupitz, muss der Betreuer also auch in diesem Fall zum Vormundschaftsgericht gehen. Und so wie das Gericht die lebensgefährliche Operation, gestützt auf § 1904 des Bürgerlichen Gesetzbuches erlauben kann, darf es, Taupitz zufolge, unter Verweis auf diese Vorschrift auch den Abbruch der künstlichen Ernährung genehmigen.
Das sieht Andreas Jürgens, er ist Amtsrichter in Kassel und Autor eines wichtigen Kommentars für das Betreuungsrecht, ganz anders. Für ihn ist die Genehmigung einer Operation, die das Leben retten soll nicht mit der Genehmigung eines Behandlungsabbruchs, der das Leben beenden soll, vergleichbar.
"Es geht hier um Maßnahmen, die die Gesundheit des Betreuten zum Ziel haben, die aber mit Gefahren für ihn verbunden sind und das Gericht muss prüfen, ob die Gefahren mit dem Nutzen in einem vernünftigen Verhältnis stehen. Wenn aber der Tod, also die Gefahr gerade beabsichtigt wird, ist das mit § 1904 nicht in Einklang zu bringen, weder vom Wortlaut her, noch vom Regelungszweck, denn der Gesetzgeber hat sich damals die Frage gestellt, ob eine Vorschrift den Behandlungsabbruch Regel soll und er hat es ausdrücklich verneint."
Die Frage bleibt allerdings, welche Möglichkeiten es gibt, die eigenen Vorstellungen durchzusetzen, wie man Sterben möchte und wie eine Behandlung am Lebensende aussehen könnte. Denn dass der Wille des Patienten eine wesentliche Rolle spielt, darin sind sich die Juristen einig.
Eine wichtige Hilfe in diesen Fällen sind die sogenannten Patientenverfügungen. Das sind meist schriftliche abgefasste Texte, in denen Menschen vorab festlegen, wie sie behandelt werden wollen, falls sie sich selbst nicht mehr dazu äußern können. Eine dieser Patientenverfügungen ist von der Evangelischen Kirche Deutschlands herausgegeben worden. Darin heißt es: An mir sollen keine lebensverlängernden Maßnahmen vorgenommen werden, wenn medizinisch festgestellt ist, dass ich mich im unmittelbaren Sterbeprozess befinde, bei dem jede lebenserhaltende Maßnahme das Sterben oder Leiden ohne Aussicht auf erfolgreiche Behandlung verlängern würde. Ärztliche Begleitung und Behandlung sowie sorgsame Pflege sollen in diesen Fällen auf die Linderung von Schmerzen, Unruhe und Angst gerichtet sein, selbst wenn durch die notwendige Schmerzbehandlung eine Lebensverkürzung nicht auszuschließen ist. Ich möchte in Würde und Frieden sterben können, nach Möglichkeit in Nähe und Kontakt mit meinen Angehörigen und nahestehenden Personen und in meiner vertrauten Umgebung.
Die hier auszugsweise zitierte Verfügung, die die Evangelische Kirche Deutschlands erarbeitet hat und die sie im Internet zum Abruf bereit hält, ist gerade mal eine Seite lang. Auch andere Texte, die von sozialen Organisationen entwickelt wurden, sind nicht ausführlicher. Für Achim Weber, den Pflegereferenten der Deutschen Aids-Hilfe, haben diese knappen Willensbekundungen nur begrenzten Wert.
"Das Problem an diesen Bögen ist, dass sie viel zu unspezifisch sind und ein Problem ist, dass viele Personen in medizinischen berufen, unsicher sind wie sie mit einer solchen Patienten-Verfügung umgehen sollen, sie sind unsicher, hat das wirklich die Person geschrieben, sind das wirklich ihre letzten wünsche? Deswegen denke ich, es ist gut, dass auf dem rechtlichen Wege zu klären."
Der Zuspruch, auf den Patientenverfügungen der verschiedenen Organisationen und Gruppen stoßen, ist trotz dieser Einschränkungen beachtlich und er nimmt noch zu. Allerdings zeigt sich auch in Ländern, in denen eine entsprechende Diskussion schon weitaus länger andauert, daß es auf lange Sicht nur eine Minderheit der Bürgerinnen und Bürger bleibt, die eine solche Vollmacht frühzeitig entwerfen.
