Wer es schafft, hier eine der begehrten Hospitanzen im EU-Parlament, der Kommission oder auch beim Übersetzungsdienst zu ergattern, der ist einen großen Schritt weiter in der Karriereplanung. Dafür nehmen die Auserwählten auch schon mal eine Drei-Monatsbleibe auf acht Quadratmetern in Kauf, ein wenn überhaupt sehr bescheidenes Salär, und viel, viel Arbeit. Geschont wird keiner, der in Brüssel was werden will - Praktikanten schon gar nicht.
Daniel Meijers, der "Anti-Praktikant"
Fleiß ist die eine, Idealismus die andere Eigenschaft - die der Nachwuchs mitbringen muss. Ohne Überzeugungen geht es nicht. Sei es für die EU-Verfassung, die Chemie-Industrie, oder den Umweltschutz. Für den hat sich Daniel Meiers entschieden, Ende 20, aus den Niederlanden. Er entspricht weder äußerlich noch von seiner Einstellung her exakt dem typischen Bild des Brüsseler Praktikanten ...
Der Kreisverkehr am Schuman-Platz - das Herz der Europäischen Union in Brüssel. Rechts ragt das gläserne Berlaymont-Gebäude in die Höhe, der Hauptsitz der Europäischen Kommission, gegenüber liegt das schwere, sandsteinfarbene Ratsgebäude. Und in der Mitte steht, am Rand des breiten Bürgersteigs ein kleines, rotes Zelt, in dem Blumen verkauft werden.
Daniel Meijers bleibt mit dem Vorderreifen seines Fahrrads fast an der Bordsteinkante hängen. Nur mit Mühe schlängelt er sich zwischen dem Blumenhändler und den Passanten durch - bis zu einem Laternenpfahl, an den er sein klappriges, schon leicht rostiges Fahrrad anschließt.
"Ich bin Niederländer und das ist ein echt holländisches Fahrrad. In den Niederlanden fahren alle Fahrrad, nicht nur die Umweltlobbyisten. Aber hier in Brüssel ist das anders. Hier ist es für Fahrradfahrer wirklich gefährlich inmitten der Autoschluchten. Und deshalb gilt es hier schon als politisches Statement, wenn Du Fahrrad fährst. Aber das passt ja auch zu mir,"
sagt der 28-Jährige aus Emmerlord, einem Städtchen in den nördlichen Niederlanden. Er lächelt und packt seinen Fahrradschlüssel in den schmutzigweißen Jute-Beutel, den er sich über die rechte Schulter geworfen hat.
Daniel ist erst vor ein paar Wochen nach Brüssel gezogen. Er hat für ein Jahr einen gut bezahlten Praktikumsvertrag bei der Umweltorganisation Friends of the Earth ergattert. Dort arbeitet er in der Anti-Atomkraft-Kampagne mit.
Auf dem Bürgersteig sind ein paar Jugendliche von Greenpeace unterwegs, einer Schwesterorganisation von Friends of the Earth. Sie bitten bei den vorbeieilenden Passanten Geld um Spenden für ihre Organisation. Daniel geht, ohne sie zu beachten, vorbei.
"Ich fühle mich verantwortlich für alles, was ich mache und ich versuche, alles so gut wie möglich zu machen. Aber ich mag es nicht, anderen meine Meinung aufzuzwingen. Ich kann ihnen zeigen, was die Alternativen sind. Aber ich würde zum Beispiel nie von jemandem Geld für meine Organisation erbetteln. Ich mag es nicht, wenn mir andere Leute sagen, was ich tun soll. Also mache ich das auch nicht."
Stattdessen, sagt er, versuche er, die Menschen und - jetzt in Brüssel - die Europäischen Institutionen mit Argumenten von seiner Sache zu überzeugen. Am Zebrastreifen bleibt er kurz stehen und schaut zum Kommissionsgebäude hoch, das vielen Neuankömmlingen protzig erscheint.
"Es ist schon alles sehr wirtschaftsorientiert. Sogar diese hohen, anonymen Gebäude. Da frage ich mich schon, ob es sich lohnt, sich dafür ins Zeug zu legen. Aber es hat auch keinen Sinn, alles negativ zu sehen. Ich versuche einfach, etwas zu verbessern, die EU ein bisschen grüner zu machen."
Diese Hoffnung will Daniel nicht aufgeben. Deshalb hat er vor zwei Jahren auch für die EU-Verfassung gestimmt, als sie den Niederländern vorgelegt wurde. Überzeugt vom Freihandelskonzept, das darin festgelegt ist, sei er nicht:
"Aber ich hatte das Gefühl, dass unsere Regierung ein "Nein" als eine grundsätzliche Ablehnung gegen Europa verkaufen würde. Das wollte ich nicht. Deshalb habe ich mit "Ja" gestimmt. "
Daniel überquert den Zebrastreifen und stößt in der Mitte des Kreisverkehrs zu einer kleinen Gruppe, die sich dort gebildet hat.
Er nimmt an einer ganz speziellen Führung durch das Brüsseler Europaviertel teil. Eine niederländische Denkfabrik führt Neugierige durch die Brüsseler Lobbywelt - diesmal stehen Klimaschutz und Energie im Mittelpunkt, also genau Daniels Interessensgebiet. Er stellt sich an den Rand, es ist nicht seine Sache, sich in den Vordergrund zu drängen.
"Ich frage mich, ob ich wirklich einer von ihnen bin. Offensichtlich schon. Ich versuche schließlich auch, die Politik zu beeinflussen. Also bin ich ein Lobbyist. Aber eigentlich haben Lobbyisten ja einen schlechten Ruf, und plötzlich soll ich dazu gehören, das ist schon seltsam."
Schon rein äußerlich unterscheidet sich Daniel von den übrigen Praktikanten, mit denen er zusammen steht: Er trägt Turnschuhe, eine grünliche Stoffhose, ein T-Shirt mit buntem Aufdruck und eine leichte Kunststoffjacke mit Regenbogen-Aufnähern.
"Neulich war ich im Parlament bei einer Sitzung, in der es darum ging, ob ein Atomkraftwerk in Bulgarien abgeschaltet werden soll oder nicht. Da habe ich dem bulgarischen Minister eine Frage gestellt und er hat mir eine wirklich dumme Antwort gegeben. Meine Mutter hat gesagt, ich sollte mich anders anziehen, nicht so flippig, sondern ein bisschen eleganter. Meine Kleidung, die passt nicht zu dem offiziellen Dresscode in Brüssel. Mit anderen Klamotten würde man mich vielleicht ernster nehmen, aber ich hätte das Gefühl, mich zu verbiegen. Aber jetzt sehe ich so aus, als würde ich nicht dazu gehören. "
Für die Praktikanten, die sich - ohne Murren - den Brüsseler Regeln unterwerfen, hat Daniel kein gutes Wort übrig:
"Immer nur im Anzug, immer nur in Restaurants essen, davon halte ich gar nichts. Das will ich auch nicht. Ein Freund von mir ist Praktikant in der EU-Kommission und ich weiß, dass er echte Überzeugungen hat. Aber natürlich gibt es auch viele, die einfach nur möglichst schnell möglichst viel Geld verdienen und am liebsten Kommissar werden wollen. Aber da gehöre ich bestimmt nicht dazu."
Die Gruppe bewegt sich langsam und im Pulk vom Schuman-Platz durch den Leopold-Park bis zum Europäischen Parlament. Daniel erkennt die Route der Demonstration gegen US-Präsident Bush wieder, an der er vor zwei Jahren teilgenommen hat. Er habe seine Prinzipien, sagt er und die will er auch für einen guten Job nicht verraten:
"Ich bin vielleicht ein bisschen naiv - ich glaube an das Gute im Menschen. Wenn ich diese Lobbyisten sehe, die zum Beispiel für die Autoindustrie arbeiten, dann kann ich kaum glauben, dass sie so etwas machen, nur wegen des Geldes. Ich verstehe überhaupt nicht, wie die Leute damit umgehen. Sie stellen sich gegen Dinge wie Geschwindigkeitsbegrenzungen auf Autobahnen. Ich könnte das nicht. Das wäre überhaupt nicht gut für mich."
Aufgewachsen in Frieden, Freiheit und Wohlstand. Überzeugt, dass nichts im Leben unmöglich ist. So ist sie, die Generation der 30-Jährigen in Deutschland. Meint Christian Schüle, Jahrgang 1970, in seinem Buch "Deutschlandvermessung". Übersteigerter Individualismus, Beliebigkeit und eine tiefe Entwurzelung diagnostiziert der Autor, und dreht den Spieß um. Keine wirtschaftskritische Beschreibung der viel zitierten Generation Praktikum, sondern die Abrechnung eines Mittdreißigers mit seinen Altersgenossen:
Ich werde von nun an keine Scheu mehr haben, schamlos von mir und über mein geltungssüchtiges ICH zu reden. Schamlosigkeit ist eine meiner Tugenden. Also rede ich ohne Skrupel vor dem Vorwurf anstandsloser Selbstgefälligkeit im ICH, um gleich klarzumachen, dass es ein allgemeines WIR nicht mehr gibt. Die größte Errungenschaft meiner Generation ist die Subjektivität.
Ich bin ein ICHling. Der pluralistisch denkende, demokratisch lebende ICHling ist aufgewachsen in der, wie der Soziologe Ulrich Beck sie nannte, "Risikogesellschaft", ohne dass er sich eines Risikos bewusst war.
Wir sind die ersten, die völlig kriegsschadenfrei aufgewachsen sind oder, so gesagt: die in der Idylle des totalen Friedens lebten. Der erste Weltkrieg stellte eine Zäsur dar, die eine verbindliche Erlebnisgemeinschaft bildete, der Zweite erst recht. So ließe sich gut und gerne eine Ahnengalerie des deutschen Wir-Gefühls entwerfen: das Anti-Frankreich-Wir von 1914, das Lebensraum-Wir von 1939, das Flakhelfer-Wir um 1942, das Wirtschaftswunder-Wir um 1955, das Achtundsechziger-Wir.
Schließlich das ICHlings-Wir.
Brüssel ist begehrt. Selbst chinesische Praktikanten verschlägt es in die belgische Hauptstadt, auch aus den USA kommen sie, und natürlich aus den 27 Mitgliedsstaaten. Allein das Europäische Parlament beschäftigt Jahr für Jahr mehrere hundert Praktikanten - im Durchschnitt kommen auf jeden der 785 Europaparlamentarier zwei junge Gastarbeiter. Wer lieber in den Übersetzungsdienst, die Öffentlichkeitsarbeit oder aber zum Europäischen Rechnungshof möchte, kann sich auch dort bewerben.
Einzige Voraussetzungen sind in der Regel Sprachkenntnisse in mindestens zwei EU-Amtssprachen, eine gesunde Neugier und ein Interesse an Politik. Wer auf ein bezahltes Praktikum hofft, muss ein abgeschlossenes Hochschul-Studium vorweisen. Das können allerdings nur die wenigsten, die weitaus große Mehrheit steckt noch in der Ausbildung, und so bleiben die meisten Praktika unbezahlt, egal ob man sich bei der Tierfutter-Lobby oder beim EU-Parlament bewirbt: Fleißig und billig, das ergibt eine attraktive Mischung. Mancher EU-Abgeordnete lässt bis zu acht junge Leute für sich arbeiten - kostenlos. Niemand in Brüssel kritisiert das indes. Im Gegenteil: Wer nach oben will, beißt sich durch - bis zumindest die erste Etappe erreicht ist:
Ingrid Veltman, Auswahl-Kommission
Der Weg zum Büro von Ingrid Veltman im siebten Stock führt durch endlose Flure, ausgestattet mit flauschigem, beigem Teppich und vorbei an unzähligen rosafarbenen Türen.
