Die Windfenster sind geschlossen. In einer Wandnische steht ein mit glühenden Holzkohlen gefüllter Weihrauchbrenner. Das intensive Parfum der Myrrhe erfüllt den Mafredsch, den Versammlungsraum im obersten Stockwerk. Sana'a. Nordjemen. Katrunde. Die linke Backe der Teilnehmer schwillt langsam an. Katstauen, heißt das.
Jeder hat ein Bündel grüner Zweige vor sich liegen, die so schnell wie möglich in den Mund befördert und als zerkaute grüne Masse in die linke Hamsterbacke geschoben werden müssen. Wasser, womöglich edles, mit Myrrherauch versetztes, das man in langen Zügen trinkt, befördert die Wirkstoffe der Pflanze dann in den Magen. Cathin und Cathinin, wasserlösliche Alkaloide, die eine gleichzeitig betäubende und stimulierende Wirkung haben - wie Koffein oder Kokain.
Die Blätter des Katstrauchs, bzw Katbaumes, müssen frisch genossen werden, sonst verlieren sie ihre Wirkung. Zwischen Ernte und Verbrauch darf höchstens ein Tag liegen. Erst der Ausbau des Straßennetzes im Jemen hat das Kat in den letzten Jahrzehnten zu einer Volksdroge gemacht.
Die Katpflanze, catha edulis, kam wahrscheinlich aus Äthiopien nach Jemen. Vermutlich waren es muslimische Missionare, die sich im abessinischen Hochland mit dem Kat vertraut machten und die Droge als Mittel zur Erleichterung der religiösen Pflichten an ihre Glaubensbrüder im Jemen weitergaben. Katgenuss sei etwas Gott Wohlgefälliges, beschleunige und intensiviere mystische Erlebnisse und steigere die Kontemplation, steht in den Schriften der Gelehrten, die darüberhinaus im Kat eine Möglichkeit sahen, der schädlichen Droge Wein zu entkommen. Aber es gab auch kritische Stimmen, die das Kat in die Nähe der von Mohamed geächteten Rauschmittel rückten und es verbieten wollten.
Ohne Erfolg.
In der Mitte des 17. Jahrhunderts war Kat erlaubt, sein Konsum blieb jedoch lange Zeit einer kleinen Gruppe von religiösen und weltlichen Würdenträgern vorbehalten, die sich das teuere Genußmittel leisten konnten.
Kat war teuer, weil es nur in geringen Mengen kultiviert wurde. Erst als im 19. Jahrhundert der Niedergang des Kaffehandels begann, verbreitete sich der Anbau von Kat, das unter ähnlichen Bedingungen gedeiht, jedoch weniger Pflege braucht. Das größere Angebot ließ die Preise sinken, und der Genuß der Pflanze rückte für breite Bevölkerungsschichten in den Bereich des Möglichen. Die Grundbesitzer und der über den Jemen herrschende Imam konnten durch den verstärkten Katanbau ihre Einnahmeverluste aus dem zurückgehenden Kaffeehandel ausgleichen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war Katkauen in Südarabien zur Sitte geworden.
Tannabuh, Phase der Wachheit - sie geht der sogenannten "salomonischen Stunde " voraus, die den Höhepunkt einer Katsitzung darstellt. Die Weisheit des biblischen Herrschers soll in dieser besonderen Stunde über den Katkauenden kommen und ihn die richtigen Entscheidungen für sein Leben treffen lassen. Aber so weit sind wir noch nicht.
Tannabuh - Wachheit.
Etwa 15-20 Minuten nach dem Stauen der zerkauten Katblätter in der linken Backe werden die Gedanken kristallklar. "Kat kauen. Verstand verdichten ", sagen die Jemeniten. Im Mafredsch, dem großen, an drei Seiten mit Fenstern versehenen Versammlungsraum im fünften Stock meines Hotels wird es laut. Kat macht gesprächig - das gilt sowohl für die jemenitischen als auch die deutschen und englischen Teilnehmer an dieser nachmittäglichen Runde in Sana'a.
Gastgeber Jachia erzählt vom Umbau des traditionellen Wohnhauses in ein Hotel. Er freut sich, daß seine Gäste die Schönheit des Gebäudes und vor allem des Raumes, in dem wir versammelt sind, loben . Durch die halbkreisförmigen Buntglasmosaiken über den Fenstern dringt das Licht der Hochebene nur gedämpft. Hauchdünn geschliffene Alabasterscheiben vor den Mosaiken verstärken noch die Filterwirkung. Die Fenster selbst sind klein und können mit durchbrochenen Holzläden verschlossen werden. Sitzkissen, Armstützen und Teppiche sind die einzigen Einrichtungsgegenstände im Mafredsch. Ich habe mich im vierten Stock, in den Gemächern des früheren Hausherrn, Richter Abu Thalib, eingemietet.