Die Angst sich mit dem eigenen Sterben auseinanderzusetzen ist groß. Vielleicht erscheint es manchen Menschen aber auch schwierig, so wesentliche und bedeutsame Entscheidungen vorab zu treffen, zu einem Zeitpunkt, an dem man über die Details einer Krankheit, die zum Tode führen könnte noch gar nichts weiß.
Das sind Bedenken, die auch der Richter Andreas Jürgens teilen kann. Jürgens warnt auch davor, in Zukunft Patientenverfügungen als einzige und absolut verbindliche Grundlage für solche Entscheidungen anzuerkennen. Für ihn können sie im Ernstfall ein wichtiges Indiz für den Willen eines Patienten und einer Patientin sein - mehr aber auch nicht.
"Man kann sich vorstellen, dass eine zehn Jahre zurückliegende Entscheidung, die im Zustand der Gesundheit getroffen wurde und die sagt, wenn ich im Koma liege will ich nicht weiterbehandelt werden, für die aktuelle Entscheidung weniger bedeutsam, als eine Entscheidung eines Patienten, der in seiner Situation bereits absehen kann, dass ihn möglicherweise eine fortschreitende Krankheit in eine Situation bringt, für die er eine Weiterbehandlung nicht mehr wünscht. Es kommt immer auf die genauen Umstände der Patientenverfügung an und je zeitnäher, je überlegter und nach je mehr Aufklärung sie getroffen worden, desto mehr Bindungskraft für den Betreuer wird sie entfalten. Aber eine Kampagne, die nur sagt, alle müssen eine Betreuungsverfügung verfassen, ist für die Probleme keine ausreichende Lösung."
Eine entsprechende Verfügung über die Behandlung am Lebensende müsste also frühzeitig formuliert werden. Um auch später wirksam zu sein, müsste sie dann noch regelmäßig erneuert und modifiziert werden - eine Mühe und ein Aufwand, den viele Menschen scheuen. Für Achim Weber von der Deutschen Aids-Hilfe ist aber genau diese intensive Auseinandersetzung mit dem Thema "Sterben" das Wesentliche. Diese Anforderung erfüllt allerdings heute kaum eines der Formulare für das Patiententestament.
"Die meisten Exemplare sind wie ein Tippschein. Ich kann ankreuzen und die bögen in zehn Minuten ausfüllen und das ist etwas wenig, vor allem, wenn ich bedenke, wie tief ich damit in mein Leben eingreife. Ich denke es muss ne Mischung sein aus Leitfragebogen, wo alle Fragen die sich stellen, wer ans Krankenbett kommen soll, ob man Infusionen bekommen will etc. Und dann braucht man jemanden, der einen dabei berät: der Hausarzt oder Gruppen der Aidshilfe. Ich denke es ist ganz wichtig und das beklagen viele Ärzte ja auch, dass viele dieser Geschichten nicht individuell sind, es geht aber doch um mein eigenes leben und das ist was besonderes, das ist etwas, das ich dem medizinischen System auch durch die Art der Patientenverfügung klar machen muss oder will."
Aber selbst eine sorgfältig durchdachte und nach eingehender Beratung durch den Arzt verfasste Patientenverfügung wirft Probleme auf. Denn Informationen durch den Arzt allein und eine Beratung über mögliche Probleme bei der Behandlung am Lebensende reichen nicht aus. Schließlich ist es kaum möglich im voraus zu wissen, wie man sich im Wachkoma fühlt, welche Auswirkungen ein schwerer Schlaganfall oder eine fortgeschrittene Alzheimersche Krankheit hat und ob man unter diesen Umständen noch weiterleben möchte.
Gerade bei den chronischen schweren Krankheiten, die meist erst im Verlauf von Jahren zum Tode führen, und bei schweren Behinderungen, hängt der Lebenswille oft auch von nicht-medizinischen Faktoren ab. Eine gute Pflege, ein intaktes soziales Umfeld, eine zufriedenstellende Wohnsituation spielen eine wichtige Rolle.