Hinter der Tür mit der Aufschrift 7.64 empfängt Ingrid Veltman ihre Besucher mit einem breiten Lächeln. Die resolute Holländerin mit kurzen, rotgefärbten Haaren ist ein Urgestein im Europäischen Parlament - schon seit 1978 arbeitet sie hier, seit knapp einem Jahr als Assistentin des Generaldirektors für auswärtige Beziehungen. Und als solche ist sie auch für die Auswahl der Praktikanten zuständig - keine einfache Aufgabe.
"Was bei mir auf dem Tisch landet, das kann alles sein zwischen 1000 und 1200 Anfragen, je nachdem. Was unsere DG anbelangt, haben wir zurzeit nur Platz für 24. Das ist eben so. Es gibt nicht so viele Plätze."
Die Schuman-Praktika im Europäischen Parlament sind beliebt. Denn sie werden mit immerhin 1000 Euro im Monat recht gut bezahlt. Und es werden immer mehr, sagt Ingrid Veltman. Insgesamt - also für alle Abteilungen - bewerben sich jedes Jahr über 5000 Kandidaten.
Ingrid Veltman wählt gemeinsam mit ihrem Generaldirektor diejenigen 24 aus, die in ihrer Abteilung bleiben dürfen. Die Vorraussetzungen?
"Als erstes ein Studium, das in unsere DG reinpasst, also ein Interesse an auswärtigen Beziehungen oder Entwicklung oder internationalem Handel, an den neuen EU-Mitgliedsstaaten oder Japan, China oder so. Leute, die da ein Spezialinteresse haben. Zum Beispiel Politikwissenschaften mit Spezialisierung Russland, solche Sachen. Natürlich muss es eine Sprache geben, entweder englisch oder französisch. Aber das ist keine Hauptbedingung. "
Ingrid Veltman spricht mit den Praktikanten meistens englisch. Aber sie lässt es sich auch nicht nehmen, ihre Deutschkenntnisse einzusetzen.
Sie zuckt mit den Schultern und zieht einen Ordner aus dem Regal. Hier heftet sie all ihre Praktikanten ab, ordentlich sortiert nach Namen, Herkunftsländern, Jahrgang.
"Die Praktikanten kommen eigentlich von überall. Ich kann mal auf meine Liste schauen. Ich habe jetzt eine Praktikantin aus Serbien und eine aus Aserbeidschan, nein, die kommt nicht, Kirgisien habe ich. "
Die 50 Jahre alte Holländerin ruft Eleonora an, eine Praktikantin aus Spanien. Die muss noch ihren Reiseantrag für die Straßburg-Sitzung in der kommenden Woche ausfüllen.
Ingrid Veltman ist die erste Anlaufstelle für die Praktikanten, fast eine Art Ersatz-Mama. Von ihr bekommen Sie ihren Arbeitsplatz zugeteilt, können Fragen zum Parlament stellen und sie hat auch ein offenes Ohr für ihre Probleme - egal, ob sie die Wohnungssuche oder den letzten Streit mit dem Chef betreffen.
"Es gibt welche, die kommen hier ganz locker her, gemütlich, sportlich gekleidet am ersten Tag. Und dann gibt es welche, die kommen in Anzug und Krawatte oder wenn es ein Mädchen ist ziemlich nett angekleidet. Nicht das übliche, was man von einer Studentin erwartet. Da hatte ich in der letzten Gruppe auch eine von den Ostländern. Das war eine, da glaubte ich, als ich sie das erste Mal gesehen habe, die ist aus einem Modeblatt ausgestiegen. Und da gab es dem gegenüber eine, die war so eine kleine, graue Maus. Da habe ich mich enorm gewundert, dass es diesen Unterschied gab. Die Leute vom Norden sind ziemlich locker, einfach, da gibt es keine prätentiösen Leute. Die Südländer, da hängt es davon ab. Da kann man einen Macho haben oder nicht. "
Eleonora kommt vorbei und füllt ihren Reiseantrag aus. Sie nimmt das Papier mit, es fehlt noch die Unterschrift ihres Vorgesetzten. Das Gespräch dauert keine fünf Minuten. Zeit ist kostbar, die Arbeit wartet. Die Praktikanten im Parlament haben konkrete Aufgaben während ihres fünf Monate langen Aufenthalts. Meistens müssen sie eine bestimmte Untersuchung durchführen, Berichte über Menschenrechtsverletzungen schreiben oder Hintergrundinformationen für die nächste Rede des Generaldirektors sammeln.
Die meisten kommen, weil sie sich im Anschluss einen Job erhoffen.
"Wenn die schon zwei, drei Monate hier im Haus sind, viele Sitzungen miterlebt haben, Kontakte mit den Abgeordneten haben, dann freue ich mich schon, wenn die dann einen Karriereschritt machen können und als Assistent für einen Abgeordneten arbeiten. In der letzten Gruppe habe ich da verschiedene gehabt, die haben das geschafft. Von der vorigen Gruppe ist eine bei einer Bank hier in Brüssel gelandet und es gibt welche, die gehen zurück nach Hause und versuchen da, Arbeit zu bekommen."
Ingrid Veltman stellt den Ordner zurück und fährt fast liebevoll über ein Foto, das an der Wand über ihrem Schreibtisch hängt. Es ist eine finnische Eishockey-Mannschaft. Sie sei ein absoluter Fan, erzählt sie und lacht herzlich. Eishockey-Spieler und Praktikanten, da gäbe es durchaus Parallelen, meint sie.
"Man muss schon wissen, was man will und sich ein bisschen durchsetzen können, aber nicht zu viel. Das mögen viele Leute nicht. Ich habe das in der letzten Gruppe gemerkt. Da gab es zwei ganz nette Leute, aber die hatten geglaubt, jetzt mache ich so (schnipst) und wir schaffen das schon. Nein, leider, das hat nicht funktioniert. Die haben noch eine Woche hier im Gebäude rumgehängt und dann sind sie wieder hinter dem Horizont verschwunden. "
Eleonora kommt zurück - mit dem ausgefüllten Antrag. Sie ist noch ein paar Wochen hier im Parlament, dann wird sie erst einmal zurück in ihr Heimatland gehen. Und genau diese Brücke zwischen Brüssel und den Mitgliedsstaaten sei eigentlich das wichtigste für die Europäischen Institutionen, meint Ingrid Veltman:
"Jemand, der hier ein Praktikum macht, der nimmt auch etwas Positives von der EU mit nach Hause. Man kann das auch sehen als eine Art Diplomatie zu der nächsten Generation."
Für die Generation der über 30-Jährigen in Deutschland gibt es keine Gewissheiten mehr, keine Sicherheiten und kaum mehr familiären Halt - glaubt Christian Schüle. Seine "Deutschlandvermessung" ist eine Auseinandersetzung über die Folgen der grenzenlosen Freiheit:
Definieren wir sauber und nach wissenschaftlichen Standards, so bedeutet Generation eine von der Geschichte in einem bestimmten Abschnitt formierte Kohorte von Trägern gleichen Bewusstseins, die ihre Spuren in Kultur und Politik hinterlassen. Ein handelndes Bewusstseins-Kollektiv also, das zwischen Double-income-no-kids-Mentalität und Double-Kids-no-Income-Realität steckt, zwischen Singlelust und Singlefrust, Geburtenrückgang und Kinderlosigkeit, Yuppietum und Sozialhilfe, Narzissmus und narzisstischer Kränkung. Unsere Identität ist eine gespaltene. Vielleicht haben wir gar keine eindeutig verortbare mehr. Vielleicht können wir keine stimmige, runde, abgeschlossene Geschichte von uns mehr erzählen und also keine neue Erzählung schreiben. Wir wissen nur eines: Jeder ist seines Glückes Schmied. Jeder ist seine Ich-AG mit beschränkter Haftung für die entzauberte Gemeinschaft.
Dass in Frankreich gestreikt und demonstriert wird, gehört zum guten französischen Ton. Letztes Jahr war es allerdings die gut ausgebildete Jugend, die auf die Straße ging: Hunderttausende demonstrierten im Februar 2006 im ganzen Land gegen den neuen, von der konservativen Regierung vorgesehenen Arbeitsvertrag für junge Berufeinsteiger. Den größten Zorn löste die vorgesehene 2-jährige Probezeit aus. Das Gesetz wurde schließlich zurückgenommen, aber die Diskussion hielt zunächst an: Über die schlechten Zukunftsperspektiven der Jugend, die chronisch hohe Jugendarbeitslosigkeit, und die wachsende Armut der Jungen, all das eine Folge von unbezahlten Dauerpraktika und Defiziten der Pariser Bildungspolitik. In anderen Ländern Europas sieht es nicht viel besser aus. Obwohl Tony Blair sich für seine letzte Amtszeit eine ehrgeizige Bildungsreform vorgenommen und der Jugend mehr Chancengleichheit versprochen hat, ist das britische Klassensystem bis heute nirgendwo spürbarer als in Schulen und Universitäten. Und in Deutschland ist bereits eine ganze Generation nach ihrem ewig unsteten Praktikantendasein benannt.
In Italien stehen die 20- bis 35-Jährigen vor der gleichen unsicheren Perspektive, nur heißen sie hier anders, nämlich die "1000-Euro-Generation".Teil- und Zeitarbeit, lediglich projektbezogene Kurzzeit-Jobs - die italienische Wirtschaft ist kreativ im Erfinden immer neuer befristeter Arbeitsverträge. Vielen gut ausgebildeten Italienern ist das zu wenig, und so nimmt der so genannte Brain Drain stetig zu: Wer kann, der geht. Wirtschaftliche Zwänge sind allerdings nicht immer der Grund. Manche treibt auch der Wunsch nach Karriere ins Ausland. Brüssel ist in dieser Hinsicht ein dankbares Pflaster - vor allem für angehende Lobbyisten.
Massimo Zaffiro, Praktikant der Auto-Lobby
Konzentriert blättert Massimo Zaffiro durch seine Papiere - eine Studie zum CO2-Verbrauch von Lastwagen in Europa. Immer wieder hält der junge Italiener inne und streicht sich mit einem pinkfarbenen Marker die wichtigsten Stellen an. Seine Augen fliegen über das Papier, er arbeitet schnell, ohne sich ablenken zu lassen.
Seit zwei Monaten ist Massimo Praktikant bei ACEA, dem europäischen Verband der Automobil-Industrie. Er unterstützt seine Kollegen bei der Öffentlichkeitsarbeit, vor allem beim derzeit gefragten Thema CO2-Abgase bei Autos:
"ACEA plädiert für den so genannten integrierten Ansatz. Das heißt, die Autoindustrie übernimmt ihren Teil der Verantwortung, um CO2-Emmissionen zu verringern. Aber das ist eben nicht genug und es wäre zu teuer. Es gibt andere Möglichkeiten und alle anderen Beteiligten müssen auch ihren Teil dazu beitragen. Für mich ist das der richtige Weg. "
Massimo hat eine ernste Miene aufgesetzt, schaut seinem Gesprächspartner direkt in die Augen. Seine Hände liegen ruhig auf seiner Schreibtischplatte. Die Blätter seiner Studie hat er zur Seite gelegt.
Obwohl er selbst sagt, dass er nicht sein Leben lang Lobbyist bleiben und viel lieber für eine der EU-Institutionen arbeiten möchte - Seine Ausführungen klingen schon jetzt wie die der echten Interessensvertreter.