Die Engländer, drei Männer und zwei Frauen, die zum Arabischstudium nach Sana'a gekommen sind, wohnen eine Etage tiefer. Schon gut den Landessitten angepasst, verbringen sie fast jeden Nachmittag im Mafredsch mit Katkauen. Daß auch Frauen an der Runde teilnehmen, ist nur möglich, weil wir Ausländer sind - der Mafredsch ist normalerweise den Männern vorbehalten.
Jemenitische Frauen bleiben auch zum Kat unter sich. Wenn männliche Gäste die steilen Treppen eines meist nur von einer Familie bewohnten traditionellen Hauses hinaufsteigen - ein Bündel frischer Katzweige unter dem Arm geklemmt - müssen sie ihre Präsenz durch lautes Husten oder ein anderes Geräusch kund tun. Als Signal für die Frauen, ihre Gemächer im dritten oder vierten Stock dann nicht zu verlassen.
Der Muezzin ruft zum Nachmittagsgebet. Die Jemeniten in unserer Runde lassen sich dadurch nicht vom Katgenuss abhalten. Jachia spricht mit dem Hotelverwalter Hassan über die Instandsetzung des kleinen Hammams, des Dampfbads im ersten Stock, neben dem innerhalb der Grundmauern angelegten Brunnen. Hakim, der als Übersetzer bei der deutschen Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit in Sana'a arbeitet, ist auf die Dachterrasse gegangen und ruft dem Hausdiener im Hof zu, daß er uns frischen Tee bringen soll. Die Gespräche werden immer angeregter, der Zigarettenkonsum steigt - Nikotin verstärkt die angenehme Wirkung des Kat - und der Tabakqualms der jemenitischen Zigaretten, Marke Kamaran, vermischt sich mit dem Myrrheduft des Weihrauchbrenners. Wir nähern uns der salomonischen Stunde.
In der traditionellen arabischen Medizin werden Kat kalte und trockene Eigenschaften zugeschrieben. Die von Hippokrates übernommene Humoralpathologie beruht auf dem Konzept der Kardinalsäfte Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle , die den vier Elementen Luft, Wasser, Feuer und Erde entsprechen.
Im gesunden Körper sind die Säfte oder Humores in der richtigen Qualität und Quantität gemischt; eine schlechte Zusammensetzung bedeutet eine Veränderung der einzelnen Bestandteile und zieht Krankheiten nach sich. Alle Nahrungsmittel, Pflanzen, Gewürze und Getränke werden in der arabischen Medizin hinsichtlich ihrer Wirkung nach den vier Grundqualitäten heiß-kalt, trocken-feucht bestimmt.
Der Grad der Kälte und Trockenheit ist bei den einzelnen Katsorten unterschiedlich. Das sogenannte männliche Kat - Kat ridjali - wirkt nicht ermüdend und nur leicht berauschend. Wegen seines niedrigen Kälte - und Trockenheitgrades sind seine Nachwirkungen gering und äußern sich in vermindertem Schlafbedürfnis. Vor allem verringert es nicht die Libido und die Potenz, da es nicht zu kalt ist. Deswegen auch der Beiname 'ridjali - männlich '.
"Kat naswani - das berauschende Kat " ist der Oberbegriff für die starkwirkenden Sorten, die dem Körper viel Hitze und Feuchtigkeit entziehen, was zu Kopfschmerzen und Schwindel führen kann. Regelmäßige Katesser schlafen schlecht und haben keinen Appetit. Die arabische Medizin erklärt die schädlichen Folgen des Kat durch eine erhöhte Produktion von schwarzer Galle und Schleim - also zuviel Kälte und Trockenheit im Körper.
Jeder Katsitzung geht ein Mittagessen voraus, das die negativen Auswirkungen der Droge neutralisieren soll. Es ist aus Speisen und Getränken zusammengesetzt, die dem Körper Hitze und Feuchtigkeit zuführen - bint as-sahn, ein Weizenmehlkuchen mit Honig als Vorspeise; dann al-hilba, eine scharf gewürzte Gemüsesoße , die mit Brot und Rettich gegessen wird. Fleisch, soweit es das Familienbudget erlaubt, kommt am Schluss des Hauptganges. Als Nachtisch Weintrauben oder Bananen. Alles Nahrungsmittel, die ihrer Qualität nach "heiß und feucht " sind, also die Eigenschaft haben, Blut und gelbe Galle zu bilden und somit auf die durch "Kälte und Trockenheit " entstehenden Säfte Schleim und schwarze Galle einzuwirken.
