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Karl Schlögel: Die Mitte liegt ostwärts. Europa im Übergang

Er hat in Berlin, Moskau und Sankt Petersburg Philosophie, Soziologie, Osteuropäische Geschichte und Slawistik studiert. Heute lehrt er an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder. Da verwundert es nicht, dass sein jüngstes Werk den Titel trägt: "Die Mitte liegt ostwärts". Kenner der Ost-Szene wissen längst, dass von Karl Schlögel die Rede ist. Klaus Bednarz über einen - in jeder Hinsicht - bemerkenswerten Wissenschaftler und seinen Blick auf das neue Europa:

Klaus Bednarz |
    Unter den deutschen Ost-Historikern der Gegenwart ist Karl Schlögel eine Ausnahmeerscheinung. Wort- und schriftgewaltig, wie wenige seiner Zunft, pflegt er die Ergebnisse seiner wissenschaftlichen Forschungsarbeit sowie seine persönlichen Beobachtungen und Reflexionen zum Thema: Deutschland und seine Nachbarn im Osten, regelmäßig auch einem breiteren Publikum zugänglich zu machen in brillanten Essays, eindrucksvollen Vorträgen, publizistischen Zwischenrufen und Reportagen. Das hat ihm unter Fachkollegen nicht immer Anerkennung eingetragen - Neid und Ignoranz soll es auch unter Wissenschaftlern geben -, wohl aber zunehmendes Interesse außerhalb der akademischen Welt.

    Nun hat Karl Schlögel unter dem programmatischen Titel "Die Mitte liegt ostwärts" einen Sammelband seiner Essays und Reportagen aus den vergangenen 15 Jahren vorgelegt. Mit ihm werden all jene Lügen gestraft, die Schlögel lediglich für einen weltfremden Phantasten gehalten haben, der der verlorenen und dennoch entscheidend durch den Osten geprägten Vergangenheit Mitteleuropas nachtrauert und in diesem Mitteleuropa, das auch weite Teile des Ostens einbezieht, ein Modell des Zusammenlebens künftiger Generationen erblickt.

    Der wohl bemerkenswerteste Beitrag des Bandes ist der 1986 erschienene und längst vergriffene Essay: Die Deutschen, der verlorene Osten und Mitteleuropa. Darin entwirft Schlögel - geradezu prophetisch - das Bild eines alten und nun vielleicht wieder neu entstehenden Raumes im Herzen Europas, dessen Geschichte als beispielhaft angesehen werden kann für das Zusammenwachsen, ja Zusammengehören von Ost und West. Mitteleuropa, so hatte Schlögel schon vor 15 Jahren geschrieben, bietet sich an als der endlich gefundene archimedische Punkt, als der Hebel, mit dem sich etwas gegen die Übermacht der Supermächte zuwege bringen lassen könnte. Von so manchen Politikern, Kollegen und anderen Zeitgenossen als realitätsfern belächelt, hatte Schlögel schon lange vor der Wende in Europa gefragt: Was haben die Grenzziehungen im Nachkriegs-Europa denn zu tun mit den geschichtlichen Räumen, die sie willkürlich auseinanderreißen oder nicht minder willkürlich zusammenfügen? Heute, wo die Grenzen gefallen sind und die Länder des östlichen Mitteleuropa, allen voran Polen, Ungarn, die Tschechische Republik, Slowenien und die Republiken des Baltikums vor der Aufnahme in die Europäische Union stehen, ist Mitteleuropa kein Traum mehr, keine Utopie, sondern - so Schlögel - eine Tatsache, die jeder, der sich dafür interessiert, auffinden, entdecken kann - eine historische Landschaft von großer Kohäsion.

    Eine besondere Bedeutung bei der Wiedergeburt Mitteleuropas - so Schlögel - kommt Deutschland zu; zum einen, weil es in Gestalt des Dritten Reiches den entscheidenden Teil der Schuld an der Zerstörung der Mitte trägt, der Homogenität des kulturellen Raumes zwischen Wien und Berlin, Prag und Kopenhagen, Budapest und Amsterdam, Triest und Warschau; andererseits aber, weil Deutschland immer Durchgangsland war, das mit seinen Provinzen jenseits der Oder ein natürliches Bindeglied zwischen Ost und West in Europa darstellte. Aus diesem Grund, so Schlögel schon 1986, dürfte man die Beschäftigung mit dem deutschen Osten auch nicht den Gestrigen, Ewiggestrigen, Unverbesserlichen und Unbelehrbaren überlassen. Nicht durch Revanche sei der Verlust des Ostens wettzumachen, so Schlögel, sondern im Vollzug einer Bewegung, die das Wissen um den zerstörten Lebensraum Osten zurückholt in das Bewusstsein einer möglichst breiten Öffentlichkeit in Deutschland. In seinem Bemühen, den Deutschen das östliche Europa, dem sie in der Regel den Rücken zugewandt haben, nahe zu bringen, greift Schlögel in seinen Essays und Vorträgen so unterschiedliche Themen auf, wie: das Verhältnis der russischen Intelligenz zu Europa, die architektonische Renaissance osteuropäischer Städte, die Chancen der Zivilgesellschaft in Russland, die Geschichte der ethnischen Säuberungen in Mittel- und Osteuropa.