"Ich bin überzeugt von den Botschaften der Auto-Lobby. Die sind glasklar und eindeutig. Natürlich wird uns ein Umwelt-Lobbyist nie zustimmen. Aber wichtig ist, den Menschen unsere Botschaften verständlich zu machen. ACEA macht das gut. Natürlich verteidigt diese Lobby die Interessen der Industrie, aber das versteckt sie auch nicht. Bisher habe ich damit keine Probleme. Ich hätte aber genauso gut für eine Umwelt-Lobby arbeiten können. "
Massimo, 26 Jahre alt aus Latina bei Rom, will vor allem eines: in Brüssel bleiben und einen guten Job finden. Für wen oder was er arbeitet, ist dabei nebensächlich.
"Die Konkurrenz unter uns Praktikanten hier in Brüssel ist schon sehr groß. Deshalb ist es wichtig, dass Du einen guten Lebenslauf vorlegen kannst. Du solltest auch nicht jeden x-beliebigen Job annehmen, sondern ihn wirklich auswählen. Aber das ist natürlich nicht einfach. Du bist jetzt hier und Deine Eltern sagen: Wir haben Dein Studium finanziert, aber jetzt geht das nicht mehr so weiter. Da musst Du eben Kompromisse machen."
Massimo hat schon so einiges hinter sich, eine echte Praktikantenkarriere: Vor ein paar Jahren, mit einem Abschluss in Politikwissenschaften in der Tasche, startete er in der italienischen Vertretung bei der Europäischen Union. Nach einem einjährigen Aufbaustudium am Europa-Kolleg in Natoli in Polen kam er zurück nach Brüssel - diesmal als Praktikant im Europäischen Parlament. Ein echter Aufstieg.
"Mein erstes Praktikum in der italienischen Vertretung war unbezahlt. Danach im Parlament habe ich ein bisschen Geld bekommen, gerade soviel, dass es zum Leben gereicht hat und ich meine Eltern nicht mehr um Unterstützung bitten musste. Das war erst einmal das wichtigste. Und hier bei ACEA verdiene ich nicht schlecht - im Gegensatz zu vielen meiner Freunde, die die gleichen Qualifikationen haben wie ich. "
Wie viel er genau verdient bei der Auto-Lobby, will er nicht verraten. Aber er lebt ganz gut, hat eine kleine Wohnung gemietet und lädt seine Freunde auch mal auf ein Glas Wein ein. An seinem Handgelenk schaut eine protzige Uhr unter dem Hemdsärmel hervor. Nur das eigene Auto, das fehlt noch, sagte er und lächelt. Zuhause in Italien fährt er den Fiat der Eltern, hier in Brüssel muss das Fahrrad reichen.
Bei ACEA hat Massimo ein eigenes Büro mit einem herrlichen Blick über die Dächer von Brüssel. Seine Besucher müssen sich genauso an der Rezeption anmelden wie die für den Generaldirektor. Die Sekretärin führt sie dann in das Büro des Praktikanten.
Papierberge stapeln sich auf dem Schreibtisch. Daneben hat Massimo ein Foto von seinen ehemaligen Parlamentskollegen aufgestellt.
Anpassen, sagt er, müssen sich alle Praktikanten - auch was den Dresscode angeht:
"Im Parlament war es ziemlich locker. Aber natürlich brauchst Du Anzüge, wenn Du wichtige Leute triffst. Das ist schon eine Umstellung nach dem Studium. Und hier bei ACEA, da musst Du natürlich eine Krawatte tragen in den wichtigen Meetings. Aber ich habe damit kein Problem."
Einen Sechs-Monats-Vertrag hat Massimo bei ACEA. Er erstellt vor allem Berichte, hilft bei Recherchen, ununterbrochen rattert der Drucker und spuckt neuen Lesestoff aus. Er ist Teil einer großen Maschine, sagt er selbst. Und er ist froh, hier in Brüssel zu sein.
"All meine Freunde, die mit mir Politikwissenschaften in Italien studiert haben, die echt gute Noten haben und Praktika vorweisen können, sind jetzt arbeitslos oder studieren immer noch, weil sie keinen Job finden. Das ist in Brüssel doch ein bisschen besser. Ich kann hier leben und muss nicht zu Hause bei meinen Eltern wohnen. Ich habe die Chance genutzt, weg zu gehen. Das entspricht meiner Persönlichkeit. Aber wir sollten uns sicherlich nicht als eine Elite sehen, wir sind einfach nur glückliche Praktikanten."
Ganz selbstverständlich ist es für Massimo, dass er zwei Universitätsabschlüsse in der Tasche hat, mehrere Sprachen spricht und im Ausland studiert hat. Er gehört dazu, zur europäischen Crème de la Crème. Der Preis dafür? - eine immer größere Entfremdung zu seinen Leuten zu Hause.
"Für sie ist Brüssel sehr, sehr weit weg. Meine Familie versteht nicht, was ich hier mache. Es ist sehr schwer, ihnen zu erklären, was ACEA ist oder was ich im Parlament gemacht habe, obwohl ich kein Abgeordneter bin. Ich bin nach Brüssel gegangen, dann nach Polen, das verstehen weder meine Freunde noch meine Familie. Natürlich wissen die Leute, die mit mir studiert haben, was ich mache. Aber meine Schulfreunde, die wissen nur, dass es eine Europäische Union gibt und die Kommission, aber mit ihnen über meine Arbeit zu diskutieren, das funktioniert überhaupt nicht."
Kaum ein Brüsseler Praktikant, dem es nicht schwer fällt, Familie und Freunden zuhause in seinem Heimatland zu erklären, was er da eigentlich macht in Brüssel. Arbeit und Privatleben in einen harmonischen Zusammenhang zu bringen, ist für die heutige Generation Praktikum schwierig geworden. Christian Schüle nennt sie in seinem Buch Deutschlandvermessung die Prototypen des nomadischen Menschen:
Unpolitisch sind die ICHlinge keineswegs. Das Politische vollzieht sich für sie in Projekten und Episoden. Das "Projekt" ist eine politisches Anliegen für den begrenzten Moment: Hilfe für Afrika, Kritik an Globalisierung, Ethik für Tiere, Kampf gegen Beschneidung. Das Politische offenbart sich als Ausdruck eines individualisierten Lebens- und Protestgefühls gegen das Schicksal. Die Bedingungen für ein gelingendes Leben zu schaffen - das ist für die ICHlinge politisch. Man dockt hier an, dann dort, dann zieht man weiter. Als multitasker, die in der Gleichzeitigkeit leben und zu gleicher Zeit allerlei Aufgaben bewältigen, existieren die postmodernen Kinder in der Permanentverschiffung ihrer selbst. Sie wechseln den Job oder hüpfen in ein neues Praktikum oder lassen sich auf ein bislang unbekanntes Projekt ein, dessen Ziel nicht absehbar ist. Zeit bleibt nicht. Nichts ist von Dauer. Langfristig wird nicht geplant, weil nichts mehr eine lange Frist hat und der Terminus Länge auf keiner bindenden Übereinkunft mehr basiert. Man richtet sich in Intervallen ein, nicht mehr im Leben. Die ICHlinge sind "Mini-Jobber" im postsozialen Weltstaat. Sie sind standby und allzeit bereit. Sie wissen, dass sie eigenverantwortlich, effizient, treu, flexibel, durchsetzungsfähig, innovativ, mobil und beständig sein sollen; und zugleich kreativ, kinderlieb, stressresistent, daueraktiv, familienfähig.
Aus Erfahrung wird man klug - das gilt nicht nur für Brüsseler Praktikanten, sondern auch für die Europäische Union selbst. Und deswegen hat die Kommission den Spieß sozusagen umgedreht: Seit einigen Monaten schon schickt sie ihre Frauen und Männer vom Schreibtisch in die Praxis. Einige hundert, wie es heißt "hoch motivierte" Beamte sind in aller Herren EU-Länder ausgeströmt, um die Auswirkungen der viel zitierten Eurokratie im Alltag zu testen, und zwar tatsächlich als so genannte Praktikanten. Entsandt hat sie der für Industrie zuständige Kommissar Günter Verheugen. Die Erwartungen an seine Leute sind hoch: Sie sollen ihre sozialen Kompetenzen schulen, ein offenes Ohr haben, und zugleich die Politik der Kommission vor Ort - also im Betrieb - schlüssig und überzeugend verkaufen. Denn noch weiß der Mittelstand, der in ganz Europa bei weitem die meisten Arbeitsplätze stellt, viel zu wenig über die Brüsseler Richtlinien-Politik - und wenn doch, kursiert meist eher Negatives über "die da in Brüssel". Deswegen also hat Günter Verheugen sich das Praktikanten-Programm erdacht: Drei Jahre lang sollen je 50 Beamte während einer einwöchigen Hospitanz Firmenluft schnuppern. Tom Dodd hat den Praxis-Test schon bestanden.
Tom Dodd, EU-Beamter im Praktikum
Der Vorplatz des Brüsseler Hauptbahnhofs. Taxis rasen vorbei. Eine junge Frau mit einem riesigen Rucksack auf dem Rücken hat sich ihr Handy unter die rechte Schulter geklemmt und gestikuliert wild mit den Händen. Die belgischen Lokführer streiken. Gerade ist wieder ein Zug ausgefallen. Es herrscht Ausnahmezustand. Tom Dodd scheint davon unberührt, gelassen schlendert der zierliche 36 Jahre alte Brite durch die Menge. Jeden Morgen kommt er auf dem Weg zur Arbeit hier am Bahnhof vorbei.
Tom Dodd arbeitet für die Europäische Kommission in der Generaldirektion Industrie.
"Ich bin zuständig für die Förderung der sozialen Verantwortung in Unternehmen. Das klingt kompliziert, ist aber eigentlich ganz einfach. Ich versuche, Unternehmen dazu zu bringen, sich mehr für Soziales und Umweltschutz zu engagieren. Zum Beispiel könnte eine kleine Firma mit einer örtlichen Schule kooperieren und den Schülern erklären, wie ihre Arbeit funktioniert. Oder eine Ölfirma kann sich besonders für umweltfreundliche Techniken einsetzen."
Tom Dodd trägt einen hellen Anzug aus leichtem Stoff und ein weiß-blau kariertes Hemd. Eine fast randlose Brille sitzt auf seiner Nase.
Der Brite aus Sheltenham im Süden Englands ist Europäischer Beamter auf Lebenszeit, hat sein Büro, seine Sekretärin, sein Gehalt.
Aber im vergangenen Jahr tauschte er sein bequemes Beamtenleben für eine Woche gegen eine Praktikumsstelle ein - bei einer Software-Firma in Süditalien.
"Ich hatte das Gefühl, völlig unwissend zu sein, ein Außenseiter, der zum ersten Mal irgendwo ankommt und absolut nichts weiß. Ich habe versucht, möglichst alles zu verstehen, aber das ist echt nicht immer einfach."
Hier am Bahnsteig in Brüssel kommen die Erinnerungen an seine Zeit in Italien wieder hoch. Denn die Firma, in der Tom Dodd sein Praktikum absolviert hat, beschäftigt sich eben genau damit, mit Zügen und Schienen. Tom Dodd mit einem Erklärungsversuch:
"Die Schienen müssen ständig kontrolliert werden, ob da Löcher oder Risse drin sind, die die Züge zum Entgleisen bringen könnten. Früher waren dafür offensichtlich unglaublich viele Menschen beschäftigt, die ununterbrochen die Schienen abgelaufen sind und sie kontrolliert haben. Die Firma in Italien hat eine kleine Maschine erfunden, die in einer unglaublich hohen Geschwindigkeit über die Schiene fährt und digitale Bilder von den Schienen macht. Und die werden dann von Fachleuten ausgewertet."