Aber gerade was die sozialen Bedürfnisse angeht, haben die Patienten wenige Möglichkeiten ihre Lage selbstbestimmt zu gestalten. Die finanziellen Grenzen sind eng gezogen und sie bleiben es auch. So kann der Patient zwar bestimmen, wann er nicht mehr leben möchte. Aber in welchem Heim oder Hospiz er gepflegt werden möchte und vor allen Dingen wie er gepflegt wird, darauf hat er so gut wie keinen Einfluß. Hier sind es in der Regel seine finanziellen Möglichkeiten, die ausschlaggebend für die Art der Pflege sind.
Andreas Jürgens findet es deswegen falsch, die Debatte über Selbstbestimmung und Patientenautonomie am Ende des Lebens zu führen, ohne sich über Selbstbestimmung und Autonomie von Schwerkranken und Behinderten im Leben Gedanken zu machen.
"Insgesamt habe ich den Eindruck, dass die individuellen Rechte von alten, kranken behinderten Menschen dann gering geachtet werden, wenn Rechte der Allgemeinheit vorgehen sollen. Das ist das besonders verwerfliche daran, dass unter dem Deckmantel der Selbstbestimmung nichts anderes getan wird als Fremdbestimmung zu propagieren. Ich habe auch mal gesagt ich wäre froh, wenn so oft Selbstbestimmung im Leben von behinderten Menschen propagiert und unterstützt würde, wie sie beim angeblichen Sterben-Wollen, vorkommt. Ich finde es geradezu grotesk, dass uns ein Selbstbestimmungsrecht im Leben nahezu vorenthalten wird, dann im Sterben aber zugesprochen werden soll."
Andreas Jürgens ist aufgrund eigener Erfahrungen insgesamt skeptisch: Er sieht die Gefahr, dass Menschen sich in Patientenverfügungen zu schnell für einen Behandlungsabbruch entscheiden, weil sie sich das Leben mit einer schweren Beeinträchtigung nicht vorstellen können.
"Ich bin ja selbst Rollstuhlfahrer und habe mal gesagt: Viele Menschen wenn sie mich sehen denken, wenn ich in der Situation wäre, würde ich nicht weiterleben wollen. Und ich weiß: Sie haben Unrecht. Ich weiß von vielen Blinden, die zu hören bekommen: Ach wenn ich blind wäre, dann würde ich aus dem Leben scheiden....ich weiß, dass ich selbst mir auch schon Gedanken gemacht habe, dass es möglicherweise Situationen gibt in denen ich nicht weiterleben möchte. Das Problem ist immer, dass jemand in einer anderen Lebenssituation sich Gedanken darüber macht, wie es wäre in einer schwergeschädigten, schwerverletzten Situation. Und wenn diese Überlegungen, die man in ganz anderen Situation gemacht hat, alleinentscheidend sind dann bedeutet, das, dass selbstbestimmungsfeindliche Erwägungen mit einfließen."
Jochen Taupitz setzt in seinem Gutachten die Akzente anders. Für ihn ist Selbstbestimmung das höchste Gut. Die Gefahr einer voreiligen, falschen Entscheidung soll dafür in Kauf genommen werden.
"Aus meiner Position kommt man aus diesem Spagat einerseits Schutz der Person vor sich selbst und andererseits Achtung des Selbstbestimmungsrechts, kommt man aus diesem Spagat nicht heraus, man muss hier eine Güterabwägung treffen und ich meine, dass grundsätzlich hier die Selbstbestimmung den Vorrang haben muss, Selbstbestimmung muss auch eine Selbstverantwortung beinhalten, so dass jemand an seinem schriftlich niedergelegten Willen auch festgehalten werden muss."
Die Debatte auf dem Deutschen Juristentag über Patientenautonomie am Lebensende wird äußert kontrovers verlaufen. So wie auch die bisher geführten Diskussionen zum Thema in der Bundesärztekammer. Was die großen berufständischen Organisationen denken ist damit bekannt. Für die Zukunft wird es vor allem wichtig sein, dass auch die anderen das Wort ergreifen: Die Patienteninitiativen und Selbsthilfegruppen, die solch eine Patientenverfügung für sich selbst einmal nutzen möchten und die, die ihr kritisch gegenüberstehen. Schließlich ist die Frage, wie wir leben und sterben wollen, nicht in erster Linie ein Thema für Expertinnen und Experten.
