Archiv


Käsiger Abgang im Schärengarten

Die Aland-Inseln sind ein Schärengarten zwischen Finnland und Schweden. 2010 wurde dort in der Ostsee 180 Jahre alter Champagner der Welt in einem gesunkenen Frachtschiff. Diesen Schaumwein nutzen die Skandinavier nun als Marketinginstrument.

Von Michael Marek und Sven Weniger |
    Christian Ekström ist professioneller Taucher und Brauereibesitzer auf Åland, einem Insel-Archipel zwischen Finnland und Schweden:

    "Wir sind hier mitten im Nirgendwo. Die nächste Insel liegt etwa elf Seemeilen entfernt. Unter uns befindet sich die Stelle, an der wir das Wrack entdeckt haben. In 45 Metern Tiefe ist es ziemlich dunkel. Dort lagen diese ziemlich alten Champagnerflaschen. Das war absolut faszinierend!"

    Die Bosse des feinen französischen Schaumwein des Hauses Veuve Clicquot hielten ihn zuerst für einen Spinner, als Ekström 2010 bei ihnen anrief. Er habe Dutzende Flaschen ihres Edelchampagners auf dem Grund der Ostsee gefunden - in einem Schoner, der um 1830 gesunken war. Ekström:

    "Dann wurde ich mit dem Boss der Firma verbunden, und ich erklärte ihm die ganze Geschichte. Schließlich sagte er: Herr Ekström, wo zum Teufel liegt ihr Archipel mit dem komischen Namen? Da gibt es ja nur Wasser! Der Kerl konnte Åland auf seiner Landkarte nicht finden. Darauf ich: Schauen Sie doch mal bei Google-Map nach! Stille am anderen Ende der Leitung. Und nach einer Weile: Oh, bei Ihnen gibt es so viele Inseln. Kein Wunder, dass dort Schiffe gesunken sind!"

    Es ist ein herrlicher Sommertag hier draußen: Die Ostsee ist spiegelglatt. Am Horizont sehen wir die Insel Föglö, von dort sind wir losgefahren. Man käme nicht auf die Idee, dass auf dem Meeresgrund unter uns ungezählte Schiffe liegen, die im Laufe der Jahrhunderte nicht nur wegen der stürmischen See untergingen. Ålands 6700 Inseln liegen am Ausgang des Bottnischen Meerbusens, ein Flaschenhals voller Strömungen und Untiefen, denen viele Handelsschiffe zum Opfer fielen. Sie belieferten einst das wohlhabende russische Kaiserreich - und das mit Alltagsfracht ebenso wie mit Luxusgütern. Damals, um 1830, gehörte Åland noch dem Zaren. Fabienne Moreau ist die Haushistorikerin von Veuve Clicquot.:

    "Madame Clicquot hat im 19. Jahrhundert jährlich etwa 200.000 Champagnerflaschen in den Ostseeraum verschiffen lassen. Es gab bereits damals eine große Nachfrage für Champagner. Die erste Ladung wurde 1781 nach St. Petersburg und Moskau gebracht. Die Russen liebten Champagner, aber sein Geschmack war ausgesprochen süß. Wir haben das analysiert: Damals kamen 144 Gramm Zucker auf einen Liter Champagner, heute sind es gerade einmal zehn Gramm."

    Der Perlweinhandel war so erfolgreich, dass Madame Clicquot, die Witwe - französisch veuve - des Weinhändlers Francois Clicquot, eigene, besonders süße Geschmacksnoten für die gut betuchte Ostsee-Kundschaft kreierte. Richard Juhlin, weltweit die Nummer eins unter den Champagner-Experten, hat alle gefundenen 164 Champagnerflaschen beim Umkorken probiert. Richard Juhlin:

    "Die Intensität des Champagners war außergewöhnlich stark, sowohl für den Geschmack als auch für die Nase. Ein köstlicher Wein! Einige Flaschen hatten ein starkes käsiges Aroma, ein bisschen wie Brie, aber sehr frisch und sehr süß! Der Abgang des Champagners war ganz sicher einer der längsten, der mir bislang begegnet ist."

    Jetzt wurden acht Flaschen der antiken Fracht versteigert - in Mariehamn, der Hauptstadt der autonomen Åland-Inseln, die zu Finnland gehören. Laurie Matheson vom französischen Auktionshaus Artcurial:

    "Auf unseren Versteigerungen bringen wir Menschen zum Träumen. Mit dem Champagner holen wie eine vergangene Ära zurück. Manche der Käufer trinken den Schaumwein alleine, einige verkaufen ihn wieder oder trinken ihn bei einem Abendessen mit Freunden und Bekannten. Andere sind Champagnersammler. Die Käufer sind sehr unterschiedlich, aber - wenn Sie so wollen - sie sind alle ein bisschen verrückt!"