Der Brite lacht und schaut verlegen zu Boden. Noch immer habe er nicht ganz genau verstanden, was die Italiener eigentlich machen und wie die ganze Technik funktioniert.
Die U-Bahn, die Tom Dodd zum Kreisverkehr Schuman bringen soll, dort, wo all die EU-Gebäude stehen, fährt ein. Galant lässt der Brite einer Gruppe von jungen Frauen den Vortritt, bevor er selbst einsteigt und sich lässig an die Wand lehnt.
"Ich glaube, ich weiß jetzt einfach mehr über die Risiken beim Zugfahren - etwas, worüber ich vorher nie nachgedacht habe. Diese Menschen wissen ganz genau, dass sie perfekte Arbeit abliefern müssen. Das hat mich wirklich beeindruckt. Sie dürfen einfach keine Fehler machen. Ich weiß nicht, ob ich jetzt mehr Vertrauen habe, aber zumindest weiß ich jetzt mehr über die Risiken."
Wie automatisch laufen die Bewegungen von Tom Dodd ab: Treppe runter, Fahrkarte abstempeln, Einsteigen, Aussteigen, Treppe wieder rauf. Jeden Morgen ist es derselbe Weg, jeden Tag dieselbe Arbeit mit den immer gleichen Kollegen.
"Für einen Bürokraten wie mich ist es sehr sinnvoll, eine Woche in einem Unternehmen zu verbringen. Ich würde das gerne öfter machen, einmal im Jahr oder alle zwei Jahre - in verschiedenen Firmen in verschiedenen Ländern. Die Gefahr ist zu groß, dass wir uns in dieser Brüssel-Blase einschließen. Das ist nicht gut und das trägt auch nicht dazu bei, dass wir gute Politik für die Bürger machen. Wenn wir uns öffnen und ab und zu eine Woche woanders verbringen, dann bleiben wir in Kontakt mit der Welt da draußen. Das ist unbedingt notwendig."
Auch für die Glaubwürdigkeit bei den EU-Bürgern, meint Tom Dodd. Schließlich müssten sich die EU-Beamten ständig gegen den Vorwurf wehren, sie hätten keine Ahnung von der echten Welt in Europa. Gerade bei ihm zu Hause, in Großbritannien genießt die EU nicht gerade den besten Ruf.
Tom ist trotzdem vor mehr als zehn Jahren nach Brüssel gekommen - damals selbst als Praktikant bei der Europäischen Kommission. Und heute betreut er einen Praktikanten, der ihm bei der Arbeit hilft:
"Praktikanten sind für mich sehr hilfreich. Natürlich kommt es auf ihre Fähigkeiten an. Aber es wäre sehr schwer für die Europäische Kommission, ohne sie zu funktionieren. "
Bevor Tom Dodd sich in seinen Arbeitstag stürzt, kauft er noch schnell ein Thunfisch-Sandwich für die Mittagspause. Nur selten nimmt er sich die Zeit, in der Kantine oder in einem Restaurant zu essen. Meistens muss es schnell gehen, weil zu viel zu tun ist.
"In meiner Praktikumsstadt in Süditalien war das ganz anders. Alle gehen zum Mittagessen nach Hause und für die meisten - gerade für die Jüngeren heißt das - sie gehen zu Mama und Papa nach Hause. Wir Eurokraten haben ja den Ruf, unglaublich lange Mittagspause zu machen. Gleichzeitig denken die Leute, dass Angestellte in kleinen Unternehmen immer durcharbeiten müssen. Klar haben die Leute in der italienischen Firma hart gearbeitet, aber für ihr Mittagessen hatten sie immer Zeit."
Die Europäische Union ist bislang nicht unbedingt durch ihre engagierte Jugendpolitik aufgefallen. Wenn überhaupt, geht sie auf Schüler und Studenten mit Bildungsprogrammen zu - mit Stipendien, Austauschprogrammen und eben mit ihren Praktika. So umfangreich und vielfältig die Angebote auch sind, sie richten sich an eine ganz bestimmte Klientel: Gebildet, mit Abschluss, und meist aus gutem Hause. So genannte bildungsferne Schichten bleiben außen vor - eine Folge der sozialen Auslese, die in den Mitgliedsstaaten und ihren Schulsystemen selbst beginnt. Die deutsche Bundesagentur für Arbeit verzeichnet zwar einen steten Zuwachs von jungen Handwerkern, die im europäischen Ausland arbeiten wollen. Aber äußerst selten verirren Azubis, Haupt- und Realschüler sich nach Brüssel, das Praktikantendasein ist ein Studentenjob. Und genauso wird es eben auch bezahlt. Das Studium haben die Eltern meist finanziert, für den Praxistest aber müssen die Hospitanten selbst aufkommen. Gespart wird deshalb vor allem bei der Unterkunft. Das Institute for Cultural Affairs, kurz ICA, ist da eine begehrte Adresse. Gelegen im beliebten, aber eher einfachen Brüsseler Stadtteil Saint Josse, dient es rund 30 Praktikanten aus aller Herren Länder als Herberge. Die Zimmer selbst seien nur was für "Abgehärtete" war am Schwarzen Brett schon mal zu lesen, aber über mangelnde Nachfrage kann das Haus trotzdem nicht klagen, die Warteliste für die Zimmer ist lang. Das mag auch mit einer klugen Geschäftsidee zu tun haben, die an das alte Prinzip auf Klassenfahrten erinnert: Wer in der Küche beim Schnibbeln und Spülen hilft, muss weniger Miete zahlen.
Das Praktikantenhaus
Francesca zerteilt vier riesige Fladenbrote in gleichgroße, rechteckige Stücke und schiebt sie vorsichtig mit ihrem großen Messer von einem Holzbrett in vier Brotkörbe.
Anna, die Köchin des Hauses, ist an einem anderen Tisch damit beschäftigt, Zucchini in mundgerechte Würfel zu schneiden. Jeden Abend hilft ihr ein anderer Bewohner des International Cultural Institut in Brüssel bei der Abendessenvorbereitung. Im Gegenzug bekommen sie ihre Zimmer billiger - nämlich für genau 475 Euro inklusive Vollpension. Für Francesca ist das gerade so zu schaffen.
"Ich habe überhaupt kein Geld, das ich ausgeben kann. Aber das Leben hier ist trotzdem in Ordnung. Meine Unterkunft wird bezahlt und das Taschengeld kann ich ausgeben. Das sind 160 Euro im Monat. Aber ich muss schon immer mal wieder bei meinen Eltern um Unterstützung bitten."
Francesca, die aus einem kleinen Ort in der Nähe von Venedig kommt, macht gerade ihren europäischen Freiwilligendienst in Brüssel. Sie arbeitet bei einer Jugendorganisation, plant Seminare für die Mitglieder.
Sie bekommt immerhin die Unterkunft bezahlt. Viele ihrer Mitbewohner arbeiten dagegen umsonst.
"Die finden einfach keinen Job und überall wird Erfahrung verlangt. Also machen sie Praktika. Wie soll man denn Erfahrungen sammeln, wenn man keine Stelle bekommt? Deshalb sollten die Praktika hier in Brüssel, bezahlt werden. Ich bekomme wenigstens ein bisschen Geld, aber viele bekommen gar nichts. Das ist wirklich Ausbeutung. "
Francesca könnte noch ewig so weiterschimpfen. Diese Endlosschleife des ewigen Praktikanten-Daseins geht ihr auf die Nerven, sagt sie - genauso wie das Abspülen.
Und trotzdem will sie auf die Erfahrung in Brüssel nicht verzichten. Jeden Tag lernt sie neues dazu.
"Vorher wusste ich eigentlich fast gar nichts über die Europäische Union. Und am Anfang habe ich überhaupt nichts verstanden. In der ersten Woche musste ich erst einmal herausfinden, wer was ist und wer zu welcher Institution gehört. Das war wahnsinnig kompliziert. Aber so langsam bekomme ich mehr Durchblick - vor allem was die Jugendpolitik betrifft. Jetzt weiß ich jedenfalls mehr, als meine Freunde zu Hause."
Ein älterer Herr mit grauen Haaren und kurzen, blauen Shorts schaut neugierig in die Küche. Jim Campbell kennt die Nöte seiner Schützlinge. Der 64 Jahre alte Amerikaner lebt schon seit 1981 in Brüssel und fast genauso lange vermietet seine Organisation rund 35 Zimmer an Praktikanten aus ganz Europa. An der schlechten Bezahlung habe sich in dieser Zeit nichts geändert, aber:
"Bis vor einigen Jahren haben sich die Praktikanten hier ständig beklagt, dass sie nur Kaffee kochen und Fotokopien machen dürfen und sonst nichts zu tun haben. Das habe ich jetzt schon länger nicht mehr gehört. Die Organisationen kümmern sich inzwischen wenigstens um die Praktikanten und sorgen dafür, dass die eine sinnvolle Aufgabe bekommen."
Um kurz vor sieben kommt Leben in die Eingangshalle. Ein Praktikant nach dem anderen kommt zurück aus der Kommission, von Lobbyverbänden oder aus der ebenfalls in Brüssel ansässigen NATO.
"Sie sind sehr - wie soll ich sagen? - ohne Ecken und Kanten. Sie sind keine Hippies oder so. Sie sind sehr ernsthaft und sehr intelligent. Sie sind sich über die europäische und die globale Dimension in unserer Welt sehr bewusst. Sie sind gute Schüler, so zwischen 22 und 26 Jahre alt. Wir hatten nie Drogen- oder Alkoholprobleme hier. Vor allem für die Leute aus Osteuropa ist so ein Praktikum wirklich ein absolutes Großereignis, von dem ihre berufliche Zukunft abhängt. Sie nehmen es also sehr ernst und sie arbeiten sehr hart dafür."
Das gilt auch für Sarah. Sie ist dem Läuten der Essensglocke in den Speiseraum gefolgt und sitzt nun an einem der großen, rechteckigen Tische für acht Personen. Vor ihr dampft eine Schüssel Couscous. Die 28 Jahre alte Deutsche weiß ganz genau, was sie will.
"Ich studiere in Genf Europawissenschaften und da dachte ich mir, es wäre sicherlich sinnvoll, sich mal einen Eindruck zu verschaffen, wie die Europäische Union funktioniert. Ich finde es ganz interessant, bei einer Lobby zu arbeiten, weil man dann sieht, dass viel Papier produziert wird und ich finde, es kommt relativ wenig konkretes dabei raus. Es fehlt mir der praktische Aspekt dabei. Ich kann mir eher vorstellen, bei einer NGO zu arbeiten, die nicht politische Lobbyarbeit macht, sondern eher konkrete Projekte unternimmt."
Sarah hat einen Praktikumsplatz bei der Europäischen Frauenlobby. Wie die meisten am Tisch arbeitet auch sie ohne Bezahlung.
"Das ist auch der Grund, warum ich es nur für sechs Wochen mache, weil ich im Moment einfach nicht das Geld habe, mir so etwas länger zu leisten, was ich sehr schade finde. Sechs Wochen ist eigentlich viel zu kurz, um sich in die Thematik einzuarbeiten und an größeren Projekten mitarbeiten zu können. So bekomme ich einen kurzen Einblick, aber mehr wird da sicherlich nicht sein."