Auch ein langer Spaziergang am Vormittag oder der Besuch eines Hammams, eines Dampfbads, sind ausgezeichnete Vorbereitungen auf eine Katsitzung. Die so erworbene "Hitze"soll den Durst fördern und den Kat-Esser in die Lage versetzen viel Wasser absorbieren zu können, was die Wirkung der Droge verstärkt.
Die kleinen Windfenster neben den bunten, halbkreisförmigen Oberlichtern des Mafredsch sind geschlossen. Auch das eine Maßnahme, um die "innere Hitze" der Katkauenden zu bewahren. Dieser Versammlungsraum gehört sicherlich zu den schönsten in Sana'a. Der Blick über die Altstadt und die Hochebene mit ihren Feldern und Gärten beflügelt die Gedanken - man löst sich vom Alltag, die Zeit lockert ihren Zugriff und der Geist wandelt in den Licht - und Luftarchitekturen des Glücklichen Arabiens. Der jemenitische Dichter Abdallah al-Iryani schreibt über Kat :
Es vertreibt den Kummer, der den Jüngling befiel, dem Herz entweichen Schwermut und Gegenstand der Sorge. Es schenkt dir Freuden, Heiterkeit und Erbarmen. Es ist, als ob du hoch im Himmel wohntest.
Abdul der Hausdiener legt glühende Kohlestücke und frisches Myrrheharz in den Weihrauchbrenner. Markus, ein deutscher Ingenieur, der schon lange im Jemen lebt, erklärt den englischen Studenten welcher Händler im Souk solche außergewöhnlichen Stücke verkauft. Ist es das Kat, das meinen Blick klarer macht ? Ich erkenne jetzt erst, daß der Weihrauchbrenner, der einen in Stein gemeißelten kleinen Turm mit Zinnen darstellt, über und über mit sabäischen Inschriften bedeckt ist. Gastgeber Jachia bemerkt meinen Blick und sagt, dass es bestimmt Beduinen waren, die dieses Stück in der Gegend von Marib, der Hauptstadt des antiken Königreiches von Saba gefunden und in Sana'a einem Silberhändler im Souk verkauft hätten.
Vielleicht kommt es aber auch aus dem legendären Ghamdanpalast, der hier, ganz in der Nähe meines Hotels, gestanden haben soll. 20 Stockwerke hoch, die Außenmauern aus roten Porphyr, schwarzem Basalt, weißem Mamor und grünem Sandstein. Die Decke des Versammlungsraumes war aus einem einzigen, so hauchdünn geschliffenen Alabasterstein gearbeitet, daß der König den Flug der Vögel über seinem Palast beobachten konnte. In den Ecken standen Löwenstatuen aus gelbem Kupfer, die innen hohl waren - wenn der Wind in sie hineinbließ, kam er als Löwengebrüll wieder heraus. Und in einer Wandnische, ein Weihrauchbrenner ... Alle Träume sind erlaubt. Wir nähern uns der salomonischen Stunde.
Morgendliche Spaziergänge und Hammambesuch als Vorbereitung auf die Katsitzung können sich nur wenige Jemeniten leisten. Auch die harmonische Atmosphäre eines schönen Mafredsch, in der das Katkauen zu einem Ritual der Begegnung wird, ist für viele nur ein Traum. Die Boutiquen und Ateliers der verschiedenen Souks in der Altstadt schließen gegen Mittag.
Wer es sich leisten kann, isst in einer Garküche das traditionelle Saltagericht - ein Eintopf aus Bocksklee und Fleischsoße - und begibt sich dann in den Katsouk, um seine Tagesration zu erstehen. Viele Jemeniten lassen hier mehr als die Hälfte ihres Monatseinkommens. Zu Beginn des Nachmittags ist es ruhig in der Altstadt. Die Ladeninhaber sitzen in ihren halbgeschlossenen Boutiquen, kauen die Blätter, rauchen und trinken viel Wasser. Wenn das "tannabuh" , die Phase der Wachheit einsetzt, werden die Läden wieder geöffnet. Unter dem Einfluss der Droge geht die Arbeit leichter von der Hand. Kaum ein Mann im Souk, der jetzt keine dicke Backe hat.
