Karl Girgensohn stammte aus Camel, im heutigen Estland, wo er 1875 als Sohn eines Pfarrers geboren wurde. Sein Studium hatte er an der Universität Dorpat begonnen, dem heutigen Tartu, das damals zu Russland gehörte. Dorpat war im 19. Jahrhundert eine deutschsprachige Universität.
Erst in den 1880er-Jahre wurde im Zuge der Russifizierung Deutsch als Lehrsprache abgeschafft. Einzige Ausnahme blieb die evangelisch-theologische Fakultät, die auf die Fachliteratur aus dem deutschen Protestantismus angewiesen war. Was allerdings von der russisch-orthodoxen Kirche nicht gerne gesehen wurde, denn man befürchtete den Einfluss des modernen liberalen Protestantismus.
Auf Girgensohn hatte das offene Klima an der theologischen Fakultät Dorpats nachhaltigen Einfluss. Der amerikanische Psychologe David M. Wulff:
Aus einem frommen lettischen Jugendlichen wurde Girgensohn zu einem Konvertit des Geistes positivistischer Aufklärung. Dennoch führten ihn die Schriften Friedrich Schleiermachers, Hermann Lotzes und Auguste Sabatiers zu einem mystisch-pantheistischen Denken. Die Betonung der subjektiven Seite der Religion durch diese Autoren mag ihn zudem dazu veranlasst haben, Vorlesungen in Psychologie zu besuchen.
Anders als William James oder Rudolf Otto geht es Girgensohn nicht nur um das Verständnis religiöse Erfahrung. Er will mehr: Er möchte die Religion auf empirische Grundlagen stellen.
Und er geht noch weiter: Girgensohn träumt davon, mit wissenschaftlichen Methoden den Materialismus zu widerlegen und zu beweisen, dass der Geist der Materie überlegen ist. In seinen "Zwölf Reden über die christliche Religion" schreibt er 1906:
Es ist interessant zu sehen, wie gegenwärtig ... in den Kreisen der wissenschaftlichen Psychologen die Neigung zunimmt, der Seele eine völlig selbständige Stellung neben und über der Materie einzuräumen.
Sein Ziel ist es, mit wissenschaftlichen Methoden das gängige wissenschaftliche Weltbild zu widerlegen. Der Erlanger Theologe Christian Henning kritisiert das Vorgehen Girgensohns:
Es ist Girgensohns Absicht, das herauszubekommen, was herauskommen muss, nämlich, dass die Religion ihr wesentliches Proprium im gedanklichen Gehalt hat. Auf dieses Ziel hin wird die Untersuchungsmethode ausgewählt.
Bei seinem Verständnis von Religion knüpft Girgensohn vor allem an den Theologen Friedrich Schleiermacher an, der Religion als "Anschauung des Universums" und "Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit" beschrieben hatte. Girgensohn schreibt:
Schleiermachers Größe besteht ... darin, dass er die exakt-wissenschaftliche Aufgabe klar erkannte und dass er infolgedessen sein ganzes Interesse auf die sorgfältige Erforschung und Analyse der diesseitigen, irdischen Phänomene, in denen Religion subjektiv erlebt wird, konzentrierte.
Girgensohn setzt Religion deshalb mit der subjektiven Seite des religiösen Erlebens gleich und öffnet sie damit den Methoden der empirischen Psychologie.
Was wir brauchen, ist eine experimentelle Methode, die eine so tief eindringende Analyse gestattet, dass Material zutage kommt, von dessen Existenz der Beobachter vorher selber nur unklar etwas ahnte.
Dass zu diesem Zweck von Girgensohn angewandte experimentelle Verfahren bestand im Wesentlichen darin, Versuchspersonen nach der Lektüre religiöser Gedichte zu ihren Empfindungen und inneren Erlebnissen zu befragen.
Diese Untersuchungen führte Girgensohn vom Februar 1911 bis zum April 1913 durch. Die insgesamt 14 Versuchspersonen, jeweils sieben Frauen und Männer, gehörten zum seinem persönlichem Umfeld. Das sollte eine möglichst vertrauensvolle Atmosphäre schaffen. Die vorgelegten Gedichte durften nur einmal gelesen werden. Danach wurden die Gedanken und Erlebnisse protokolliert.