Sarah nimmt sich noch eine Kelle voll Couscous. Immerhin das Essen sei gut, sagt sie und lacht. Und nach dem Dessert geht sie ausnahmsweise gemeinsam mit Francesca und ein paar anderen zu einem Konzert in die Innenstadt. Dem Kartenpreis von je 25 Euro zum Trotz.
Daniel Meijers, der "Anti-Praktikant"
Fleiß ist die eine, Idealismus die andere Eigenschaft - die der Nachwuchs mitbringen muss. Ohne Überzeugungen geht es nicht. Sei es für die EU-Verfassung, die Chemie-Industrie, oder den Umweltschutz. Für den hat sich Daniel Meiers entschieden, Ende 20, aus den Niederlanden. Er entspricht weder äußerlich noch von seiner Einstellung her exakt dem typischen Bild des Brüsseler Praktikanten ...
Der Kreisverkehr am Schuman-Platz - das Herz der Europäischen Union in Brüssel. Rechts ragt das gläserne Berlaymont-Gebäude in die Höhe, der Hauptsitz der Europäischen Kommission, gegenüber liegt das schwere, sandsteinfarbene Ratsgebäude. Und in der Mitte steht, am Rand des breiten Bürgersteigs ein kleines, rotes Zelt, in dem Blumen verkauft werden.
Daniel Meijers bleibt mit dem Vorderreifen seines Fahrrads fast an der Bordsteinkante hängen. Nur mit Mühe schlängelt er sich zwischen dem Blumenhändler und den Passanten durch - bis zu einem Laternenpfahl, an den er sein klappriges, schon leicht rostiges Fahrrad anschließt.
"Ich bin Niederländer und das ist ein echt holländisches Fahrrad. In den Niederlanden fahren alle Fahrrad, nicht nur die Umweltlobbyisten. Aber hier in Brüssel ist das anders. Hier ist es für Fahrradfahrer wirklich gefährlich inmitten der Autoschluchten. Und deshalb gilt es hier schon als politisches Statement, wenn Du Fahrrad fährst. Aber das passt ja auch zu mir,"
sagt der 28-Jährige aus Emmerlord, einem Städtchen in den nördlichen Niederlanden. Er lächelt und packt seinen Fahrradschlüssel in den schmutzigweißen Jute-Beutel, den er sich über die rechte Schulter geworfen hat.
Daniel ist erst vor ein paar Wochen nach Brüssel gezogen. Er hat für ein Jahr einen gut bezahlten Praktikumsvertrag bei der Umweltorganisation Friends of the Earth ergattert. Dort arbeitet er in der Anti-Atomkraft-Kampagne mit.
Auf dem Bürgersteig sind ein paar Jugendliche von Greenpeace unterwegs, einer Schwesterorganisation von Friends of the Earth. Sie bitten bei den vorbeieilenden Passanten Geld um Spenden für ihre Organisation. Daniel geht, ohne sie zu beachten, vorbei.
"Ich fühle mich verantwortlich für alles, was ich mache und ich versuche, alles so gut wie möglich zu machen. Aber ich mag es nicht, anderen meine Meinung aufzuzwingen. Ich kann ihnen zeigen, was die Alternativen sind. Aber ich würde zum Beispiel nie von jemandem Geld für meine Organisation erbetteln. Ich mag es nicht, wenn mir andere Leute sagen, was ich tun soll. Also mache ich das auch nicht."
Stattdessen, sagt er, versuche er, die Menschen und - jetzt in Brüssel - die Europäischen Institutionen mit Argumenten von seiner Sache zu überzeugen. Am Zebrastreifen bleibt er kurz stehen und schaut zum Kommissionsgebäude hoch, das vielen Neuankömmlingen protzig erscheint.
"Es ist schon alles sehr wirtschaftsorientiert. Sogar diese hohen, anonymen Gebäude. Da frage ich mich schon, ob es sich lohnt, sich dafür ins Zeug zu legen. Aber es hat auch keinen Sinn, alles negativ zu sehen. Ich versuche einfach, etwas zu verbessern, die EU ein bisschen grüner zu machen."
Diese Hoffnung will Daniel nicht aufgeben. Deshalb hat er vor zwei Jahren auch für die EU-Verfassung gestimmt, als sie den Niederländern vorgelegt wurde. Überzeugt vom Freihandelskonzept, das darin festgelegt ist, sei er nicht:
"Aber ich hatte das Gefühl, dass unsere Regierung ein "Nein" als eine grundsätzliche Ablehnung gegen Europa verkaufen würde. Das wollte ich nicht. Deshalb habe ich mit "Ja" gestimmt. "
Daniel überquert den Zebrastreifen und stößt in der Mitte des Kreisverkehrs zu einer kleinen Gruppe, die sich dort gebildet hat.
Er nimmt an einer ganz speziellen Führung durch das Brüsseler Europaviertel teil. Eine niederländische Denkfabrik führt Neugierige durch die Brüsseler Lobbywelt - diesmal stehen Klimaschutz und Energie im Mittelpunkt, also genau Daniels Interessensgebiet. Er stellt sich an den Rand, es ist nicht seine Sache, sich in den Vordergrund zu drängen.
"Ich frage mich, ob ich wirklich einer von ihnen bin. Offensichtlich schon. Ich versuche schließlich auch, die Politik zu beeinflussen. Also bin ich ein Lobbyist. Aber eigentlich haben Lobbyisten ja einen schlechten Ruf, und plötzlich soll ich dazu gehören, das ist schon seltsam."
Schon rein äußerlich unterscheidet sich Daniel von den übrigen Praktikanten, mit denen er zusammen steht: Er trägt Turnschuhe, eine grünliche Stoffhose, ein T-Shirt mit buntem Aufdruck und eine leichte Kunststoffjacke mit Regenbogen-Aufnähern.
"Neulich war ich im Parlament bei einer Sitzung, in der es darum ging, ob ein Atomkraftwerk in Bulgarien abgeschaltet werden soll oder nicht. Da habe ich dem bulgarischen Minister eine Frage gestellt und er hat mir eine wirklich dumme Antwort gegeben. Meine Mutter hat gesagt, ich sollte mich anders anziehen, nicht so flippig, sondern ein bisschen eleganter. Meine Kleidung, die passt nicht zu dem offiziellen Dresscode in Brüssel. Mit anderen Klamotten würde man mich vielleicht ernster nehmen, aber ich hätte das Gefühl, mich zu verbiegen. Aber jetzt sehe ich so aus, als würde ich nicht dazu gehören. "
Für die Praktikanten, die sich - ohne Murren - den Brüsseler Regeln unterwerfen, hat Daniel kein gutes Wort übrig:
"Immer nur im Anzug, immer nur in Restaurants essen, davon halte ich gar nichts. Das will ich auch nicht. Ein Freund von mir ist Praktikant in der EU-Kommission und ich weiß, dass er echte Überzeugungen hat. Aber natürlich gibt es auch viele, die einfach nur möglichst schnell möglichst viel Geld verdienen und am liebsten Kommissar werden wollen. Aber da gehöre ich bestimmt nicht dazu."
Die Gruppe bewegt sich langsam und im Pulk vom Schuman-Platz durch den Leopold-Park bis zum Europäischen Parlament. Daniel erkennt die Route der Demonstration gegen US-Präsident Bush wieder, an der er vor zwei Jahren teilgenommen hat. Er habe seine Prinzipien, sagt er und die will er auch für einen guten Job nicht verraten:
"Ich bin vielleicht ein bisschen naiv - ich glaube an das Gute im Menschen. Wenn ich diese Lobbyisten sehe, die zum Beispiel für die Autoindustrie arbeiten, dann kann ich kaum glauben, dass sie so etwas machen, nur wegen des Geldes. Ich verstehe überhaupt nicht, wie die Leute damit umgehen. Sie stellen sich gegen Dinge wie Geschwindigkeitsbegrenzungen auf Autobahnen. Ich könnte das nicht. Das wäre überhaupt nicht gut für mich."
Aufgewachsen in Frieden, Freiheit und Wohlstand. Überzeugt, dass nichts im Leben unmöglich ist. So ist sie, die Generation der 30-Jährigen in Deutschland. Meint Christian Schüle, Jahrgang 1970, in seinem Buch "Deutschlandvermessung". Übersteigerter Individualismus, Beliebigkeit und eine tiefe Entwurzelung diagnostiziert der Autor, und dreht den Spieß um. Keine wirtschaftskritische Beschreibung der viel zitierten Generation Praktikum, sondern die Abrechnung eines Mittdreißigers mit seinen Altersgenossen:
Ich werde von nun an keine Scheu mehr haben, schamlos von mir und über mein geltungssüchtiges ICH zu reden. Schamlosigkeit ist eine meiner Tugenden. Also rede ich ohne Skrupel vor dem Vorwurf anstandsloser Selbstgefälligkeit im ICH, um gleich klarzumachen, dass es ein allgemeines WIR nicht mehr gibt. Die größte Errungenschaft meiner Generation ist die Subjektivität.
Ich bin ein ICHling. Der pluralistisch denkende, demokratisch lebende ICHling ist aufgewachsen in der, wie der Soziologe Ulrich Beck sie nannte, "Risikogesellschaft", ohne dass er sich eines Risikos bewusst war.
Wir sind die ersten, die völlig kriegsschadenfrei aufgewachsen sind oder, so gesagt: die in der Idylle des totalen Friedens lebten. Der erste Weltkrieg stellte eine Zäsur dar, die eine verbindliche Erlebnisgemeinschaft bildete, der Zweite erst recht. So ließe sich gut und gerne eine Ahnengalerie des deutschen Wir-Gefühls entwerfen: das Anti-Frankreich-Wir von 1914, das Lebensraum-Wir von 1939, das Flakhelfer-Wir um 1942, das Wirtschaftswunder-Wir um 1955, das Achtundsechziger-Wir.
Schließlich das ICHlings-Wir.
Brüssel ist begehrt. Selbst chinesische Praktikanten verschlägt es in die belgische Hauptstadt, auch aus den USA kommen sie, und natürlich aus den 27 Mitgliedsstaaten. Allein das Europäische Parlament beschäftigt Jahr für Jahr mehrere hundert Praktikanten - im Durchschnitt kommen auf jeden der 785 Europaparlamentarier zwei junge Gastarbeiter. Wer lieber in den Übersetzungsdienst, die Öffentlichkeitsarbeit oder aber zum Europäischen Rechnungshof möchte, kann sich auch dort bewerben.
Einzige Voraussetzungen sind in der Regel Sprachkenntnisse in mindestens zwei EU-Amtssprachen, eine gesunde Neugier und ein Interesse an Politik. Wer auf ein bezahltes Praktikum hofft, muss ein abgeschlossenes Hochschul-Studium vorweisen. Das können allerdings nur die wenigsten, die weitaus große Mehrheit steckt noch in der Ausbildung, und so bleiben die meisten Praktika unbezahlt, egal ob man sich bei der Tierfutter-Lobby oder beim EU-Parlament bewirbt: Fleißig und billig, das ergibt eine attraktive Mischung. Mancher EU-Abgeordnete lässt bis zu acht junge Leute für sich arbeiten - kostenlos. Niemand in Brüssel kritisiert das indes. Im Gegenteil: Wer nach oben will, beißt sich durch - bis zumindest die erste Etappe erreicht ist:
Ingrid Veltman, Auswahl-Kommission
Der Weg zum Büro von Ingrid Veltman im siebten Stock führt durch endlose Flure, ausgestattet mit flauschigem, beigem Teppich und vorbei an unzähligen rosafarbenen Türen.