    Es war der zweite Anlauf der Åländer Regierung, einen Teil der im 2010 geborgenen Champagnerflaschen zu verkaufen. Ein Testlauf mit der Auktion von nur zwei Flaschen hatte im letzten Jahr den höchsten jemals bei einer Auktion erzielten Betrag gebracht.
    54.000 Euro hatte ein Sammler aus Singapur für die beiden Flaschen aus opakem Schwarzglas hingeblättert. Diesen Rekord wollte man nun toppen. Doch eigentlich sei man mit der Champagnersause gar nicht hinter dem großen Geld her, sondern bezwecke ein ganz anderes Ziel, sagt Johan Ehn, Ålands Minister für Kultur und Erziehung.

    "Wir wollen der Welt zeigen, wo Åland liegt. Viele Menschen wissen nichts von unserem Archipel. Dabei ist Åland ein wunderbarer Ort zum Leben und deshalb benutzen wir die Champagnerflaschen als ein Marketinginstrument."

    Schon beim Anflug auf den Schärengarten, diesem Gewirr aus kleinsten, sanft hügeligen Inseln und dem betulichen Charme eines Völkchens, das sich in seiner Provinzialität bestens eingerichtet zu haben scheint, sind viele Besucher beeindruckt von der Idylle:
    Tausende Ferienhäuschen, viele Bootsanleger für Segler, dafür kaum Autos. Das frische skandinavische Klima, die Restaurants und Cafés direkt am Wasser - all dies nimmt sofort für Åland ein. Warum also hat es die Insel-Regierung nötig, mit spektakulären Aktionen die Werbetrommel zu rühren? Johan Ehn:

    "Zum einen leben wir auf einer Insel. Wir haben eine eigene Sprache - Schwedisch. Damit unterscheiden wir uns vom Rest Finnlands. Zum anderen wählen wir unsere eigene Regierung, wir sind schon etwas Besonders. Wir wollen zeigen, dass unsere Kultur sich mehr und mehr entwickelt hat."

    Kein Wunder also, dass die Bewahrung ihrer Identität für die knapp 30.000 Åländer, die fast alle auf der Hauptinsel Fasta Åland leben, eine überragende Rolle spielt. Sie leisten sich eine eigene Regierung und Nationalhymne, einen eigenen Nationalfeiertag, ein eigenes Autokennzeichen, eigene Briefmarken und eine eigene Internetdomain, Kürzel: ax. In den Reisepässen steht: Suomi Finland Åland. In außen- und wirtschaftspolitischen Fragen ist Finnland zuständig. Ålands Nachwuchs muss in der Schule nicht einmal Finnisch lernen, Amtssprache ist Schwedisch. Wer will, kann überall mit der Schwedenkrone bezahlen, wenn er den Euro nicht mag:

    In Helsinki jedenfalls sind die Åländer als Lokalpatrioten verschrien, die, ähnlich wie die Katalanen in Spanien, jede Gelegenheit nutzten, gegen den großen Zentralstaat zu quengeln. Der ultrakonservative "Wahre Finnen"-Politiker Teuvo Hakkarainen erboste die Bewohner mit der Bemerkung: Somalier, Schwule und Lesben sollten doch nach Åland gehen, um auf dem abgelegenen Archipel eine neue Modellgesellschaft zu gründen. Johan Ehn:

    "Åland ist ein modernes Land. Bei uns leben 80 verschiedene Nationalitäten. Jeder ist willkommen. Die Beziehungen zwischen Åland und Finnland sind ausgezeichnet. Teuvo Hakkarainen vertritt extreme politische und nationalistische Ansichten. Die meisten Finnen denken völlig anders."

    Gerade wurde in Mariehamn die 90er-Jahre währende Autonomie von Helsinki mit Trachtenumzügen und stolzen Reden gefeiert. Die blaue Åland-Flagge mit rot-gelbem Kreuz flatterte an jeder Straßenecke.
    Erik Hemming ist Sprachwissenschaftler, arbeitet an der Hochschule von Åland und beschreibt die Mentalität der Insulaner so:

    "Die Menschen sind hier genauso intelligent wie in größeren Städten oder Kontinenten. Aber sie denken nicht darüber nach, was draußen in der Welt vor sich geht. Man ist hier sehr stark auf die eigene Region fokussiert, man könnte auch sagen: ein wenig kleingeistig. Andererseits holt man sich Anregungen von außen, zum Beispiel um das Geschäftsleben voranzutreiben. Aber im Kern benutzen die Leute ihre Intelligenz nur, um zu arbeiten und um lokale Dinge zu regeln."

