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Karlovy Vary Filmfestival
Menschenschmuggler und patriarchalische Traditionalisten

Flüchtlingskrise, sexuelle Selbstbestimmung: Aktuelle politische Themen prägen das 52. Karlovy Vary Filmfestival ebenso wie poetische Filmkunst aus Ost und West. Für Überraschungen sorgte die Preisverleihung - die eigentlichen Favoriten gingen leer aus.

Von Kirsten Liese | 09.07.2017
    Atmosphäre beim Internationalen Filmfestival Karlovy.
    Atmosphäre beim Internationalen Filmfestival Karlovy: In diesem Jahr gab es mit aktuellen Bezügen zur Politik harte Kost, die nicht alle Zuschauer gut verkraftet haben. (imago/CTK Photo)
    Gaza würde gerne in Istanbul studieren. Aber sein Vater will davon nichts wissen, der Junge soll ihm beim Menschenschmuggel assistieren. Der grobschlächtige Alte versteckt Flüchtlinge, die er bei Unwettern auf die gefährliche Weiterreise über das Meer schickt, in einem Verlies. Und wenn es ihn überkommt, holt er sich eine Frau und vergewaltigt sie vor den Augen seines traumatisierten Sohnes.
    Flüchtlingsdramen mit "schwer verdaulichen Szenen"
    Das türkische Drama "Daha", das angesichts schwer verdaulicher Szenen nur wenige bis zum Ende sehen wollten, war in Karlovy Vary nicht der einzige Beitrag von beklemmender Aktualität.
    Ein knallhartes Sozialdrama, das in einem Umfeld von Arbeitslosigkeit, Armut und Korruption mit komplexen Charakteren von Menschenschmuggel erzählt, bescherte auch die mit dem Regiepreis ausgezeichnete, an der slowakisch-ukrainischen Grenze verortete Tragödie "The Line". Für Regisseur Peter Bebjak war es dabei wichtig zu zeigen, dass sein Land keine Angst vor den Flüchtlingen zu haben braucht, deren Aufnahme es hartnäckig verweigert:
    "Wir sind nicht das Ziel der Flüchtlinge, hier wollen sie nicht bleiben, wir sind nur eine Durchgangsstation, über die sie nach Deutschland gelangen wollen oder in andere reiche Länder, von denen sie annehmen, dass sie sich dort ein neues Leben aufbauen können."
    Festivalleiter: Stärkste Impulse derzeit aus Georgien
    In künstlerischer Hinsicht kommen derzeit innerhalb des osteuropäischen Kinos die stärksten Impulse aus Georgien, sagt Festivalleiter Karel Och: "Das georgische Kino hebt sich mit einer starken Bildsprache hervor, wie wir sie noch vom sowjetischen Kino kennen. Die Drehbücher und Charaktere sind in diesen Filmen eher zweitrangig, sie faszinieren seitens Kamera, Schnitt, Inszenierung und Bildästhetik und sind damit eine wahre Augenweide."
    "Dede", das im Nebenwettbewerb "East of The West" mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnete Porträt einer mutigen Frau, bezeugt diese visuellen Qualitäten mit Panoramen imposanter Landschaften. Die Heldin erweist sich als so stark wie das sie umgebende Gebirgsmassiv in ihrem Dorf. Stoisch widersetzt sie sich ihrem Großvater, der sie zur Heirat mit einem Mann zwingen will, den sie nicht liebt.
    Israelisch-deutscher Film übers Doppelleben eines Schwulen
    Den schönsten Beitrag bescherte dem Festival aber eine von kulinarischem und emotionalem Feinsinn durchdrungene israelisch-deutsche Koproduktion.
    Die durch einen Unfalltod tragisch endende Fernbeziehung zweier Männer wird darin zum Ausgangspunkt einer zarten, spannungsreichen Annäherung der verbliebenen Sex- und Lebenspartner. Thomas, der den Geliebten in seiner Berliner Konditorei kennengelernt hatte, verlässt seine deutsche Heimat, sucht in Jerusalem nach den Spuren seines Freunds und strandet als Küchenchef im Café von dessen Witwe, die nichts von dem Doppelleben ihres verstorbenen Mannes ahnt, mit dem sie einen kleinen Sohn hat. Die beiden suchen gegenseitig Trost, freunden sich an, es kommt sogar zu zärtlichen Berührungen.
    "The Cakemaker" ist eine sehr subtile Geschichte, die den Wettbewerb überragte. Über den sparsamen Dialogen waltet Diskretion, zwischen Thomas und der Ehefrau kommt das Doppelleben ihres Mannes nie zur Sprache, aber dennoch kommt die Betrogene dem schmerzreichen Geheimnis auf die Spur. Unaufdringlich wirbt Regisseur Ofir Raul Graizer für eine selbstbestimmte Sexualität, die es in seiner israelischen Heimat noch nicht gibt:
    "Ich kenne viele Leute, die so leben, weil die können nicht ihre eigene Identität erleben. Schwule Männer, die aus kulturellen Gründen ein heterosexuelles Leben leben müssen. Es geht nicht nur um Lust, sondern die Entscheidung, ein ganzes System von Lügen zu errichten, deswegen ist es auch gefährlich, weil die Geheimnisse können den Menschen schaden."
    Den Preis bekam ein anderer
    Wiewohl Homosexualität auch in Osteuropa ein schwieriges Thema ist, nahm das Publikum den Film begeistert auf. Nur schade, dass die Jury diese Sensation nicht mit einer hohen Auszeichnung krönte. Überraschend ging der Kristallglobus für den besten Film an eine zwar mit herrlichen Bildern bestechende, aber inhaltsleere Studie um einen, seinem kleinen ausgerückten Sohn hinterher galoppierenden Kreuzritter aus Tschechien.