Hinter der Tür mit der Aufschrift 7.64 empfängt Ingrid Veltman ihre Besucher mit einem breiten Lächeln. Die resolute Holländerin mit kurzen, rotgefärbten Haaren ist ein Urgestein im Europäischen Parlament - schon seit 1978 arbeitet sie hier, seit knapp einem Jahr als Assistentin des Generaldirektors für auswärtige Beziehungen. Und als solche ist sie auch für die Auswahl der Praktikanten zuständig - keine einfache Aufgabe.
"Was bei mir auf dem Tisch landet, das kann alles sein zwischen 1000 und 1200 Anfragen, je nachdem. Was unsere DG anbelangt, haben wir zurzeit nur Platz für 24. Das ist eben so. Es gibt nicht so viele Plätze."
Die Schuman-Praktika im Europäischen Parlament sind beliebt. Denn sie werden mit immerhin 1000 Euro im Monat recht gut bezahlt. Und es werden immer mehr, sagt Ingrid Veltman. Insgesamt - also für alle Abteilungen - bewerben sich jedes Jahr über 5000 Kandidaten.
Ingrid Veltman wählt gemeinsam mit ihrem Generaldirektor diejenigen 24 aus, die in ihrer Abteilung bleiben dürfen. Die Vorraussetzungen?
"Als erstes ein Studium, das in unsere DG reinpasst, also ein Interesse an auswärtigen Beziehungen oder Entwicklung oder internationalem Handel, an den neuen EU-Mitgliedsstaaten oder Japan, China oder so. Leute, die da ein Spezialinteresse haben. Zum Beispiel Politikwissenschaften mit Spezialisierung Russland, solche Sachen. Natürlich muss es eine Sprache geben, entweder englisch oder französisch. Aber das ist keine Hauptbedingung. "
Ingrid Veltman spricht mit den Praktikanten meistens englisch. Aber sie lässt es sich auch nicht nehmen, ihre Deutschkenntnisse einzusetzen.
Sie zuckt mit den Schultern und zieht einen Ordner aus dem Regal. Hier heftet sie all ihre Praktikanten ab, ordentlich sortiert nach Namen, Herkunftsländern, Jahrgang.
"Die Praktikanten kommen eigentlich von überall. Ich kann mal auf meine Liste schauen. Ich habe jetzt eine Praktikantin aus Serbien und eine aus Aserbeidschan, nein, die kommt nicht, Kirgisien habe ich. "
Die 50 Jahre alte Holländerin ruft Eleonora an, eine Praktikantin aus Spanien. Die muss noch ihren Reiseantrag für die Straßburg-Sitzung in der kommenden Woche ausfüllen.
Ingrid Veltman ist die erste Anlaufstelle für die Praktikanten, fast eine Art Ersatz-Mama. Von ihr bekommen Sie ihren Arbeitsplatz zugeteilt, können Fragen zum Parlament stellen und sie hat auch ein offenes Ohr für ihre Probleme - egal, ob sie die Wohnungssuche oder den letzten Streit mit dem Chef betreffen.
"Es gibt welche, die kommen hier ganz locker her, gemütlich, sportlich gekleidet am ersten Tag. Und dann gibt es welche, die kommen in Anzug und Krawatte oder wenn es ein Mädchen ist ziemlich nett angekleidet. Nicht das übliche, was man von einer Studentin erwartet. Da hatte ich in der letzten Gruppe auch eine von den Ostländern. Das war eine, da glaubte ich, als ich sie das erste Mal gesehen habe, die ist aus einem Modeblatt ausgestiegen. Und da gab es dem gegenüber eine, die war so eine kleine, graue Maus. Da habe ich mich enorm gewundert, dass es diesen Unterschied gab. Die Leute vom Norden sind ziemlich locker, einfach, da gibt es keine prätentiösen Leute. Die Südländer, da hängt es davon ab. Da kann man einen Macho haben oder nicht. "
Eleonora kommt vorbei und füllt ihren Reiseantrag aus. Sie nimmt das Papier mit, es fehlt noch die Unterschrift ihres Vorgesetzten. Das Gespräch dauert keine fünf Minuten. Zeit ist kostbar, die Arbeit wartet. Die Praktikanten im Parlament haben konkrete Aufgaben während ihres fünf Monate langen Aufenthalts. Meistens müssen sie eine bestimmte Untersuchung durchführen, Berichte über Menschenrechtsverletzungen schreiben oder Hintergrundinformationen für die nächste Rede des Generaldirektors sammeln.
Die meisten kommen, weil sie sich im Anschluss einen Job erhoffen.
"Wenn die schon zwei, drei Monate hier im Haus sind, viele Sitzungen miterlebt haben, Kontakte mit den Abgeordneten haben, dann freue ich mich schon, wenn die dann einen Karriereschritt machen können und als Assistent für einen Abgeordneten arbeiten. In der letzten Gruppe habe ich da verschiedene gehabt, die haben das geschafft. Von der vorigen Gruppe ist eine bei einer Bank hier in Brüssel gelandet und es gibt welche, die gehen zurück nach Hause und versuchen da, Arbeit zu bekommen."
Ingrid Veltman stellt den Ordner zurück und fährt fast liebevoll über ein Foto, das an der Wand über ihrem Schreibtisch hängt. Es ist eine finnische Eishockey-Mannschaft. Sie sei ein absoluter Fan, erzählt sie und lacht herzlich. Eishockey-Spieler und Praktikanten, da gäbe es durchaus Parallelen, meint sie.
"Man muss schon wissen, was man will und sich ein bisschen durchsetzen können, aber nicht zu viel. Das mögen viele Leute nicht. Ich habe das in der letzten Gruppe gemerkt. Da gab es zwei ganz nette Leute, aber die hatten geglaubt, jetzt mache ich so (schnipst) und wir schaffen das schon. Nein, leider, das hat nicht funktioniert. Die haben noch eine Woche hier im Gebäude rumgehängt und dann sind sie wieder hinter dem Horizont verschwunden. "
Eleonora kommt zurück - mit dem ausgefüllten Antrag. Sie ist noch ein paar Wochen hier im Parlament, dann wird sie erst einmal zurück in ihr Heimatland gehen. Und genau diese Brücke zwischen Brüssel und den Mitgliedsstaaten sei eigentlich das wichtigste für die Europäischen Institutionen, meint Ingrid Veltman:
"Jemand, der hier ein Praktikum macht, der nimmt auch etwas Positives von der EU mit nach Hause. Man kann das auch sehen als eine Art Diplomatie zu der nächsten Generation."
Für die Generation der über 30-Jährigen in Deutschland gibt es keine Gewissheiten mehr, keine Sicherheiten und kaum mehr familiären Halt - glaubt Christian Schüle. Seine "Deutschlandvermessung" ist eine Auseinandersetzung über die Folgen der grenzenlosen Freiheit:
Definieren wir sauber und nach wissenschaftlichen Standards, so bedeutet Generation eine von der Geschichte in einem bestimmten Abschnitt formierte Kohorte von Trägern gleichen Bewusstseins, die ihre Spuren in Kultur und Politik hinterlassen. Ein handelndes Bewusstseins-Kollektiv also, das zwischen Double-income-no-kids-Mentalität und Double-Kids-no-Income-Realität steckt, zwischen Singlelust und Singlefrust, Geburtenrückgang und Kinderlosigkeit, Yuppietum und Sozialhilfe, Narzissmus und narzisstischer Kränkung. Unsere Identität ist eine gespaltene. Vielleicht haben wir gar keine eindeutig verortbare mehr. Vielleicht können wir keine stimmige, runde, abgeschlossene Geschichte von uns mehr erzählen und also keine neue Erzählung schreiben. Wir wissen nur eines: Jeder ist seines Glückes Schmied. Jeder ist seine Ich-AG mit beschränkter Haftung für die entzauberte Gemeinschaft.
Dass in Frankreich gestreikt und demonstriert wird, gehört zum guten französischen Ton. Letztes Jahr war es allerdings die gut ausgebildete Jugend, die auf die Straße ging: Hunderttausende demonstrierten im Februar 2006 im ganzen Land gegen den neuen, von der konservativen Regierung vorgesehenen Arbeitsvertrag für junge Berufeinsteiger. Den größten Zorn löste die vorgesehene 2-jährige Probezeit aus. Das Gesetz wurde schließlich zurückgenommen, aber die Diskussion hielt zunächst an: Über die schlechten Zukunftsperspektiven der Jugend, die chronisch hohe Jugendarbeitslosigkeit, und die wachsende Armut der Jungen, all das eine Folge von unbezahlten Dauerpraktika und Defiziten der Pariser Bildungspolitik. In anderen Ländern Europas sieht es nicht viel besser aus. Obwohl Tony Blair sich für seine letzte Amtszeit eine ehrgeizige Bildungsreform vorgenommen und der Jugend mehr Chancengleichheit versprochen hat, ist das britische Klassensystem bis heute nirgendwo spürbarer als in Schulen und Universitäten. Und in Deutschland ist bereits eine ganze Generation nach ihrem ewig unsteten Praktikantendasein benannt.
In Italien stehen die 20- bis 35-Jährigen vor der gleichen unsicheren Perspektive, nur heißen sie hier anders, nämlich die "1000-Euro-Generation".Teil- und Zeitarbeit, lediglich projektbezogene Kurzzeit-Jobs - die italienische Wirtschaft ist kreativ im Erfinden immer neuer befristeter Arbeitsverträge. Vielen gut ausgebildeten Italienern ist das zu wenig, und so nimmt der so genannte Brain Drain stetig zu: Wer kann, der geht. Wirtschaftliche Zwänge sind allerdings nicht immer der Grund. Manche treibt auch der Wunsch nach Karriere ins Ausland. Brüssel ist in dieser Hinsicht ein dankbares Pflaster - vor allem für angehende Lobbyisten.
Massimo Zaffiro, Praktikant der Auto-Lobby
Konzentriert blättert Massimo Zaffiro durch seine Papiere - eine Studie zum CO2-Verbrauch von Lastwagen in Europa. Immer wieder hält der junge Italiener inne und streicht sich mit einem pinkfarbenen Marker die wichtigsten Stellen an. Seine Augen fliegen über das Papier, er arbeitet schnell, ohne sich ablenken zu lassen.
Seit zwei Monaten ist Massimo Praktikant bei ACEA, dem europäischen Verband der Automobil-Industrie. Er unterstützt seine Kollegen bei der Öffentlichkeitsarbeit, vor allem beim derzeit gefragten Thema CO2-Abgase bei Autos:
"ACEA plädiert für den so genannten integrierten Ansatz. Das heißt, die Autoindustrie übernimmt ihren Teil der Verantwortung, um CO2-Emmissionen zu verringern. Aber das ist eben nicht genug und es wäre zu teuer. Es gibt andere Möglichkeiten und alle anderen Beteiligten müssen auch ihren Teil dazu beitragen. Für mich ist das der richtige Weg. "
Massimo hat eine ernste Miene aufgesetzt, schaut seinem Gesprächspartner direkt in die Augen. Seine Hände liegen ruhig auf seiner Schreibtischplatte. Die Blätter seiner Studie hat er zur Seite gelegt.
Obwohl er selbst sagt, dass er nicht sein Leben lang Lobbyist bleiben und viel lieber für eine der EU-Institutionen arbeiten möchte - Seine Ausführungen klingen schon jetzt wie die der echten Interessensvertreter.