Auch die Fahrer der Motorradtaxis, die ihre Kunden durch die engen Altstadtgassen schaukeln, sind vom Kat 'beflügelt '. Man merkt es am Fahrstil! Bei einbrechender Dunkelheit werden die Läden geschlossen, die zerkaute Masse der gestauten Katblätter ausgespuckt und der Mund mit Wasser gespült. Die depressive Phase setzt ein. Dagegen hilft heißer Tee oder Kischr, ein Sud aus Kaffeeschalen. Auch eine gute Flasche aus Djibouti eingeschmuggelten Whiskys tut wahre Wunder, um das Stimmungstief nach dem Katgenuss zu überwinden. Einem orthodoxen Muslim steht dieses Gegenmittel natürlich nicht zur Verfügung.
Nicht alle Jemeniten sind Katanhänger. 1972, zehn Jahre nach der Revolution, die der absoluten Herrschaft des Imams über dem Nordjemen ein Ende setzte, versuchte der damalige Ministerpräsident Muhsin al-Aini in einer großangelegten Aufklärungskampagne, den Gebrauch von Kat einzudämmen. Im Rundfunk wurden Lieder und volkstümliche Gedichte ausgestrahlt, die die Bevölkerung von den negativen Seiten der Droge überzeugen sollten. Die Kampagne scheiterte aber an der Haltung der religiösen Würdenträger und der Scheichs, die aus dem Katanbau ihre Gewinne ziehen.
Als al-Aini den Stämmen, die im Gefüge der jemenitischen Gesellschaft immer noch eine große Rolle spielen, die Streichung der zur Intensivierung des Katanbaus missbrauchten Subsidien androhte, wurde er gestürzt. Muhsin al-Ainis Schrift gegen das Kat verschwand und die Diskussion in den Zeitungen verstummte ebenso schlagartig wie die aufklärenden Anti-Kat Lieder im Radio.
Salomonische Stunde. Höhepunkt der Katsitzung. Im Mafredsch ist es ruhig geworden. Bequem in mein Sitzkissen zurückgelehnt beobachte ich den Flug der Falken über den Terrassendächern von Sana'a. Ich denke an meine Reise in den Südjemen, nach Aden, wo ich im Hause des Dichters und Musikwissenschaftlers Abu Machdi an einer anderen Katsitzung teilgenommen hatte.
Nagib Said Thabit, ein Freund des Hausherrn besingt die Schönheit einer Frau aus dem Geschlecht von 'Qachtan',dem Urvater aller südarabischen Stämme. Seine Enkel und Urenkel waren Saba, Himjar und Hamdan - die Begründer der großen vorislamischen Königreiche Südarabiens. "Du gehörst zu den Nachkommen Qachtans ", singt Nagib Said im Refrain, und obwohl es sich eindeutig um eine Frau handelt, deren Schönheit und edle Herkunft im Lied dargestellt werden, redet sie der Sänger nicht mit dem weiblichen Du - "enti" an, sondern verwendet das männliche "enta".
Verschmitzt lächelnd vergewissert sich Abu Machdi, daß ich das Spiel mit dem Personalpronomen verstehe. Gerne würde ich meinem Gastgeber erklären, wie sehr der grammatikalische Trick im Lied der Situation entspricht, die ich gerade erlebe - aber meine Arabischkenntnisse reichen nicht aus, um zu sagen, dass die unverschleierte Schönheit seiner erwachsenen Töchter, die ich im Hausflur vorbeihuschen sehe, es mir schwer macht, die Rolle des nur an Kat und Konversation interessierten Gastes wahrzunehmen. Also muß ich auf die Benutzung des weiblichen 'Du's' verzichten, das charmante Lächeln der jungen Frauen unerwidert lassen - was mir nur halb gelingt - und mich unter Verwendung des männlichen 'Du's' bei Abu Machdi für das gute Essen, den vorzüglichen Kat und die schöne Musik bedanken. Dass er mein Spiel mit dem Personalpronomen verstanden hat, darüber habe ich keine Zweifel.
Ein freundschaftlicher Rippenstoß bringt mich wieder in die Gegenwart nach Sana'a zurück. Es ist Jachia, der Besitzer des Hotels, der mich darauf aufmerksam macht, daß die meisten Gäste den Mafredsch schon verlassen haben. "Alles in Ordnung ?", fragt er mich mit einem prüfenden Blick. "Alles in Ordnung ! ", sage ich. "Die salomonische Stunde hat mich weggetragen, aber jetzt bin ich wieder hier." "Al-hamdou-lila - gepriesen sei Gott", antwortet Jachia. "Laß uns nach unten gehen und etwas essen, dann fühlst dich wieder besser !"