Fälle wie dieser beschäftigen seit einigen Jahren häufiger die Öffentlichkeit, die Mediziner und die Gerichte. Doch die Rechtsprechung der zuständigen Vormundschaftsgerichte ist widersprüchlich, denn es gibt keine eindeutige gesetzliche Regelung. Und die Experten, die sich mit dem Thema beschäftigen, sind uneins. Deswegen hat der 63. Deutsche Juristentag, der kommende Woche in Leipzig beginnen wird, das Thema auf die Tagesordnung gesetzt.
Von den Veranstaltern des Deutschen Juristentages ist - wie bei den Schwerpunktthemen des Juristentages üblich - ein Gutachten in Auftrag gegeben worden. "Empfehlen sich zivilrechtliche Regelungen zur Absicherung der Patientenautonomie am Ende des Lebens?" lautet die Frage, die Jochen Taupitz beantworten sollte. Taupitz ist Professor für Zivilrecht und Geschäftsführender Direktor des Instituts für Medizinrecht, Gesundheitsrecht und Bioethik, der Universitäten Heidelberg und Mannheim
Aus juristischer Perspektive vergleichsweise einfach zu beantworten, ist dabei die Frage, was geschehen muß, wenn der schwerkranke Patient bei Bewusstsein ist und noch selbst über seine Behandlung bestimmen kann. Für den Medizinrechtler Jochen Taupitz, ist klar, dass Patienten grundsätzlich das Recht haben, sich gegen eine Behandlung zu entscheiden - auch wenn das unvernünftig erscheint.
"Hier sehe ich kein gravierendes rechtliches Problem, sondern eher ein Problem in der Praxis, dass Ärzte sich nicht an den Willen des eigenverantwortlich handelnden Patienten halten. Klare Aussage: Jeder Patient hat das Recht eine medizinische Behandlung zu verweigern und sei die Verweigerung auch noch so unvernünftig aus der Sicht anderer. Jeder hat das Recht selbst über seinen Körper zu bestimmen - das betrifft aber nur das Geschehenlassen eines natürlichen Krankheitsverlaufes."
Wie in fast allen westlichen Industrienationen so ist auch in Deutschland heftig umstritten, wie das Selbstbestimmungsrecht von Patienten zu sichern ist, die bewusstlos sind, oder die aus anderen Gründen nicht alleine entscheiden können. In Deutschland hat dieses Thema allerdings eine zusätzliche Brisanz: Richter, die verfügen, dass schwerkranke, schwerbehinderte oder bewusstlose Menschen beispielsweise durch Abbruch der Ernährung, sterben dürfen, haben in der aktuellen Auseinandersetzung Erinnerungen an die nationalsozialistische "Euthanasie-Politik" wachgerufen.
Gegen diesen Bezug hat das Oberlandesgericht Frankfurt in einem 1998 veröffentlichten Beschluss scharf Stellung bezogen. Mit dem Beschluß wurde der Abbruch der künstlichen Ernährung bei einer 85jährigen Wachkoma-Patientin erlaubt. Der Abbruch der künstlichen Ernährung wird, so die Argumentation der Richter, nicht von Staats wegen verfügt. Er werde allenfalls auf Anregung der Betreuer und nur wenn er im Sinne des Patienten selbst sei vollzogen, um den Patienten einen würdigen Tod zu ermöglichen.
Die Richter würden also nicht über Leben und Tod entscheiden, sondern nur überprüfen, ob auch wirklich nach dem Willen des Patienten gehandelt werde. Jochen Taupitz:
"Der Richter wird durch seine Entscheidung nicht etwa zum Richter über Leben und Tod, sondern der Richter hat durch seine Entscheidung zur zu befinden, ob die Entscheidung, die der Betreuer, als der gesetzliche Vertreter des Patienten, getroffen hat, ob diese Entscheidung dem recht entspricht. Es findet nur eine Kontrolle statt, keine eigene Entscheidung des Gerichts, unabhängig von der Gestalt des Betreuers. Und eine solche Kontrolle des Betreuerhandelns findet selbstverständlich im Nachhinein statt, wenn die Staatsanwaltschaft der Meinung ist, dass er sich falsch entschieden und dass er das Lebensrecht des Betreuten verletzt hat. Warum soll dann nicht eine gleichartige Entscheidung schon vor der Endgültigkeit der Maßnahme stattfinden?"