Wichtig ist dabei für Girgensohn vor allem das Körperempfinden, da es für die Intensität von Gefühlen verantwortlich ist. Er begründet dies so:
Die körperlichen Vorgänge sind nicht bloß physiologisch, sondern als Organempfindungen auch psychologisch von weit größerer Bedeutung, als die Alltagsbeobachtung annimmt.
Konstitutiv für religiöse Gefühle ist jedoch, so Girgensohn, allein die Intuition.
Wenn wir überblicken, wie hier Gefühle zu Gedanken werden, dürfte es am zweckmäßigsten sein, alles intuitive, gefühlsmäßige Denken- im Unterschied zum reinen und diskursiven Denken - unter dem Begriff der Intuition zu vereinen.
Insbesondere Mystiker erleben hierbei eine extreme Steigerung der Intensität und Extensität des Ichbewusstseins. Diese zum Teil ekstatischen Zustände unterscheiden sich jedoch nicht prinzipiell von der Situation anderer Gläubiger. Karl Girgensohn:
Unsere Versuche haben festgestellt, dass dem ekstatisch-mystischen Erleben analoge Bewusstseinserlebnisse das alltägliche Leben des religiösen Gedankens ununterbrochen begleiten.
Auch wenn man Girgensohn nicht in allen Befunden folgen mag, so hat er doch die Anatomie religiösen Erlebens in einer bis dahin nicht gekannten Genauigkeit untersucht. Und seine Überlegungen zum gedanklichen Gehalt von Emotionen und der Rolle der Funktionen des Ichs nehmen vieles voraus, was heutzutage in der Forschung diskutiert wird.
Dementsprechend war die Veröffentlichung seiner Studie des "Seelischen Aufbaus" 1920 eine Sensation, die Hoffnung auf zukünftige, methodisch weiterentwickelte Untersuchungen machte.
Doch es kam anders. Insbesondere die dialektischen Theologen um den Calvinisten Karl Barth polemisierten in aller Schärfe gegen jede psychologische Begründung von Religion. Das hat dann letztlich auch dazu geführt, dass die Religionspsychologie bis heute keinen besonderen Stellenwert mehr in der evangelischen Theologie in Deutschland hat.
Erst in den 1880er-Jahre wurde im Zuge der Russifizierung Deutsch als Lehrsprache abgeschafft. Einzige Ausnahme blieb die evangelisch-theologische Fakultät, die auf die Fachliteratur aus dem deutschen Protestantismus angewiesen war. Was allerdings von der russisch-orthodoxen Kirche nicht gerne gesehen wurde, denn man befürchtete den Einfluss des modernen liberalen Protestantismus.
Auf Girgensohn hatte das offene Klima an der theologischen Fakultät Dorpats nachhaltigen Einfluss. Der amerikanische Psychologe David M. Wulff:
Aus einem frommen lettischen Jugendlichen wurde Girgensohn zu einem Konvertit des Geistes positivistischer Aufklärung. Dennoch führten ihn die Schriften Friedrich Schleiermachers, Hermann Lotzes und Auguste Sabatiers zu einem mystisch-pantheistischen Denken. Die Betonung der subjektiven Seite der Religion durch diese Autoren mag ihn zudem dazu veranlasst haben, Vorlesungen in Psychologie zu besuchen.
Anders als William James oder Rudolf Otto geht es Girgensohn nicht nur um das Verständnis religiöse Erfahrung. Er will mehr: Er möchte die Religion auf empirische Grundlagen stellen.
Und er geht noch weiter: Girgensohn träumt davon, mit wissenschaftlichen Methoden den Materialismus zu widerlegen und zu beweisen, dass der Geist der Materie überlegen ist. In seinen "Zwölf Reden über die christliche Religion" schreibt er 1906:
Es ist interessant zu sehen, wie gegenwärtig ... in den Kreisen der wissenschaftlichen Psychologen die Neigung zunimmt, der Seele eine völlig selbständige Stellung neben und über der Materie einzuräumen.