Jeder hat ein Bündel grüner Zweige vor sich liegen, die so schnell wie möglich in den Mund befördert und als zerkaute grüne Masse in die linke Hamsterbacke geschoben werden müssen. Wasser, womöglich edles, mit Myrrherauch versetztes, das man in langen Zügen trinkt, befördert die Wirkstoffe der Pflanze dann in den Magen. Cathin und Cathinin, wasserlösliche Alkaloide, die eine gleichzeitig betäubende und stimulierende Wirkung haben - wie Koffein oder Kokain.
Die Blätter des Katstrauchs, bzw Katbaumes, müssen frisch genossen werden, sonst verlieren sie ihre Wirkung. Zwischen Ernte und Verbrauch darf höchstens ein Tag liegen. Erst der Ausbau des Straßennetzes im Jemen hat das Kat in den letzten Jahrzehnten zu einer Volksdroge gemacht.
Die Katpflanze, catha edulis, kam wahrscheinlich aus Äthiopien nach Jemen. Vermutlich waren es muslimische Missionare, die sich im abessinischen Hochland mit dem Kat vertraut machten und die Droge als Mittel zur Erleichterung der religiösen Pflichten an ihre Glaubensbrüder im Jemen weitergaben. Katgenuss sei etwas Gott Wohlgefälliges, beschleunige und intensiviere mystische Erlebnisse und steigere die Kontemplation, steht in den Schriften der Gelehrten, die darüberhinaus im Kat eine Möglichkeit sahen, der schädlichen Droge Wein zu entkommen. Aber es gab auch kritische Stimmen, die das Kat in die Nähe der von Mohamed geächteten Rauschmittel rückten und es verbieten wollten.
Ohne Erfolg.
In der Mitte des 17. Jahrhunderts war Kat erlaubt, sein Konsum blieb jedoch lange Zeit einer kleinen Gruppe von religiösen und weltlichen Würdenträgern vorbehalten, die sich das teuere Genußmittel leisten konnten.
Kat war teuer, weil es nur in geringen Mengen kultiviert wurde. Erst als im 19. Jahrhundert der Niedergang des Kaffehandels begann, verbreitete sich der Anbau von Kat, das unter ähnlichen Bedingungen gedeiht, jedoch weniger Pflege braucht. Das größere Angebot ließ die Preise sinken, und der Genuß der Pflanze rückte für breite Bevölkerungsschichten in den Bereich des Möglichen. Die Grundbesitzer und der über den Jemen herrschende Imam konnten durch den verstärkten Katanbau ihre Einnahmeverluste aus dem zurückgehenden Kaffeehandel ausgleichen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war Katkauen in Südarabien zur Sitte geworden.
Tannabuh, Phase der Wachheit - sie geht der sogenannten "salomonischen Stunde " voraus, die den Höhepunkt einer Katsitzung darstellt. Die Weisheit des biblischen Herrschers soll in dieser besonderen Stunde über den Katkauenden kommen und ihn die richtigen Entscheidungen für sein Leben treffen lassen. Aber so weit sind wir noch nicht.
Tannabuh - Wachheit.
Etwa 15-20 Minuten nach dem Stauen der zerkauten Katblätter in der linken Backe werden die Gedanken kristallklar. "Kat kauen. Verstand verdichten ", sagen die Jemeniten. Im Mafredsch, dem großen, an drei Seiten mit Fenstern versehenen Versammlungsraum im fünften Stock meines Hotels wird es laut. Kat macht gesprächig - das gilt sowohl für die jemenitischen als auch die deutschen und englischen Teilnehmer an dieser nachmittäglichen Runde in Sana'a.
Gastgeber Jachia erzählt vom Umbau des traditionellen Wohnhauses in ein Hotel. Er freut sich, daß seine Gäste die Schönheit des Gebäudes und vor allem des Raumes, in dem wir versammelt sind, loben . Durch die halbkreisförmigen Buntglasmosaiken über den Fenstern dringt das Licht der Hochebene nur gedämpft. Hauchdünn geschliffene Alabasterscheiben vor den Mosaiken verstärken noch die Filterwirkung. Die Fenster selbst sind klein und können mit durchbrochenen Holzläden verschlossen werden. Sitzkissen, Armstützen und Teppiche sind die einzigen Einrichtungsgegenstände im Mafredsch. Ich habe mich im vierten Stock, in den Gemächern des früheren Hausherrn, Richter Abu Thalib, eingemietet.