    Bestechend in ihrer Genauigkeit, und auch heute noch keineswegs überholt, ist die Schilderung des vom Sowjetsystem geprägten Alltags in Russland, etwa in den legendären Kommunalkas, den Gemeinschaftswohnungen, in denen sich drei oder mehr Familien einen Flur, eine Küche, eine Toilette und, wenn sie Glück hatten oder haben, auch ein Bad teilen. Problematisch erscheint zuweilen der Blick Schlögels auf das postsowjetische Russland. In dem Bemühen, Interesse und Verständnis für dieses Riesenreich im Osten Europas zu wecken, registriert Schlögel zwar durchaus eine Reihe der negativen Entwicklungen der letzten Jahre, doch versucht er ihnen auch dort noch positive Aspekte abzugewinnen, wo diese von den Betroffenen selbst weder wahrgenommen noch empfunden werden. Die Abwesenheit des zivilen Russland und das Nichtfunktionieren der Institutionen dürfte wohl kaum, wie Schlögel behauptet, von Millionen von Bürgern als Chance für eine ungeheuer reiche und vielfältige Selbsttätigkeit und Selbstorganisation verstanden werden. Die Mathematik-Professorin, die die Hälfte ihrer Vorlesungen ausfallen lässt, um im Garten Kartoffeln, Kohl und Gemüse anzubauen, und der Chefarzt, der statt zu operieren als Taxifahrer arbeitet, sind wohl kaum Beispiele für, wie Schlögel meint, ungeheuer reiche Selbsttätigkeit. Es sind vielmehr Menschen, denen der Kampf ums nackte Überleben ihrer Familien gar keine andere Wahl lässt.

    Leidenschaftlich plädiert Schlögel dafür, Russland nicht immer nur mit den Augen des Westens von, wie er formuliert, zu weit weg zu sehen. Nicht das Prinzip "Wir, der Westen, bestimmen, was die Norm für Russland ist" dürfte das herrschende sein. Vielmehr müsse man sich, wenigstens für einen Augenblick, auf die Spielregeln des anderen einlassen, heraustreten aus dem Schema, das wir auf andere projizieren. Dazu gehört auch, so Schlögel, sich auf die Geschichte der Sowjetunion einzulassen, sie nicht besserwisserisch und vereinfachend als Verfehlung der Norm und der Logik, wie wir sie definieren, abzutun. Und indirekt, aber unmissverständlich verweist Schlögel in diesem Zusammenhang auf unsere eigene Geschichte. Die Generationen vor uns haben gehandelt, wie sie gehandelt haben - auch in Russland - in den jeweiligen Konstellationen. Sie sind nicht dümmer, nicht weniger moralisch als wir. Nur Nachgeborene, so Schlögel, die sich einbilden können, sie seien über die Katastrophen hinaus, können sich einbilden, alle vor ihnen seien so etwas wie kollektive Idioten. Russland muss wie jedes andere Land Osteuropas, so Schlögel, zunächst und vor allem aus seiner eigenen Geschichte begriffen werden, und es muss begriffen werden als ein Land, in dem durchaus auch andere Wertigkeiten gelten als im Westen - wobei die Frage, wozu Russland eigentlich gehört, zu Europa oder Asien oder zu keinem von beiden, natürlich auch von Schlögel nicht beantwortet wird. Vielmehr stellt er überaus differenziert die Positionen der heutigen russischen Intelligenz in dieser Frage dar, die so divergierend sind wie schon immer in der russischen Geschichte. Dabei setzt er unverkennbar auf eine Entideologisierung der Debatte und den Pragmatismus der jungen Generation in Russland. Diese Generation, so Schlögel, hat mit Europa keine Probleme, so wenig wie mit Asien - höchstens geschäftliche. Unverzichtbar für Schlögel aber ist die institutionelle Anbindung der westlich von Russland gelegenen Staaten des einstigen sowjetischen Herrschaftsbereichs an die Europäische Union. Die Ost-Erweiterung der EU, so stellt Schlögel in seinem Nachwort fest, wird in den nächsten Jahren und Jahrzehnten der prägende soziale, politische und kulturelle Vorgang in Europa sein. Wer verstehen will, warum dies so ist, und warum Europa ohne den Osten keine Zukunft hat, kommt an den Essays Schlögels nicht vorbei - auch, wenn sie gelegentlich zum Widerspruch reizen.

    Klaus Bednarz über Karl Schlögel: Die Mitte liegt ostwärts. Europa im Übergang, Carl Hanser Verlag, München 2002.