In der rechtswissenschaftlichen Debatte ist diese Position von Taupitz aber umstritten. Denn wenn das Vormundschaftsgericht verfügt, dass das Beatmungsgerät ausgestellt oder die Magensonde entfernt werden kann, weil dies im Sinne des Patienten sein soll, dann verschiebt sich die Verantwortung: Ärzte, Betreuer und Angehörige wissen mit diesem Beschluß des Gerichts, daß sie rechtens handeln. Damit ist ihnen die Last der Verantwortung zwar genommen worden. Sie wird dadurch aber den Richtern aufgebürdet. Die Richter, und damit der Staat, bekommen das letzte Wort über Leben und Tod.
Wenn dagegen ein Vormundschaftsgericht nicht befugt ist, eine Maßnahme zu beschließen, die den Tod herbeiführen soll, müssen Ärzte und Betreuer selbst entscheiden. Ihr Entschluss bleibt immer etwas Individuelles. Und sie gehen immer das Risiko ein, sich vor einem Strafgericht im nachhinein wegen eines Totschlags durch Unterlassen verantworten zu müssen. Das tatsächliche Risiko ist gering, bislang wurde kaum jemand wegen eines Behandlungsabbruchs auch nur angeklagt.
Aber die Botschaft der beiden Vorgehensweisen ist doch deutlich zu unterscheiden: Wenn das Vormundschaftsgericht vorab entscheidet, dann gibt es eine gesetzlich geregelte Routine. Bleibt so eine Vorab-Entscheidung ausgeschlossen, wissen Ärzte, Betreuer und Angehörige, dass sie sich auf einem außergewöhnlichen Terrain bewegen, auf dem nur höchstpersönliche Entscheidungen getroffen werden können, die keine staatliche Stelle jemandem abnehmen kann. Die individuelle Verantwortung wird damit noch einmal unterstrichen.
Für Jochen Taupitz ist die Entscheidung in seinem Gutachten klar: Er schlägt eine klare Regelung vor, die vor allem zum Ziel hat, die Betreuer und Angehörigen zu entlasten.
"Ich meine, dass jede lebensbeeinflussende Entscheidung einer dritten Person oder eines Betreuers von rechts wegen durch ein staatliches Gericht kontrolliert werden müsste. Es geht hier um Lebensentscheidungen im wahrsten Sinn des Wortes und hier brauchen wir Rechtssicherheit."
Dieser Vorschlag und entsprechende Diskussionen in den letzten Jahren werfen aber eine wichtige Frage auf: Gibt es überhaupt ein Gesetz in Deutschland, auf das sich Gerichte stützen können, wenn sie eine so weitreichende Entscheidung treffen wollen?
Eine ausdrückliche Regelung enthält das Betreuungsrecht zwar nicht. Jochen Taupitz und die Richter des Oberlandesgerichts Frankfurt mit ihrem Beschluß von 1998, verweisen aber auf den Paragraphen 1904 des Bürgerlichen Gesetzbuches. Darin heißt es: Die Einwilligung des Betreuers in eine Heilbehandlung oder einen ärztlichen Eingriff, bedarf der Genehmigung des Vormundschaftsgerichtes, wenn die begründete Gefahr besteht, dass der Betreute auf Grund der Maßnahme stirbt.
Das bedeutet, wenn beispielsweise bei einem geistigbehinderten Menschen ein Eingriff an der Bauchschlagader erforderlich ist, muss der Betreuer zum Vormundschaftsgericht gehen und sich eine Genehmigung für diesen Eingriff holen, weil die Gefahr groß ist, dass der Patient diesen Eingriff nicht überlebt.
Da ein Patient den Abbruch der künstlichen Ernährung auf keinen Fall überleben wird, so die Argumentation von Jochen Taupitz, muss der Betreuer also auch in diesem Fall zum Vormundschaftsgericht gehen. Und so wie das Gericht die lebensgefährliche Operation, gestützt auf § 1904 des Bürgerlichen Gesetzbuches erlauben kann, darf es, Taupitz zufolge, unter Verweis auf diese Vorschrift auch den Abbruch der künstlichen Ernährung genehmigen.