Die Engländer, drei Männer und zwei Frauen, die zum Arabischstudium nach Sana'a gekommen sind, wohnen eine Etage tiefer. Schon gut den Landessitten angepasst, verbringen sie fast jeden Nachmittag im Mafredsch mit Katkauen. Daß auch Frauen an der Runde teilnehmen, ist nur möglich, weil wir Ausländer sind - der Mafredsch ist normalerweise den Männern vorbehalten.
Jemenitische Frauen bleiben auch zum Kat unter sich. Wenn männliche Gäste die steilen Treppen eines meist nur von einer Familie bewohnten traditionellen Hauses hinaufsteigen - ein Bündel frischer Katzweige unter dem Arm geklemmt - müssen sie ihre Präsenz durch lautes Husten oder ein anderes Geräusch kund tun. Als Signal für die Frauen, ihre Gemächer im dritten oder vierten Stock dann nicht zu verlassen.
Der Muezzin ruft zum Nachmittagsgebet. Die Jemeniten in unserer Runde lassen sich dadurch nicht vom Katgenuss abhalten. Jachia spricht mit dem Hotelverwalter Hassan über die Instandsetzung des kleinen Hammams, des Dampfbads im ersten Stock, neben dem innerhalb der Grundmauern angelegten Brunnen. Hakim, der als Übersetzer bei der deutschen Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit in Sana'a arbeitet, ist auf die Dachterrasse gegangen und ruft dem Hausdiener im Hof zu, daß er uns frischen Tee bringen soll. Die Gespräche werden immer angeregter, der Zigarettenkonsum steigt - Nikotin verstärkt die angenehme Wirkung des Kat - und der Tabakqualms der jemenitischen Zigaretten, Marke Kamaran, vermischt sich mit dem Myrrheduft des Weihrauchbrenners. Wir nähern uns der salomonischen Stunde.
In der traditionellen arabischen Medizin werden Kat kalte und trockene Eigenschaften zugeschrieben. Die von Hippokrates übernommene Humoralpathologie beruht auf dem Konzept der Kardinalsäfte Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle , die den vier Elementen Luft, Wasser, Feuer und Erde entsprechen.
Im gesunden Körper sind die Säfte oder Humores in der richtigen Qualität und Quantität gemischt; eine schlechte Zusammensetzung bedeutet eine Veränderung der einzelnen Bestandteile und zieht Krankheiten nach sich. Alle Nahrungsmittel, Pflanzen, Gewürze und Getränke werden in der arabischen Medizin hinsichtlich ihrer Wirkung nach den vier Grundqualitäten heiß-kalt, trocken-feucht bestimmt.
Der Grad der Kälte und Trockenheit ist bei den einzelnen Katsorten unterschiedlich. Das sogenannte männliche Kat - Kat ridjali - wirkt nicht ermüdend und nur leicht berauschend. Wegen seines niedrigen Kälte - und Trockenheitgrades sind seine Nachwirkungen gering und äußern sich in vermindertem Schlafbedürfnis. Vor allem verringert es nicht die Libido und die Potenz, da es nicht zu kalt ist. Deswegen auch der Beiname 'ridjali - männlich '.
"Kat naswani - das berauschende Kat " ist der Oberbegriff für die starkwirkenden Sorten, die dem Körper viel Hitze und Feuchtigkeit entziehen, was zu Kopfschmerzen und Schwindel führen kann. Regelmäßige Katesser schlafen schlecht und haben keinen Appetit. Die arabische Medizin erklärt die schädlichen Folgen des Kat durch eine erhöhte Produktion von schwarzer Galle und Schleim - also zuviel Kälte und Trockenheit im Körper.
Jeder Katsitzung geht ein Mittagessen voraus, das die negativen Auswirkungen der Droge neutralisieren soll. Es ist aus Speisen und Getränken zusammengesetzt, die dem Körper Hitze und Feuchtigkeit zuführen - bint as-sahn, ein Weizenmehlkuchen mit Honig als Vorspeise; dann al-hilba, eine scharf gewürzte Gemüsesoße , die mit Brot und Rettich gegessen wird. Fleisch, soweit es das Familienbudget erlaubt, kommt am Schluss des Hauptganges. Als Nachtisch Weintrauben oder Bananen. Alles Nahrungsmittel, die ihrer Qualität nach "heiß und feucht " sind, also die Eigenschaft haben, Blut und gelbe Galle zu bilden und somit auf die durch "Kälte und Trockenheit " entstehenden Säfte Schleim und schwarze Galle einzuwirken.
