Archiv


Kampf gegen Todesstrafe

Mehr als 20.000 Menschen weltweit steht nach Informationen von amnesty international eine Todesstrafe bevor. 2005 seien mindestens 2148 Menschen hingerichtet worden. Besonders häufig wurde die Todesstrafe in China vollstreckt. Dort regt sich Protest.

Von Eva Corell |
    Fernsehen in China – das ist staatlich verordnete Langeweile. Nur der Hongkonger Privatsender Phönix wagt es manchmal, die Grenzen der Zensur zu durchbrechen. In ihrer Talkshow "Verabredung mit Lu Yu" präsentierte die Moderatorin eine kleine Sensation: einen Todeskandidaten, der elf Jahre unschuldig hinter Gittern gesessen hatte, für einen Mord, der nie geschehen war.

    "Wie war das, als Sie des Mordes an ihrer Frau beschuldigt wurden?"

    fragt die TV-Gastgeberin She Xianglin einen ehemaligen Wachmann aus der Provinz Hubei. Der blasse 39-Jährige versinkt fast in seinem Studiosessel. So viel Publikum ist ihm sichtlich unangenehm. Doch sein Schicksal ist ein Paradebeispiel für Chinas Unrechtsjustiz. Und hier darf zum ersten Mal öffentlich darüber geplaudert werden.

    "Die Polizisten nahmen mich mit und wollten ein Geständnis erpressen, aber da gab es doch gar nichts zu gestehen","

    erinnert sich She an damals, 1994, als seine Ehefrau spurlos verschwunden war. Die Dorfpolizei fand eine unbekannte Frauenleiche und wollte den Fall so schnell wie möglich abschließen.

    ""Der Polizeibericht beschrieb genau, wie ich sie getötet hatte. Aber erst jetzt ist klar, dass der Bericht von vorn bis hinten erfunden war."

    She wurde zum Tode verurteilt – ein eklatantes Fehlurteil, an dem selbst die nächste Gerichtsinstanz zweifelte. Doch in China gilt: im Zweifel gegen den Angeklagten. Das Berufungsgericht in Hubei änderte das Urteil in 15 Jahre Gefängnis, trotz Mangel an Beweisen. Über die Torturen der Haft sprach She im Fernsehen nicht, erst bei unserem Radio-Interview, was ihm sichtlich schwer fiel:

    "Die Beamten schlugen mich überall hin, auf den Kopf, die Arme, die Beine. Zehn Tage und Nächte lang musste ich stehen, bis ich keine Kraft mehr hatte und ohnmächtig wurde. Irgendwann wusste ich nicht mehr, ob ich wach war oder träumte. Es war körperliche und mentale Folter."

    Geständnisse durch Folter zu erpressen, ist in China traurige Normalität. Die Unschuld von She Xianglin kam erst ans Licht, als das vermeintliche Mordopfer auftauchte: Seine Frau war geistig verwirrt und schon lange neu verheiratet. Erstaunlich war, dass die örtliche Presse darüber berichten durfte. Bis dahin galten Folter und Fehlurteile als Tabu. Seit Shes Fall aber weht ein laues Reformlüftchen durch China.

    "Der Fall She Xianglin zeigte so deutlich wie nie zuvor die Mängel im chinesischen Strafrecht","

    erklärt Rechtsanwalt Zhou Feng, der dem Justizopfer eine Entschädigung in Rekordhöhe erstritt: 45.000 Euro für elf Jahre Haft.

    ""Es war klar, dass die Polizei das Geständnis mit Gewalt erpresst hatte. Diese Erkenntnis beschleunigte eine Justizreform, denn China wollte nicht länger hinter internationalen Rechtnormen zurückbleiben."

    Xiao Yang, Oberster Richter des Landes, forderte mehr Sorgfalt von den chinesischen Gerichten. Und in seinem Rechenschaftsbericht vor dem Parlament erläuterte er die gerade beschlossene Justizreform.