    Dabei haben die Åländer Übung darin, die Gunst der Stunde zu nutzen. Einst gehörten sie zum schwedischen Großreich und gerieten 1809 in den Napoleonischen Kriegen mit Finnland unter die Kontrolle der russischen Zaren. Als Finnland sich in den Wirren der Oktoberrevolution von Moskau unabhängig erklärte, sagten sich die Insulaner auch gleich von Helsinki los. Es war der Völkerbund, der Vorgänger der UNO, der dem Archipel weitgehende Autonomie innerhalb Finnlands zusicherte, zu dem die Inseln heute gehören. Erik Hemming:

    "Willkommen auf Åland, ich hoffe, Ihnen wird es gefallen. Sie sind hier sehr willkommen. Genießen Sie die Ruhe und den Frieden, aber erwarten Sie nicht zuviel Kultur."

    So bringt es der Sprachwissenschaftler Erik Hemming auf den Punkt. Reisende sollten sich einfach von der Unverfälschtheit der Natur einfangen lassen. Gerade einmal zehn Prozent der Besucher kommen nicht aus Schweden und Finnland. Die meisten von ihnen sind Segler, die hier nur für ein paar Tage im Schärengarten Anker werfen. Lange waren die Åländer damit zufrieden. Denn wegen der politischen Sonderheiten bekommen sie reichlich Geld aus Helsinki, und das Archipel gilt als die reichste Region Finnlands. Traditionsgewerbe wie Reedereien, Banken, Fischfarmen, Kartoffelchipfabriken und etwas Landwirtschaft sorgen dafür, dass die Region zu den am wenigsten innovativen Europas gehört, wie Eurostatistiker in Brüssel ermittelt haben. Von den unzähligen Fastfood Restaurants ganz zu schweigen. Dabei gibt es hervorragende Alternativen, sagt Michael Bjöklund. Der stämmige Mittdreißiger hat als Küchenchef in Schweden und Finnland schon viele Preise gewonnen und auf Åland ein Gourmet-Restaurant eröffnet:

    "Für mich gehört zu Ålands Kultur das Essen. Ich nehme gerne Zutaten hier von den Inseln. Überall auf Åland gibt es Leute, denen irgendetwas besonders am Herzen liegt. Von denen bekomme ich die Produkte, mit denen ich koche. Christina zum Beispiel zieht Lämmer wie ihre Babys auf, die bekommen Kräuter zum Fressen. Pekka auf Föglö pflanzt eine riesige Auswahl an Tomaten und anderes Gemüse an. Und Stüre fischt mit seinem kleinen Boot Hecht, Barsch und Lachs für uns. Das ist alles sehr schön."

    So ähnlich sich die Inseln des Archipels auch sehen, wenn man sie aus der Luft betrachtet, haben viele einen ganz eigenen Charakter. Da ist es nicht verwunderlich, dass die Åländer Tausende Ferienhäuschen an Urlaubsgäste vermieten - zusammen mit den Schären, auf denen sie stehen, in der Hauptsaison zwischen Juni und August.

    Die knallroten Häuschen sind fast alle in Privathand. Sich für ein paar Tage oder Wochen ein Eiland aus grauem Granitfels mit Blockhaus zu mieten, mit dem eigenen Bötchen zum Einkaufen zu knattern, zu angeln, zu sonnen, zu baden, nach Schiffswracks zu tauchen und ansonsten nichts zu tun - das sind seit eh und je typische Åland-Ferien. Allerdings ist nur ein Bruchteil der Häuser als Urlaubsdomizil angemeldet. Die Miete wird von den Besitzern meist steuerfrei eingestrichen. Åland kann es sich leisten.

    Die eigene Schäre mit Boot und Hütte - romantischer kann man sich das Outdoorleben kaum vorstellen. Eine von ihnen hat eine ganz besondere Geschichte:
    Mats Sjöström arbeitet für eine Baggerfirma auf Åland. In seiner Freizeit ist er Kapitän eines Motorschiffes:

    "Wir sind jetzt unterwegs nach Märket mit seinem berühmten Leuchtturm. Märket ist deshalb so besonders, weil sie die westlichste Insel Ålands ist, und genau mittendurch verläuft die Grenze zwischen Finnland und Schweden."

    Seit über 125 Jahren trotzt der Leuchtturm von Märket den Meereswellen. Die nur drei Hektar große karge Felseninsel gehört zu gleichen Teilen Schweden und Finnland. Damit gilt Märket als weltweit kleinstes Eiland mit einer internationalen Grenze. Ein weiteres Kuriosum: Bis heute markiert eine weiße Linie, die sich über den Felsen zieht, die einzige direkte Landgrenze zwischen beiden Ländern.

