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Karl Kraus
"Die letzten Tage der Menschheit" auf den Salzburger Festspielen

Mit den "Letzten Tagen der Menschheit" hat der österreichische Autor Karl Kraus ein Monument des Irrsinns geschaffen, aus dem der Erste Weltkrieg entstanden ist. Sein Lesedrama ist und bleibt eine gigantische Bühnenherausforderung, der sich nun Georg Schmiedleitner in Salzburg gestellt hat.

Von Karin Fischer | 30.07.2014
    Schon so oft, speziell in diesem Jahr, wurde analysiert, wie sich das zivilisierte Europa zu Beginn des Ersten Weltkriegs auch in ein mentales Schlachtfeld verwandelte, in einen Kriegsschauplatz aus Worten, zu dessen ersten Opfern die Wahrheit und die Humanität zählten. Aber wer wissen will, wie genau sich die Verwandlung der Menschen in nationalistische Hetzer, patriotische Propagandisten des Krieges oder hirnvernagelte Mitläufer vollzog, der lese Karl Kraus' "Die letzten Tage der Menschheit".
    Binnen weniger Wochen haben sich hier der Kurzwarenhändler und der Kaiserliche Rat, die Modistin und der Mob dem Rausch nationalistischer Gewalt ergeben. Fremdsprachen sind auf den Straßen Wiens verdächtig, Denunziation an der Tagesordnung; ganz schnell ist der berühmte Schlachtruf "Serbien muss sterbien" zu hören; und als in der Habsburgergasse eine "Menschenmenge in größter Erregung" den ersten Friseurladen zertrümmert, stellt Karl Kraus zwei Historiker an den Rand der Szene, die von der "tiefinneren Gläubigkeit einer patriotisch durchglühten Menge an den Sieg der guten und gerechten Sache" schwafeln. Auch von der Presse wird der Krieg schnell umgelogen: Auflage steigern mit Hurra-Patriotismus ist jetzt erste Intellektuellenpflicht.
    "Sinnlos gewütet, weil Krieg war, und Staatsmänner haben ihn entfesselt, am Ende war das Wort. Nicht, dass die Presse die Maschinen des Todes in Bewegung setzte, aber dass sie unser Herz ausgehöhlt hat. Uns nicht mehr vorstellen zu können, wie das wäre - das ist ihre Kriegsschuld!"
    Der Nörgler tritt zuerst auf, Dietmar König spielt die berühmte Figur, in der Karl Kraus sich selbst ins Drama eingeschrieben hat: glatzköpfig auf tiefschwarzer Bühne, von Nebel umfangen, eine Faust-Figur des Untergangs, spricht er kluge Worte in großer Einsamkeit. Sein Teufelspakt ist der mit der Sprache, der Preis: von niemandem gehört zu werden.
    Mit Gregor Bloéb als Optimist werden die Diskussion über Militarismus, die Wahrheit, die österreich-ungarische Monarchie leichter, spielerischer. Doch die Sprachkritik des Nörglers wirkt im Lauf des Abends sehr verschmockt, larmoyant oder gar beleidigt und am Schluss viel zu pathetisch, um die beißende Wirkung zu entfalten, die der Autor ihr zugedacht hat.
    "Der Monolog, den ich mit Ihnen führe, hat Sie erschöpft. Und die Realitäten, die Sie nicht sehen können, sind meine Visionen. Und da wo sich für Sie nichts verändert hat, erfüllt sich mir eine Prophezeiung: Zwischen meiner Voraussage, dass der Weltkrieg die ganze umgebende Welt in ein großes Hinterland des Betrugs und des unmenschlichen Gottverrats verwandelt, und meiner Voraussage, dass es geschehen sei, liegt nichts - als der Weltkrieg."
    Das Drama beim Wort genommen
    Regisseur Georg Schmiedleitner hatte angekündigt, dass er den Fokus seiner Inszenierung auf die Sprache legen wolle. Es gehe wenig bis gar nicht "um viel Blut und drastische Bühnen-Sequenzen". Der Regisseur hat das Drama also beim Wort genommen, anstatt es zu bebildern. Die Bühne bleibt schwarz und tief, die Kostüme der Schauspieler schwarz und grau, die vielen Szenen und Rollen sind klug verteilt und orchestriert mit Livemusik der Blaskapelle "Postmusik Salzburg" und drei zusätzliche Musiker, die den schmerzhaft-schrägen Part übernehmen. Ein paar leichte Tische, eine verschiebbare, erleuchtete Showtreppe, drei mit vielen Scheinwerfern versehene bühnenhohe Metallgerüste sind die einzigen Requisiten. Die dramatischste Zuspitzung bilden die gut getimten Szenenübergänge, wenn etwa das Blitzlicht des Hofphotographen Skolik in das Feuer von Granatwerfern und den Donner der Kanonen übergeht.
    Die Schneisen durch den Text haben Schmiedleitner und sein Dramaturg Florian Hirsch beherzt geschlagen. Es ist im Prinzip alles da: Das Volk, der Lehrer, die Satire auf das Treffen Ludwig Ganghofers mit dem Kaiser, das Drückebergertum und die Privatphilosophie der besseren Gesellschaft, die Kriegshetze von der Kanzel, die Rolle der Presse als Propagandainstrument, der lange Weg einer Nation vom Hurra-Patriotismus zum Leichenhaus.