Sein Ziel ist es, mit wissenschaftlichen Methoden das gängige wissenschaftliche Weltbild zu widerlegen. Der Erlanger Theologe Christian Henning kritisiert das Vorgehen Girgensohns:
Es ist Girgensohns Absicht, das herauszubekommen, was herauskommen muss, nämlich, dass die Religion ihr wesentliches Proprium im gedanklichen Gehalt hat. Auf dieses Ziel hin wird die Untersuchungsmethode ausgewählt.
Bei seinem Verständnis von Religion knüpft Girgensohn vor allem an den Theologen Friedrich Schleiermacher an, der Religion als "Anschauung des Universums" und "Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit" beschrieben hatte. Girgensohn schreibt:
Schleiermachers Größe besteht ... darin, dass er die exakt-wissenschaftliche Aufgabe klar erkannte und dass er infolgedessen sein ganzes Interesse auf die sorgfältige Erforschung und Analyse der diesseitigen, irdischen Phänomene, in denen Religion subjektiv erlebt wird, konzentrierte.
Girgensohn setzt Religion deshalb mit der subjektiven Seite des religiösen Erlebens gleich und öffnet sie damit den Methoden der empirischen Psychologie.
Was wir brauchen, ist eine experimentelle Methode, die eine so tief eindringende Analyse gestattet, dass Material zutage kommt, von dessen Existenz der Beobachter vorher selber nur unklar etwas ahnte.
Dass zu diesem Zweck von Girgensohn angewandte experimentelle Verfahren bestand im Wesentlichen darin, Versuchspersonen nach der Lektüre religiöser Gedichte zu ihren Empfindungen und inneren Erlebnissen zu befragen.
Diese Untersuchungen führte Girgensohn vom Februar 1911 bis zum April 1913 durch. Die insgesamt 14 Versuchspersonen, jeweils sieben Frauen und Männer, gehörten zum seinem persönlichem Umfeld. Das sollte eine möglichst vertrauensvolle Atmosphäre schaffen. Die vorgelegten Gedichte durften nur einmal gelesen werden. Danach wurden die Gedanken und Erlebnisse protokolliert.
Wichtig ist dabei für Girgensohn vor allem das Körperempfinden, da es für die Intensität von Gefühlen verantwortlich ist. Er begründet dies so:
Die körperlichen Vorgänge sind nicht bloß physiologisch, sondern als Organempfindungen auch psychologisch von weit größerer Bedeutung, als die Alltagsbeobachtung annimmt.
Konstitutiv für religiöse Gefühle ist jedoch, so Girgensohn, allein die Intuition.
Wenn wir überblicken, wie hier Gefühle zu Gedanken werden, dürfte es am zweckmäßigsten sein, alles intuitive, gefühlsmäßige Denken- im Unterschied zum reinen und diskursiven Denken - unter dem Begriff der Intuition zu vereinen.
Insbesondere Mystiker erleben hierbei eine extreme Steigerung der Intensität und Extensität des Ichbewusstseins. Diese zum Teil ekstatischen Zustände unterscheiden sich jedoch nicht prinzipiell von der Situation anderer Gläubiger. Karl Girgensohn:
Unsere Versuche haben festgestellt, dass dem ekstatisch-mystischen Erleben analoge Bewusstseinserlebnisse das alltägliche Leben des religiösen Gedankens ununterbrochen begleiten.
Auch wenn man Girgensohn nicht in allen Befunden folgen mag, so hat er doch die Anatomie religiösen Erlebens in einer bis dahin nicht gekannten Genauigkeit untersucht. Und seine Überlegungen zum gedanklichen Gehalt von Emotionen und der Rolle der Funktionen des Ichs nehmen vieles voraus, was heutzutage in der Forschung diskutiert wird.
Dementsprechend war die Veröffentlichung seiner Studie des "Seelischen Aufbaus" 1920 eine Sensation, die Hoffnung auf zukünftige, methodisch weiterentwickelte Untersuchungen machte.
Doch es kam anders. Insbesondere die dialektischen Theologen um den Calvinisten Karl Barth polemisierten in aller Schärfe gegen jede psychologische Begründung von Religion. Das hat dann letztlich auch dazu geführt, dass die Religionspsychologie bis heute keinen besonderen Stellenwert mehr in der evangelischen Theologie in Deutschland hat.