Das sieht Andreas Jürgens, er ist Amtsrichter in Kassel und Autor eines wichtigen Kommentars für das Betreuungsrecht, ganz anders. Für ihn ist die Genehmigung einer Operation, die das Leben retten soll nicht mit der Genehmigung eines Behandlungsabbruchs, der das Leben beenden soll, vergleichbar.
"Es geht hier um Maßnahmen, die die Gesundheit des Betreuten zum Ziel haben, die aber mit Gefahren für ihn verbunden sind und das Gericht muss prüfen, ob die Gefahren mit dem Nutzen in einem vernünftigen Verhältnis stehen. Wenn aber der Tod, also die Gefahr gerade beabsichtigt wird, ist das mit § 1904 nicht in Einklang zu bringen, weder vom Wortlaut her, noch vom Regelungszweck, denn der Gesetzgeber hat sich damals die Frage gestellt, ob eine Vorschrift den Behandlungsabbruch Regel soll und er hat es ausdrücklich verneint."
Die Frage bleibt allerdings, welche Möglichkeiten es gibt, die eigenen Vorstellungen durchzusetzen, wie man Sterben möchte und wie eine Behandlung am Lebensende aussehen könnte. Denn dass der Wille des Patienten eine wesentliche Rolle spielt, darin sind sich die Juristen einig.
Eine wichtige Hilfe in diesen Fällen sind die sogenannten Patientenverfügungen. Das sind meist schriftliche abgefasste Texte, in denen Menschen vorab festlegen, wie sie behandelt werden wollen, falls sie sich selbst nicht mehr dazu äußern können. Eine dieser Patientenverfügungen ist von der Evangelischen Kirche Deutschlands herausgegeben worden. Darin heißt es: An mir sollen keine lebensverlängernden Maßnahmen vorgenommen werden, wenn medizinisch festgestellt ist, dass ich mich im unmittelbaren Sterbeprozess befinde, bei dem jede lebenserhaltende Maßnahme das Sterben oder Leiden ohne Aussicht auf erfolgreiche Behandlung verlängern würde. Ärztliche Begleitung und Behandlung sowie sorgsame Pflege sollen in diesen Fällen auf die Linderung von Schmerzen, Unruhe und Angst gerichtet sein, selbst wenn durch die notwendige Schmerzbehandlung eine Lebensverkürzung nicht auszuschließen ist. Ich möchte in Würde und Frieden sterben können, nach Möglichkeit in Nähe und Kontakt mit meinen Angehörigen und nahestehenden Personen und in meiner vertrauten Umgebung.
Die hier auszugsweise zitierte Verfügung, die die Evangelische Kirche Deutschlands erarbeitet hat und die sie im Internet zum Abruf bereit hält, ist gerade mal eine Seite lang. Auch andere Texte, die von sozialen Organisationen entwickelt wurden, sind nicht ausführlicher. Für Achim Weber, den Pflegereferenten der Deutschen Aids-Hilfe, haben diese knappen Willensbekundungen nur begrenzten Wert.
"Das Problem an diesen Bögen ist, dass sie viel zu unspezifisch sind und ein Problem ist, dass viele Personen in medizinischen berufen, unsicher sind wie sie mit einer solchen Patienten-Verfügung umgehen sollen, sie sind unsicher, hat das wirklich die Person geschrieben, sind das wirklich ihre letzten wünsche? Deswegen denke ich, es ist gut, dass auf dem rechtlichen Wege zu klären."
Der Zuspruch, auf den Patientenverfügungen der verschiedenen Organisationen und Gruppen stoßen, ist trotz dieser Einschränkungen beachtlich und er nimmt noch zu. Allerdings zeigt sich auch in Ländern, in denen eine entsprechende Diskussion schon weitaus länger andauert, daß es auf lange Sicht nur eine Minderheit der Bürgerinnen und Bürger bleibt, die eine solche Vollmacht frühzeitig entwerfen.