"Ich bin überzeugt von den Botschaften der Auto-Lobby. Die sind glasklar und eindeutig. Natürlich wird uns ein Umwelt-Lobbyist nie zustimmen. Aber wichtig ist, den Menschen unsere Botschaften verständlich zu machen. ACEA macht das gut. Natürlich verteidigt diese Lobby die Interessen der Industrie, aber das versteckt sie auch nicht. Bisher habe ich damit keine Probleme. Ich hätte aber genauso gut für eine Umwelt-Lobby arbeiten können. "
Massimo, 26 Jahre alt aus Latina bei Rom, will vor allem eines: in Brüssel bleiben und einen guten Job finden. Für wen oder was er arbeitet, ist dabei nebensächlich.
"Die Konkurrenz unter uns Praktikanten hier in Brüssel ist schon sehr groß. Deshalb ist es wichtig, dass Du einen guten Lebenslauf vorlegen kannst. Du solltest auch nicht jeden x-beliebigen Job annehmen, sondern ihn wirklich auswählen. Aber das ist natürlich nicht einfach. Du bist jetzt hier und Deine Eltern sagen: Wir haben Dein Studium finanziert, aber jetzt geht das nicht mehr so weiter. Da musst Du eben Kompromisse machen."
Massimo hat schon so einiges hinter sich, eine echte Praktikantenkarriere: Vor ein paar Jahren, mit einem Abschluss in Politikwissenschaften in der Tasche, startete er in der italienischen Vertretung bei der Europäischen Union. Nach einem einjährigen Aufbaustudium am Europa-Kolleg in Natoli in Polen kam er zurück nach Brüssel - diesmal als Praktikant im Europäischen Parlament. Ein echter Aufstieg.
"Mein erstes Praktikum in der italienischen Vertretung war unbezahlt. Danach im Parlament habe ich ein bisschen Geld bekommen, gerade soviel, dass es zum Leben gereicht hat und ich meine Eltern nicht mehr um Unterstützung bitten musste. Das war erst einmal das wichtigste. Und hier bei ACEA verdiene ich nicht schlecht - im Gegensatz zu vielen meiner Freunde, die die gleichen Qualifikationen haben wie ich. "
Wie viel er genau verdient bei der Auto-Lobby, will er nicht verraten. Aber er lebt ganz gut, hat eine kleine Wohnung gemietet und lädt seine Freunde auch mal auf ein Glas Wein ein. An seinem Handgelenk schaut eine protzige Uhr unter dem Hemdsärmel hervor. Nur das eigene Auto, das fehlt noch, sagte er und lächelt. Zuhause in Italien fährt er den Fiat der Eltern, hier in Brüssel muss das Fahrrad reichen.
Bei ACEA hat Massimo ein eigenes Büro mit einem herrlichen Blick über die Dächer von Brüssel. Seine Besucher müssen sich genauso an der Rezeption anmelden wie die für den Generaldirektor. Die Sekretärin führt sie dann in das Büro des Praktikanten.
Papierberge stapeln sich auf dem Schreibtisch. Daneben hat Massimo ein Foto von seinen ehemaligen Parlamentskollegen aufgestellt.
Anpassen, sagt er, müssen sich alle Praktikanten - auch was den Dresscode angeht:
"Im Parlament war es ziemlich locker. Aber natürlich brauchst Du Anzüge, wenn Du wichtige Leute triffst. Das ist schon eine Umstellung nach dem Studium. Und hier bei ACEA, da musst Du natürlich eine Krawatte tragen in den wichtigen Meetings. Aber ich habe damit kein Problem."
Einen Sechs-Monats-Vertrag hat Massimo bei ACEA. Er erstellt vor allem Berichte, hilft bei Recherchen, ununterbrochen rattert der Drucker und spuckt neuen Lesestoff aus. Er ist Teil einer großen Maschine, sagt er selbst. Und er ist froh, hier in Brüssel zu sein.
"All meine Freunde, die mit mir Politikwissenschaften in Italien studiert haben, die echt gute Noten haben und Praktika vorweisen können, sind jetzt arbeitslos oder studieren immer noch, weil sie keinen Job finden. Das ist in Brüssel doch ein bisschen besser. Ich kann hier leben und muss nicht zu Hause bei meinen Eltern wohnen. Ich habe die Chance genutzt, weg zu gehen. Das entspricht meiner Persönlichkeit. Aber wir sollten uns sicherlich nicht als eine Elite sehen, wir sind einfach nur glückliche Praktikanten."
Ganz selbstverständlich ist es für Massimo, dass er zwei Universitätsabschlüsse in der Tasche hat, mehrere Sprachen spricht und im Ausland studiert hat. Er gehört dazu, zur europäischen Crème de la Crème. Der Preis dafür? - eine immer größere Entfremdung zu seinen Leuten zu Hause.
"Für sie ist Brüssel sehr, sehr weit weg. Meine Familie versteht nicht, was ich hier mache. Es ist sehr schwer, ihnen zu erklären, was ACEA ist oder was ich im Parlament gemacht habe, obwohl ich kein Abgeordneter bin. Ich bin nach Brüssel gegangen, dann nach Polen, das verstehen weder meine Freunde noch meine Familie. Natürlich wissen die Leute, die mit mir studiert haben, was ich mache. Aber meine Schulfreunde, die wissen nur, dass es eine Europäische Union gibt und die Kommission, aber mit ihnen über meine Arbeit zu diskutieren, das funktioniert überhaupt nicht."
Kaum ein Brüsseler Praktikant, dem es nicht schwer fällt, Familie und Freunden zuhause in seinem Heimatland zu erklären, was er da eigentlich macht in Brüssel. Arbeit und Privatleben in einen harmonischen Zusammenhang zu bringen, ist für die heutige Generation Praktikum schwierig geworden. Christian Schüle nennt sie in seinem Buch Deutschlandvermessung die Prototypen des nomadischen Menschen:
Unpolitisch sind die ICHlinge keineswegs. Das Politische vollzieht sich für sie in Projekten und Episoden. Das "Projekt" ist eine politisches Anliegen für den begrenzten Moment: Hilfe für Afrika, Kritik an Globalisierung, Ethik für Tiere, Kampf gegen Beschneidung. Das Politische offenbart sich als Ausdruck eines individualisierten Lebens- und Protestgefühls gegen das Schicksal. Die Bedingungen für ein gelingendes Leben zu schaffen - das ist für die ICHlinge politisch. Man dockt hier an, dann dort, dann zieht man weiter. Als multitasker, die in der Gleichzeitigkeit leben und zu gleicher Zeit allerlei Aufgaben bewältigen, existieren die postmodernen Kinder in der Permanentverschiffung ihrer selbst. Sie wechseln den Job oder hüpfen in ein neues Praktikum oder lassen sich auf ein bislang unbekanntes Projekt ein, dessen Ziel nicht absehbar ist. Zeit bleibt nicht. Nichts ist von Dauer. Langfristig wird nicht geplant, weil nichts mehr eine lange Frist hat und der Terminus Länge auf keiner bindenden Übereinkunft mehr basiert. Man richtet sich in Intervallen ein, nicht mehr im Leben. Die ICHlinge sind "Mini-Jobber" im postsozialen Weltstaat. Sie sind standby und allzeit bereit. Sie wissen, dass sie eigenverantwortlich, effizient, treu, flexibel, durchsetzungsfähig, innovativ, mobil und beständig sein sollen; und zugleich kreativ, kinderlieb, stressresistent, daueraktiv, familienfähig.
Aus Erfahrung wird man klug - das gilt nicht nur für Brüsseler Praktikanten, sondern auch für die Europäische Union selbst. Und deswegen hat die Kommission den Spieß sozusagen umgedreht: Seit einigen Monaten schon schickt sie ihre Frauen und Männer vom Schreibtisch in die Praxis. Einige hundert, wie es heißt "hoch motivierte" Beamte sind in aller Herren EU-Länder ausgeströmt, um die Auswirkungen der viel zitierten Eurokratie im Alltag zu testen, und zwar tatsächlich als so genannte Praktikanten. Entsandt hat sie der für Industrie zuständige Kommissar Günter Verheugen. Die Erwartungen an seine Leute sind hoch: Sie sollen ihre sozialen Kompetenzen schulen, ein offenes Ohr haben, und zugleich die Politik der Kommission vor Ort - also im Betrieb - schlüssig und überzeugend verkaufen. Denn noch weiß der Mittelstand, der in ganz Europa bei weitem die meisten Arbeitsplätze stellt, viel zu wenig über die Brüsseler Richtlinien-Politik - und wenn doch, kursiert meist eher Negatives über "die da in Brüssel". Deswegen also hat Günter Verheugen sich das Praktikanten-Programm erdacht: Drei Jahre lang sollen je 50 Beamte während einer einwöchigen Hospitanz Firmenluft schnuppern. Tom Dodd hat den Praxis-Test schon bestanden.
Tom Dodd, EU-Beamter im Praktikum
Der Vorplatz des Brüsseler Hauptbahnhofs. Taxis rasen vorbei. Eine junge Frau mit einem riesigen Rucksack auf dem Rücken hat sich ihr Handy unter die rechte Schulter geklemmt und gestikuliert wild mit den Händen. Die belgischen Lokführer streiken. Gerade ist wieder ein Zug ausgefallen. Es herrscht Ausnahmezustand. Tom Dodd scheint davon unberührt, gelassen schlendert der zierliche 36 Jahre alte Brite durch die Menge. Jeden Morgen kommt er auf dem Weg zur Arbeit hier am Bahnhof vorbei.
Tom Dodd arbeitet für die Europäische Kommission in der Generaldirektion Industrie.
"Ich bin zuständig für die Förderung der sozialen Verantwortung in Unternehmen. Das klingt kompliziert, ist aber eigentlich ganz einfach. Ich versuche, Unternehmen dazu zu bringen, sich mehr für Soziales und Umweltschutz zu engagieren. Zum Beispiel könnte eine kleine Firma mit einer örtlichen Schule kooperieren und den Schülern erklären, wie ihre Arbeit funktioniert. Oder eine Ölfirma kann sich besonders für umweltfreundliche Techniken einsetzen."
Tom Dodd trägt einen hellen Anzug aus leichtem Stoff und ein weiß-blau kariertes Hemd. Eine fast randlose Brille sitzt auf seiner Nase.
Der Brite aus Sheltenham im Süden Englands ist Europäischer Beamter auf Lebenszeit, hat sein Büro, seine Sekretärin, sein Gehalt.
Aber im vergangenen Jahr tauschte er sein bequemes Beamtenleben für eine Woche gegen eine Praktikumsstelle ein - bei einer Software-Firma in Süditalien.
"Ich hatte das Gefühl, völlig unwissend zu sein, ein Außenseiter, der zum ersten Mal irgendwo ankommt und absolut nichts weiß. Ich habe versucht, möglichst alles zu verstehen, aber das ist echt nicht immer einfach."
Hier am Bahnsteig in Brüssel kommen die Erinnerungen an seine Zeit in Italien wieder hoch. Denn die Firma, in der Tom Dodd sein Praktikum absolviert hat, beschäftigt sich eben genau damit, mit Zügen und Schienen. Tom Dodd mit einem Erklärungsversuch:
"Die Schienen müssen ständig kontrolliert werden, ob da Löcher oder Risse drin sind, die die Züge zum Entgleisen bringen könnten. Früher waren dafür offensichtlich unglaublich viele Menschen beschäftigt, die ununterbrochen die Schienen abgelaufen sind und sie kontrolliert haben. Die Firma in Italien hat eine kleine Maschine erfunden, die in einer unglaublich hohen Geschwindigkeit über die Schiene fährt und digitale Bilder von den Schienen macht. Und die werden dann von Fachleuten ausgewertet."