Auch ein langer Spaziergang am Vormittag oder der Besuch eines Hammams, eines Dampfbads, sind ausgezeichnete Vorbereitungen auf eine Katsitzung. Die so erworbene "Hitze"soll den Durst fördern und den Kat-Esser in die Lage versetzen viel Wasser absorbieren zu können, was die Wirkung der Droge verstärkt.
Die kleinen Windfenster neben den bunten, halbkreisförmigen Oberlichtern des Mafredsch sind geschlossen. Auch das eine Maßnahme, um die "innere Hitze" der Katkauenden zu bewahren. Dieser Versammlungsraum gehört sicherlich zu den schönsten in Sana'a. Der Blick über die Altstadt und die Hochebene mit ihren Feldern und Gärten beflügelt die Gedanken - man löst sich vom Alltag, die Zeit lockert ihren Zugriff und der Geist wandelt in den Licht - und Luftarchitekturen des Glücklichen Arabiens. Der jemenitische Dichter Abdallah al-Iryani schreibt über Kat :
Es vertreibt den Kummer, der den Jüngling befiel, dem Herz entweichen Schwermut und Gegenstand der Sorge. Es schenkt dir Freuden, Heiterkeit und Erbarmen. Es ist, als ob du hoch im Himmel wohntest.
Abdul der Hausdiener legt glühende Kohlestücke und frisches Myrrheharz in den Weihrauchbrenner. Markus, ein deutscher Ingenieur, der schon lange im Jemen lebt, erklärt den englischen Studenten welcher Händler im Souk solche außergewöhnlichen Stücke verkauft. Ist es das Kat, das meinen Blick klarer macht ? Ich erkenne jetzt erst, daß der Weihrauchbrenner, der einen in Stein gemeißelten kleinen Turm mit Zinnen darstellt, über und über mit sabäischen Inschriften bedeckt ist. Gastgeber Jachia bemerkt meinen Blick und sagt, dass es bestimmt Beduinen waren, die dieses Stück in der Gegend von Marib, der Hauptstadt des antiken Königreiches von Saba gefunden und in Sana'a einem Silberhändler im Souk verkauft hätten.
Vielleicht kommt es aber auch aus dem legendären Ghamdanpalast, der hier, ganz in der Nähe meines Hotels, gestanden haben soll. 20 Stockwerke hoch, die Außenmauern aus roten Porphyr, schwarzem Basalt, weißem Mamor und grünem Sandstein. Die Decke des Versammlungsraumes war aus einem einzigen, so hauchdünn geschliffenen Alabasterstein gearbeitet, daß der König den Flug der Vögel über seinem Palast beobachten konnte. In den Ecken standen Löwenstatuen aus gelbem Kupfer, die innen hohl waren - wenn der Wind in sie hineinbließ, kam er als Löwengebrüll wieder heraus. Und in einer Wandnische, ein Weihrauchbrenner ... Alle Träume sind erlaubt. Wir nähern uns der salomonischen Stunde.
Morgendliche Spaziergänge und Hammambesuch als Vorbereitung auf die Katsitzung können sich nur wenige Jemeniten leisten. Auch die harmonische Atmosphäre eines schönen Mafredsch, in der das Katkauen zu einem Ritual der Begegnung wird, ist für viele nur ein Traum. Die Boutiquen und Ateliers der verschiedenen Souks in der Altstadt schließen gegen Mittag.
Wer es sich leisten kann, isst in einer Garküche das traditionelle Saltagericht - ein Eintopf aus Bocksklee und Fleischsoße - und begibt sich dann in den Katsouk, um seine Tagesration zu erstehen. Viele Jemeniten lassen hier mehr als die Hälfte ihres Monatseinkommens. Zu Beginn des Nachmittags ist es ruhig in der Altstadt. Die Ladeninhaber sitzen in ihren halbgeschlossenen Boutiquen, kauen die Blätter, rauchen und trinken viel Wasser. Wenn das "tannabuh" , die Phase der Wachheit einsetzt, werden die Läden wieder geöffnet. Unter dem Einfluss der Droge geht die Arbeit leichter von der Hand. Kaum ein Mann im Souk, der jetzt keine dicke Backe hat.