    Vor allem die Frauenrollen sind toll besetzt: Elisabeth Orth darf als Lehrer oder Mariechen Wahnschaffe Kinderspiele wie "Verteilung der Beute" oder "Russentod" spielen. Die quirlige Stefanie Dvorak schläft als Hofphotograph bühnentauglich ein und übernimmt in einer Szene gleich alle Rollen. Und Alexandra Henkel spielt die aus Russland heimkehrende Schauspielerin Elfriede Ritter eindrücklich als Opfer manipulativer Redakteure:
    "Meine Herren, das ist an den Haaren herbei gezogen!" - "Haaren gezogen...!" - "Auf den Ämtern, wenn ich auch nur den geringsten Anlass zur Klage gehabt hätte..." - "Klage!" - " ... über Drangsalierungen, glauben Sie, ich würde das einfach verschweigen?" - "Noch vor Erregung zitternd, schildert die Ritter, wie der Straßenmob sie bei den Haaren gezogen hat, sie sie auf die geringste Klage hin auf den Ämtern drangsaliert worden ist und wie sie über alle diese Erlebnisse Stillschweigen bewahren musste." - "Jetzt Doktor, Sie treiben wohl Ulk!"
    Brav inszeniert
    Doch der zynische Furor von Karl Kraus ist hier merkwürdig gezähmt und unlebendig, in einer Szene mit lauter Betrunkenen wird er vom Regisseur fast entschuldigend versenkt. Die Orgie des Krieges bleibt aus, aber auch die Orgie der Sprachverhunzung, in der der ganze Irrsinn und die ganze Gewalt ja drin stecken. Die Annahme, dass ohnehin die Wenigsten das berühmte Stück kennen, mag ja richtig sein. Auf keinen Fall auch wollte Schmiedleitner den überbordenden Szenen-Marathon, dessen charmanter Lokal-Kolorit ständig ins Komische oder Dummdreiste kippt, karikaturhaft ausbeuten.
    Doch aus Angst, zu viel entstellenden Witz daraus zu schlagen, werden "Die letzten Tage der Menschheit" hier nur brav herunter erzählt. Das frechste Bild ist seine Majestät der Kaiser als debiler Alter auf einer Bahre; das düsterste eine Kriegsgesellschaft, die riesige Raben-Köpfe trägt. Die Scham- und Bodenlosigkeit der Sprache, die Karl Kraus heraus arbeitet und letztlich als Anklage formuliert, ist, zumindest vor der Pause, als harmlose Revue von und für Gutmenschen inszeniert. Mit zwei Ausnahmen. Christoph Krutzler darf als Viktualienhändler den ganzen Zorn und die Macht des kleinen Mannes in breitestem Schmäh an der Kundschaft auslassen:
    "Der Schmierkas? Zehn Deka vier Kronen. Was, zu teuer? Auf Wochen kost er sechse! Wenn's eane ned reacht is, gehens a Häusl weiter, kaufensan Dreck, der nocher bülliger sein!"
    Und Dörte Lyssewski macht aus der Kriegsreporterin Alice Schalek eine strenge Kunstfigur, für die der Krieg die Poesie fürs Feuilleton liefert und dessen Gräuel sie Abenteuer, Sport, Vaterlandsliebe, "frei gewordenes Menschentum" nennt. Sie ist eine Ernst Jünger-Figur, sie sucht im Krieg Erleuchtung; ihre Erzählungen zittern vor erhabener Größe und legen doch die Blindheit solch eigenmotivierter Erkenntnis frei. Und sie bieten doch auch den ersten und fast einzigen Moment brutalen Schauderns, eine halbe Stunde nach der Pause:
    "Also, was sagen Sie?" - "Ich bin begeistert. Wenn das mit dem Putzen nicht wäre, kein Mensch möchte merken, dass das eine Frau geschrieben hat." "Wie meinen Sie das?" - "Wie Sie das Ausputzen schildern: dass Sie so viel Wert auf Reinlichkeit im Schützengraben legen." - "Wie?" - "Das Putzen.." - "Sie blutiger Laie: Putzen heißt massakrieren."
    Sicher, viele der Themen im Drama sind auf heute übertragbar: Wenn der Segen der deutschen Exportwirtschaft besungen wird oder die Überlegenheit deutscher Organisation. Wenn Militarismus als Fortschritt gilt oder die Maschinerie massenhafter Todesurteile vorgeführt wird. Wenn später vom "mutwillig heraufbeschworenen Verteidigungskrieg" die Rede ist und Pläne zur Erholung des Fremdenverkehrs nötig werden. Es gibt auch Szenen mit anhaltend untergründigem Schrecken: Wenn die Direktive zur "richtigen Ehrenbezeigung" auf einem Schlachtfeld mit lauter Toten vorgelesen wird. Doch insgesamt geht in Salzburg der Donner des Ersten Weltkriegs nicht im Spiegel seines wütendsten Dokumentaristen, sondern in gepflegter Langeweile unter.