Der Brite lacht und schaut verlegen zu Boden. Noch immer habe er nicht ganz genau verstanden, was die Italiener eigentlich machen und wie die ganze Technik funktioniert.
Die U-Bahn, die Tom Dodd zum Kreisverkehr Schuman bringen soll, dort, wo all die EU-Gebäude stehen, fährt ein. Galant lässt der Brite einer Gruppe von jungen Frauen den Vortritt, bevor er selbst einsteigt und sich lässig an die Wand lehnt.
"Ich glaube, ich weiß jetzt einfach mehr über die Risiken beim Zugfahren - etwas, worüber ich vorher nie nachgedacht habe. Diese Menschen wissen ganz genau, dass sie perfekte Arbeit abliefern müssen. Das hat mich wirklich beeindruckt. Sie dürfen einfach keine Fehler machen. Ich weiß nicht, ob ich jetzt mehr Vertrauen habe, aber zumindest weiß ich jetzt mehr über die Risiken."
Wie automatisch laufen die Bewegungen von Tom Dodd ab: Treppe runter, Fahrkarte abstempeln, Einsteigen, Aussteigen, Treppe wieder rauf. Jeden Morgen ist es derselbe Weg, jeden Tag dieselbe Arbeit mit den immer gleichen Kollegen.
"Für einen Bürokraten wie mich ist es sehr sinnvoll, eine Woche in einem Unternehmen zu verbringen. Ich würde das gerne öfter machen, einmal im Jahr oder alle zwei Jahre - in verschiedenen Firmen in verschiedenen Ländern. Die Gefahr ist zu groß, dass wir uns in dieser Brüssel-Blase einschließen. Das ist nicht gut und das trägt auch nicht dazu bei, dass wir gute Politik für die Bürger machen. Wenn wir uns öffnen und ab und zu eine Woche woanders verbringen, dann bleiben wir in Kontakt mit der Welt da draußen. Das ist unbedingt notwendig."
Auch für die Glaubwürdigkeit bei den EU-Bürgern, meint Tom Dodd. Schließlich müssten sich die EU-Beamten ständig gegen den Vorwurf wehren, sie hätten keine Ahnung von der echten Welt in Europa. Gerade bei ihm zu Hause, in Großbritannien genießt die EU nicht gerade den besten Ruf.
Tom ist trotzdem vor mehr als zehn Jahren nach Brüssel gekommen - damals selbst als Praktikant bei der Europäischen Kommission. Und heute betreut er einen Praktikanten, der ihm bei der Arbeit hilft:
"Praktikanten sind für mich sehr hilfreich. Natürlich kommt es auf ihre Fähigkeiten an. Aber es wäre sehr schwer für die Europäische Kommission, ohne sie zu funktionieren. "
Bevor Tom Dodd sich in seinen Arbeitstag stürzt, kauft er noch schnell ein Thunfisch-Sandwich für die Mittagspause. Nur selten nimmt er sich die Zeit, in der Kantine oder in einem Restaurant zu essen. Meistens muss es schnell gehen, weil zu viel zu tun ist.
"In meiner Praktikumsstadt in Süditalien war das ganz anders. Alle gehen zum Mittagessen nach Hause und für die meisten - gerade für die Jüngeren heißt das - sie gehen zu Mama und Papa nach Hause. Wir Eurokraten haben ja den Ruf, unglaublich lange Mittagspause zu machen. Gleichzeitig denken die Leute, dass Angestellte in kleinen Unternehmen immer durcharbeiten müssen. Klar haben die Leute in der italienischen Firma hart gearbeitet, aber für ihr Mittagessen hatten sie immer Zeit."
Die Europäische Union ist bislang nicht unbedingt durch ihre engagierte Jugendpolitik aufgefallen. Wenn überhaupt, geht sie auf Schüler und Studenten mit Bildungsprogrammen zu - mit Stipendien, Austauschprogrammen und eben mit ihren Praktika. So umfangreich und vielfältig die Angebote auch sind, sie richten sich an eine ganz bestimmte Klientel: Gebildet, mit Abschluss, und meist aus gutem Hause. So genannte bildungsferne Schichten bleiben außen vor - eine Folge der sozialen Auslese, die in den Mitgliedsstaaten und ihren Schulsystemen selbst beginnt. Die deutsche Bundesagentur für Arbeit verzeichnet zwar einen steten Zuwachs von jungen Handwerkern, die im europäischen Ausland arbeiten wollen. Aber äußerst selten verirren Azubis, Haupt- und Realschüler sich nach Brüssel, das Praktikantendasein ist ein Studentenjob. Und genauso wird es eben auch bezahlt. Das Studium haben die Eltern meist finanziert, für den Praxistest aber müssen die Hospitanten selbst aufkommen. Gespart wird deshalb vor allem bei der Unterkunft. Das Institute for Cultural Affairs, kurz ICA, ist da eine begehrte Adresse. Gelegen im beliebten, aber eher einfachen Brüsseler Stadtteil Saint Josse, dient es rund 30 Praktikanten aus aller Herren Länder als Herberge. Die Zimmer selbst seien nur was für "Abgehärtete" war am Schwarzen Brett schon mal zu lesen, aber über mangelnde Nachfrage kann das Haus trotzdem nicht klagen, die Warteliste für die Zimmer ist lang. Das mag auch mit einer klugen Geschäftsidee zu tun haben, die an das alte Prinzip auf Klassenfahrten erinnert: Wer in der Küche beim Schnibbeln und Spülen hilft, muss weniger Miete zahlen.
Das Praktikantenhaus
Francesca zerteilt vier riesige Fladenbrote in gleichgroße, rechteckige Stücke und schiebt sie vorsichtig mit ihrem großen Messer von einem Holzbrett in vier Brotkörbe.
Anna, die Köchin des Hauses, ist an einem anderen Tisch damit beschäftigt, Zucchini in mundgerechte Würfel zu schneiden. Jeden Abend hilft ihr ein anderer Bewohner des International Cultural Institut in Brüssel bei der Abendessenvorbereitung. Im Gegenzug bekommen sie ihre Zimmer billiger - nämlich für genau 475 Euro inklusive Vollpension. Für Francesca ist das gerade so zu schaffen.
"Ich habe überhaupt kein Geld, das ich ausgeben kann. Aber das Leben hier ist trotzdem in Ordnung. Meine Unterkunft wird bezahlt und das Taschengeld kann ich ausgeben. Das sind 160 Euro im Monat. Aber ich muss schon immer mal wieder bei meinen Eltern um Unterstützung bitten."
Francesca, die aus einem kleinen Ort in der Nähe von Venedig kommt, macht gerade ihren europäischen Freiwilligendienst in Brüssel. Sie arbeitet bei einer Jugendorganisation, plant Seminare für die Mitglieder.
Sie bekommt immerhin die Unterkunft bezahlt. Viele ihrer Mitbewohner arbeiten dagegen umsonst.
"Die finden einfach keinen Job und überall wird Erfahrung verlangt. Also machen sie Praktika. Wie soll man denn Erfahrungen sammeln, wenn man keine Stelle bekommt? Deshalb sollten die Praktika hier in Brüssel, bezahlt werden. Ich bekomme wenigstens ein bisschen Geld, aber viele bekommen gar nichts. Das ist wirklich Ausbeutung. "
Francesca könnte noch ewig so weiterschimpfen. Diese Endlosschleife des ewigen Praktikanten-Daseins geht ihr auf die Nerven, sagt sie - genauso wie das Abspülen.
Und trotzdem will sie auf die Erfahrung in Brüssel nicht verzichten. Jeden Tag lernt sie neues dazu.
"Vorher wusste ich eigentlich fast gar nichts über die Europäische Union. Und am Anfang habe ich überhaupt nichts verstanden. In der ersten Woche musste ich erst einmal herausfinden, wer was ist und wer zu welcher Institution gehört. Das war wahnsinnig kompliziert. Aber so langsam bekomme ich mehr Durchblick - vor allem was die Jugendpolitik betrifft. Jetzt weiß ich jedenfalls mehr, als meine Freunde zu Hause."
Ein älterer Herr mit grauen Haaren und kurzen, blauen Shorts schaut neugierig in die Küche. Jim Campbell kennt die Nöte seiner Schützlinge. Der 64 Jahre alte Amerikaner lebt schon seit 1981 in Brüssel und fast genauso lange vermietet seine Organisation rund 35 Zimmer an Praktikanten aus ganz Europa. An der schlechten Bezahlung habe sich in dieser Zeit nichts geändert, aber:
"Bis vor einigen Jahren haben sich die Praktikanten hier ständig beklagt, dass sie nur Kaffee kochen und Fotokopien machen dürfen und sonst nichts zu tun haben. Das habe ich jetzt schon länger nicht mehr gehört. Die Organisationen kümmern sich inzwischen wenigstens um die Praktikanten und sorgen dafür, dass die eine sinnvolle Aufgabe bekommen."
Um kurz vor sieben kommt Leben in die Eingangshalle. Ein Praktikant nach dem anderen kommt zurück aus der Kommission, von Lobbyverbänden oder aus der ebenfalls in Brüssel ansässigen NATO.
"Sie sind sehr - wie soll ich sagen? - ohne Ecken und Kanten. Sie sind keine Hippies oder so. Sie sind sehr ernsthaft und sehr intelligent. Sie sind sich über die europäische und die globale Dimension in unserer Welt sehr bewusst. Sie sind gute Schüler, so zwischen 22 und 26 Jahre alt. Wir hatten nie Drogen- oder Alkoholprobleme hier. Vor allem für die Leute aus Osteuropa ist so ein Praktikum wirklich ein absolutes Großereignis, von dem ihre berufliche Zukunft abhängt. Sie nehmen es also sehr ernst und sie arbeiten sehr hart dafür."
Das gilt auch für Sarah. Sie ist dem Läuten der Essensglocke in den Speiseraum gefolgt und sitzt nun an einem der großen, rechteckigen Tische für acht Personen. Vor ihr dampft eine Schüssel Couscous. Die 28 Jahre alte Deutsche weiß ganz genau, was sie will.
"Ich studiere in Genf Europawissenschaften und da dachte ich mir, es wäre sicherlich sinnvoll, sich mal einen Eindruck zu verschaffen, wie die Europäische Union funktioniert. Ich finde es ganz interessant, bei einer Lobby zu arbeiten, weil man dann sieht, dass viel Papier produziert wird und ich finde, es kommt relativ wenig konkretes dabei raus. Es fehlt mir der praktische Aspekt dabei. Ich kann mir eher vorstellen, bei einer NGO zu arbeiten, die nicht politische Lobbyarbeit macht, sondern eher konkrete Projekte unternimmt."
Sarah hat einen Praktikumsplatz bei der Europäischen Frauenlobby. Wie die meisten am Tisch arbeitet auch sie ohne Bezahlung.
"Das ist auch der Grund, warum ich es nur für sechs Wochen mache, weil ich im Moment einfach nicht das Geld habe, mir so etwas länger zu leisten, was ich sehr schade finde. Sechs Wochen ist eigentlich viel zu kurz, um sich in die Thematik einzuarbeiten und an größeren Projekten mitarbeiten zu können. So bekomme ich einen kurzen Einblick, aber mehr wird da sicherlich nicht sein."
Sarah nimmt sich noch eine Kelle voll Couscous. Immerhin das Essen sei gut, sagt sie und lacht. Und nach dem Dessert geht sie ausnahmsweise gemeinsam mit Francesca und ein paar anderen zu einem Konzert in die Innenstadt. Dem Kartenpreis von je 25 Euro zum Trotz.