Die Angst sich mit dem eigenen Sterben auseinanderzusetzen ist groß. Vielleicht erscheint es manchen Menschen aber auch schwierig, so wesentliche und bedeutsame Entscheidungen vorab zu treffen, zu einem Zeitpunkt, an dem man über die Details einer Krankheit, die zum Tode führen könnte noch gar nichts weiß.
Das sind Bedenken, die auch der Richter Andreas Jürgens teilen kann. Jürgens warnt auch davor, in Zukunft Patientenverfügungen als einzige und absolut verbindliche Grundlage für solche Entscheidungen anzuerkennen. Für ihn können sie im Ernstfall ein wichtiges Indiz für den Willen eines Patienten und einer Patientin sein - mehr aber auch nicht.
"Man kann sich vorstellen, dass eine zehn Jahre zurückliegende Entscheidung, die im Zustand der Gesundheit getroffen wurde und die sagt, wenn ich im Koma liege will ich nicht weiterbehandelt werden, für die aktuelle Entscheidung weniger bedeutsam, als eine Entscheidung eines Patienten, der in seiner Situation bereits absehen kann, dass ihn möglicherweise eine fortschreitende Krankheit in eine Situation bringt, für die er eine Weiterbehandlung nicht mehr wünscht. Es kommt immer auf die genauen Umstände der Patientenverfügung an und je zeitnäher, je überlegter und nach je mehr Aufklärung sie getroffen worden, desto mehr Bindungskraft für den Betreuer wird sie entfalten. Aber eine Kampagne, die nur sagt, alle müssen eine Betreuungsverfügung verfassen, ist für die Probleme keine ausreichende Lösung."
Eine entsprechende Verfügung über die Behandlung am Lebensende müsste also frühzeitig formuliert werden. Um auch später wirksam zu sein, müsste sie dann noch regelmäßig erneuert und modifiziert werden - eine Mühe und ein Aufwand, den viele Menschen scheuen. Für Achim Weber von der Deutschen Aids-Hilfe ist aber genau diese intensive Auseinandersetzung mit dem Thema "Sterben" das Wesentliche. Diese Anforderung erfüllt allerdings heute kaum eines der Formulare für das Patiententestament.
"Die meisten Exemplare sind wie ein Tippschein. Ich kann ankreuzen und die bögen in zehn Minuten ausfüllen und das ist etwas wenig, vor allem, wenn ich bedenke, wie tief ich damit in mein Leben eingreife. Ich denke es muss ne Mischung sein aus Leitfragebogen, wo alle Fragen die sich stellen, wer ans Krankenbett kommen soll, ob man Infusionen bekommen will etc. Und dann braucht man jemanden, der einen dabei berät: der Hausarzt oder Gruppen der Aidshilfe. Ich denke es ist ganz wichtig und das beklagen viele Ärzte ja auch, dass viele dieser Geschichten nicht individuell sind, es geht aber doch um mein eigenes leben und das ist was besonderes, das ist etwas, das ich dem medizinischen System auch durch die Art der Patientenverfügung klar machen muss oder will."
Aber selbst eine sorgfältig durchdachte und nach eingehender Beratung durch den Arzt verfasste Patientenverfügung wirft Probleme auf. Denn Informationen durch den Arzt allein und eine Beratung über mögliche Probleme bei der Behandlung am Lebensende reichen nicht aus. Schließlich ist es kaum möglich im voraus zu wissen, wie man sich im Wachkoma fühlt, welche Auswirkungen ein schwerer Schlaganfall oder eine fortgeschrittene Alzheimersche Krankheit hat und ob man unter diesen Umständen noch weiterleben möchte.
Gerade bei den chronischen schweren Krankheiten, die meist erst im Verlauf von Jahren zum Tode führen, und bei schweren Behinderungen, hängt der Lebenswille oft auch von nicht-medizinischen Faktoren ab. Eine gute Pflege, ein intaktes soziales Umfeld, eine zufriedenstellende Wohnsituation spielen eine wichtige Rolle.