    Verhöre in Polizeistationen müssen künftig gefilmt werden, und sie dürfen nicht wie früher bis zu 36 Stunden dauern, sondern nur noch 12. Wird gegen ein Todesurteil Berufung eingelegt, hat der Angeklagte das Recht auf neue Zeugen und neue Beweise. Doch auf den wichtigsten Reformschritt warteten die Zuhörer vergebens: eine Überprüfung aller Todesurteile durch den Obersten Gerichtshof. Das nämlich könnte die Zahl der Hinrichtungen deutlich senken, meinen Rechtsexperten wie Liu Renwen:

    "Die Statistik belegt: Wenn Chinas Oberstes Gericht alle Todesurteile überprüft, könnte ihre Zahl um mindestens 20 Prozent sinken. Das ist auch politisch gewünscht, Peking hat schließlich den UN-Pakt für bürgerliche und politische Rechte unterzeichnet und steht international unter Druck."

    Der Pekinger Strafrechtsprofessor ist selbst ein erklärter Gegner der Todesstrafe; in seiner Heimat eher ungewöhnlich. Doch wie er lösen sich immer mehr Chinesen vom archaischen Prinzip: Auge um Auge, Zahn um Zahn.
    "Früher war ich stark beeinflusst von der traditionellen chinesischen Denkweise, dass ein Mörder für seine Tat mit dem Leben bezahlen muss. Doch durch den Austausch mit europäischen Kollegen habe ich begriffen, dass unsere Gesellschaft keine Todesurteile braucht, um Gerechtigkeit zu üben. So gehöre ich nun zu einer kleinen Minderheit von Chinesen, die eine Abschaffung der Todesstrafe fordern."

    Liu fing einst als Richter in der Provinz an, anders als viele chinesische Kollegen mit einer richtigen Ausbildung, sogar Uni-Abschluss. Geblieben ist ihm der Schock über eine Willkürjustiz, die Todesstrafen wie am Fließband verhängt. 8000 Todesurteile jährlich, so schätzt er, nur ein Bruchteil davon ist offiziell belegt. Weil die kommunistische Regierung diese Zahl als Staatsgeheimnis betrachtet, sind der Rechtsprofessor und seine Kollegen auf Informationen aus dem Ausland angewiesen.

    Auch Chinas Anwälte wandeln auf einem schmalen Grat. Sie stehen oft selbst mit einem Bein im Gefängnis. Denn die Kommunistische Partei steht über dem Gesetz. Sie bestimmt letztlich, was Recht ist und was nicht.

    Einer, der sich trotzdem nicht einschüchtern lässt, ist Pu Zhiqiang, Anwalt in einer jungen Pekinger Kanzlei, der Klienten auch ohne Honorar vertritt, wenn es um seine Ideale geht.

    "Nein, an ein Honorar denke ich nicht immer. Manche Klienten bitte ich sogar darum, sie kostenlos verteidigen zu dürfen. Ich habe schließlich 1989 auf dem Tiananmenplatz für Freiheit demonstriert. Das war lebensgefährlich, dagegen wiegt der mögliche Verlust meiner Rechtsanwaltslizenz gar nichts. Aber ich plädiere für Kompromisse - bis heute, selbst mit der Polizei, solange ich meine Prinzipien nicht verraten muss. Niemand kann mir vorschreiben, was ich vor Gericht sagen darf und was nicht. Solange ich Beweise habe, sage ich, was ich denke."

    Auch in China gilt das Gesetz für alle, sagt Pu. Wie andere Vertreter einer Generation junger, ehrgeiziger Anwälte nutzt er die Freiräume, die sich durch die politischen Reformpläne bieten. Für Justizopfer She Xianglin kommt jede Reform zu spät. Ein Jahr nach seiner Freilassung denkt der allein erziehende Vater nicht mehr an Rache. Er kämpft ausschließlich für die Zukunft seiner 13-jährigen Tochter.

    "Ich will keine Rache. Nach der jahrelangen Tortur sind mir solche Dinge nicht mehr wichtig. Ich hasse niemanden, es gibt keinen, auf den ich mit dem Finger zeigen könnte. Selbst meine Folterer standen unter Druck von oben. Die verlorenen Jahre kann mir ohnehin niemand zurückgeben."

    Immerhin: She lebt. Der Bauer Nie Shubin hatte weniger Glück. Er wurde hingerichtet für eine Vergewaltigung, die er nicht begangen hatte. Der wahre Täter gestand zehn Jahre später.