    1885 wurde auf Märket der Leuchtturm erbaut, in dem Ålands letzter Leuchtturmwärter bis Ende der 1970er-Jahre wohnte. Seitdem wird das Leuchtfeuer vollautomatisch betrieben. Freiwillige der finnischen Leuchtturmgesellschaft kümmern sich seit einigen Jahren um den Erhalt des rotweißen Gebäudes. Eine Volontärin:

    "Ich komme aus Tampere in Finnland. Ich werde mich in den nächsten Tage auf Märket als Köchin um die Küche kümmern. In Tampere arbeite ich als Lehrerin. Wir bleiben auf der Insel für sieben Tage, wir sind zu sechst und kennen uns überhaupt nicht. Das ist schon anders als bei mir Zuhause. Hier geht alles ziemlich entspannt zu, und das Meer ist wunderbar!"

    "Man kommt mit fremden Leuten für eine Woche auf die Insel und man bildet eine sehr enge Gruppe."

    Ergänzt Angela Eriksson. Die Lehrerin kommt aus Helsinki und koordiniert die Renovierungsarbeiten auf Märket für die finnische Leuchtturmgesellschaft:
    "Und man muss sich selber finden, wie man mit anderen Leuten zurechtkommt. Es sind immer Leute, die möchten ganz alleine herkommen. wir lassen nur zu Zweit, weil das ist sonst zu gefährlich."

    An Bord des kleinen Motorboots sind sechs Volontäre aus Finnland, Schweden und Dänemark. Sie werden zusammen auf Märket bleiben und helfen, den Leuchtturm instand zu setzen, das heißt Elektroleitungen reparieren, Fußböden verlegen und neue Wände ziehen - all das geschieht ehrenamtlich, dafür sind Kost und Logis kostenlos und neue Bekanntschaften garantiert.

    Die Überfahrt dauert knapp zwei Stunden. Leichter Nieselregen begleitet die kleine Gruppe. Doch es geht ausgelassen zu, und so mancher Scherz wird gerissen auf die Frage, warum man sich freiwillig zum Arbeiten auf dem einsamen Inselreich entschieden hat.

    Im Sommer bietet die finnische Leuchtturmgesellschaft Ausflüge mit Führungen für Touristen an. Die Einnahmen werden benutzt, um das denkmalgeschützte Gebäude zu renovieren. Angelandet werden kann nur bei ruhiger See, weil es keinen Anlegeplatz für Boote gibt. Denn Märket ist ein flacher, stark zerklüfteter Felsen. Bei stärkerem Seegang wird das Eiland vollständig überspült. Angela Eriksson:

    "Die alte Küche, es wird eine Wand abgerissen und neu gemacht. Es sind sehr unterschiedliche Leute, es sind Lehrer, alles mögliche. Wir sind nicht unbedingt Fachleute. Es ist etwas Besonderes. Es liegt mitten im Meer. Irgendwie hat man das Gefühl, man macht etwas Wichtiges. Kleine Schritte, etwas restaurieren, etwas aufbewahren für die Zukunft."

    Lehrerin Angela Eriksson, Koch Michael Bjöklund, Sprachforscher Erik Hemming und all die anderen, die sich für den Schärengarten engagieren - die Menschen, die wir auf Åland getroffen haben, sind der beste Grund, eine Reise in den hohen Norden an die Grenze zwischen Finnland und Schweden zu machen. Und das, obwohl die diesjährige Champagner-Auktion ein Flop war: Acht der alkoholischen Kostbarkeiten gingen weit unter dem erhofften Auktionspreis weg und drei Flaschen zog die Regierung Ålands sogar zurück, da die Gebote noch tiefer lagen.

    Einen Gewinner indes gibt es schon jetzt. Christian Ekström, der Taucher, der den Perlwein vom Meeresboden barg, war nicht nur der erste, der in Verkennung ihres Wertes eine der Champagnerflaschen gleich an Bord seines Tauchboots mit seinen Kumpels leerte. Der findige Taucher, ein flachsblonder Mittdreißiger, hat, wie viele Åländer, nämlich gleich mehrere Eisen im Feuer. Ekström betreibt ein Landgasthaus mit angeschlossener Mikrobrauerei. Slow Beer nennt er seine Eigenkreationen aus Ökoanbau, ein gutes Motto für den betulichen Lebensstil der Åländer. Ekström nutzte bei der Auktion die Gunst der Stunde und erwarb eine der Flaschen zum Mindestpreis von 10.000 Euro für sein Bierlokal. Nach der Entdeckung des Wracks hatte er so manchem unmoralischen Angebot widerstanden:

    "Am surrealistischsten war der Anruf eines russischen Millionärs. Stellen Sie sich vor, der Mann hatte sich gerade zwei Schiffe bauen lassen. Er bot mir 60.000 Euro an, wenn ich ihm heimlich zwei Flaschen aus dem Wrack holen würde. Er wollte den Champagner für die Schiffstaufe!"