Auch die Fahrer der Motorradtaxis, die ihre Kunden durch die engen Altstadtgassen schaukeln, sind vom Kat 'beflügelt '. Man merkt es am Fahrstil! Bei einbrechender Dunkelheit werden die Läden geschlossen, die zerkaute Masse der gestauten Katblätter ausgespuckt und der Mund mit Wasser gespült. Die depressive Phase setzt ein. Dagegen hilft heißer Tee oder Kischr, ein Sud aus Kaffeeschalen. Auch eine gute Flasche aus Djibouti eingeschmuggelten Whiskys tut wahre Wunder, um das Stimmungstief nach dem Katgenuss zu überwinden. Einem orthodoxen Muslim steht dieses Gegenmittel natürlich nicht zur Verfügung.
Nicht alle Jemeniten sind Katanhänger. 1972, zehn Jahre nach der Revolution, die der absoluten Herrschaft des Imams über dem Nordjemen ein Ende setzte, versuchte der damalige Ministerpräsident Muhsin al-Aini in einer großangelegten Aufklärungskampagne, den Gebrauch von Kat einzudämmen. Im Rundfunk wurden Lieder und volkstümliche Gedichte ausgestrahlt, die die Bevölkerung von den negativen Seiten der Droge überzeugen sollten. Die Kampagne scheiterte aber an der Haltung der religiösen Würdenträger und der Scheichs, die aus dem Katanbau ihre Gewinne ziehen.
Als al-Aini den Stämmen, die im Gefüge der jemenitischen Gesellschaft immer noch eine große Rolle spielen, die Streichung der zur Intensivierung des Katanbaus missbrauchten Subsidien androhte, wurde er gestürzt. Muhsin al-Ainis Schrift gegen das Kat verschwand und die Diskussion in den Zeitungen verstummte ebenso schlagartig wie die aufklärenden Anti-Kat Lieder im Radio.
Salomonische Stunde. Höhepunkt der Katsitzung. Im Mafredsch ist es ruhig geworden. Bequem in mein Sitzkissen zurückgelehnt beobachte ich den Flug der Falken über den Terrassendächern von Sana'a. Ich denke an meine Reise in den Südjemen, nach Aden, wo ich im Hause des Dichters und Musikwissenschaftlers Abu Machdi an einer anderen Katsitzung teilgenommen hatte.
Nagib Said Thabit, ein Freund des Hausherrn besingt die Schönheit einer Frau aus dem Geschlecht von 'Qachtan',dem Urvater aller südarabischen Stämme. Seine Enkel und Urenkel waren Saba, Himjar und Hamdan - die Begründer der großen vorislamischen Königreiche Südarabiens. "Du gehörst zu den Nachkommen Qachtans ", singt Nagib Said im Refrain, und obwohl es sich eindeutig um eine Frau handelt, deren Schönheit und edle Herkunft im Lied dargestellt werden, redet sie der Sänger nicht mit dem weiblichen Du - "enti" an, sondern verwendet das männliche "enta".
Verschmitzt lächelnd vergewissert sich Abu Machdi, daß ich das Spiel mit dem Personalpronomen verstehe. Gerne würde ich meinem Gastgeber erklären, wie sehr der grammatikalische Trick im Lied der Situation entspricht, die ich gerade erlebe - aber meine Arabischkenntnisse reichen nicht aus, um zu sagen, dass die unverschleierte Schönheit seiner erwachsenen Töchter, die ich im Hausflur vorbeihuschen sehe, es mir schwer macht, die Rolle des nur an Kat und Konversation interessierten Gastes wahrzunehmen. Also muß ich auf die Benutzung des weiblichen 'Du's' verzichten, das charmante Lächeln der jungen Frauen unerwidert lassen - was mir nur halb gelingt - und mich unter Verwendung des männlichen 'Du's' bei Abu Machdi für das gute Essen, den vorzüglichen Kat und die schöne Musik bedanken. Dass er mein Spiel mit dem Personalpronomen verstanden hat, darüber habe ich keine Zweifel.
Ein freundschaftlicher Rippenstoß bringt mich wieder in die Gegenwart nach Sana'a zurück. Es ist Jachia, der Besitzer des Hotels, der mich darauf aufmerksam macht, daß die meisten Gäste den Mafredsch schon verlassen haben. "Alles in Ordnung ?", fragt er mich mit einem prüfenden Blick. "Alles in Ordnung ! ", sage ich. "Die salomonische Stunde hat mich weggetragen, aber jetzt bin ich wieder hier." "Al-hamdou-lila - gepriesen sei Gott", antwortet Jachia. "Laß uns nach unten gehen und etwas essen, dann fühlst dich wieder besser !"