Aber gerade was die sozialen Bedürfnisse angeht, haben die Patienten wenige Möglichkeiten ihre Lage selbstbestimmt zu gestalten. Die finanziellen Grenzen sind eng gezogen und sie bleiben es auch. So kann der Patient zwar bestimmen, wann er nicht mehr leben möchte. Aber in welchem Heim oder Hospiz er gepflegt werden möchte und vor allen Dingen wie er gepflegt wird, darauf hat er so gut wie keinen Einfluß. Hier sind es in der Regel seine finanziellen Möglichkeiten, die ausschlaggebend für die Art der Pflege sind.
Andreas Jürgens findet es deswegen falsch, die Debatte über Selbstbestimmung und Patientenautonomie am Ende des Lebens zu führen, ohne sich über Selbstbestimmung und Autonomie von Schwerkranken und Behinderten im Leben Gedanken zu machen.
"Insgesamt habe ich den Eindruck, dass die individuellen Rechte von alten, kranken behinderten Menschen dann gering geachtet werden, wenn Rechte der Allgemeinheit vorgehen sollen. Das ist das besonders verwerfliche daran, dass unter dem Deckmantel der Selbstbestimmung nichts anderes getan wird als Fremdbestimmung zu propagieren. Ich habe auch mal gesagt ich wäre froh, wenn so oft Selbstbestimmung im Leben von behinderten Menschen propagiert und unterstützt würde, wie sie beim angeblichen Sterben-Wollen, vorkommt. Ich finde es geradezu grotesk, dass uns ein Selbstbestimmungsrecht im Leben nahezu vorenthalten wird, dann im Sterben aber zugesprochen werden soll."
Andreas Jürgens ist aufgrund eigener Erfahrungen insgesamt skeptisch: Er sieht die Gefahr, dass Menschen sich in Patientenverfügungen zu schnell für einen Behandlungsabbruch entscheiden, weil sie sich das Leben mit einer schweren Beeinträchtigung nicht vorstellen können.
"Ich bin ja selbst Rollstuhlfahrer und habe mal gesagt: Viele Menschen wenn sie mich sehen denken, wenn ich in der Situation wäre, würde ich nicht weiterleben wollen. Und ich weiß: Sie haben Unrecht. Ich weiß von vielen Blinden, die zu hören bekommen: Ach wenn ich blind wäre, dann würde ich aus dem Leben scheiden....ich weiß, dass ich selbst mir auch schon Gedanken gemacht habe, dass es möglicherweise Situationen gibt in denen ich nicht weiterleben möchte. Das Problem ist immer, dass jemand in einer anderen Lebenssituation sich Gedanken darüber macht, wie es wäre in einer schwergeschädigten, schwerverletzten Situation. Und wenn diese Überlegungen, die man in ganz anderen Situation gemacht hat, alleinentscheidend sind dann bedeutet, das, dass selbstbestimmungsfeindliche Erwägungen mit einfließen."
Jochen Taupitz setzt in seinem Gutachten die Akzente anders. Für ihn ist Selbstbestimmung das höchste Gut. Die Gefahr einer voreiligen, falschen Entscheidung soll dafür in Kauf genommen werden.
"Aus meiner Position kommt man aus diesem Spagat einerseits Schutz der Person vor sich selbst und andererseits Achtung des Selbstbestimmungsrechts, kommt man aus diesem Spagat nicht heraus, man muss hier eine Güterabwägung treffen und ich meine, dass grundsätzlich hier die Selbstbestimmung den Vorrang haben muss, Selbstbestimmung muss auch eine Selbstverantwortung beinhalten, so dass jemand an seinem schriftlich niedergelegten Willen auch festgehalten werden muss."
Die Debatte auf dem Deutschen Juristentag über Patientenautonomie am Lebensende wird äußert kontrovers verlaufen. So wie auch die bisher geführten Diskussionen zum Thema in der Bundesärztekammer. Was die großen berufständischen Organisationen denken ist damit bekannt. Für die Zukunft wird es vor allem wichtig sein, dass auch die anderen das Wort ergreifen: Die Patienteninitiativen und Selbsthilfegruppen, die solch eine Patientenverfügung für sich selbst einmal nutzen möchten und die, die ihr kritisch gegenüberstehen. Schließlich ist die Frage, wie wir leben und sterben wollen, nicht in erster Linie ein Thema für Expertinnen und Experten.