Der Junge darf sich ein Buch aussuchen, für das er die Patenschaft übernimmt. Er greift zum Roman "Der Schatten des Windes" eines gewissen Julián Carax und wird damit, ohne es zu ahnen, von dem Buch adoptiert, geradezu in Gefangenschaft genommen. Er beginnt, mit Zähigkeit nach dem unbekannten Autor zu forschen. Und ohne dass er es will, folgt er selbst dem Gang der Handlung. Auf den Spuren dieser Fiktion gerät er durch die kommenden zwanzig Jahre seiner eigenen Biographie, fällt die Hintertreppen der Geschichte hinunter und erweist sich als Spielfigur auf dem Stadtplan Barcelonas, der freilich nicht nur mit realen Kulissen, sondern auch mit epischen Straßennamen, fiktiven Buchstabengärten, kennerischen Verweisplätzen und einer Sagrada Familia der Weltliteratur vollgestellt ist. Es ist der Zaubertrick, den wir von Jorge Luis Borges und Umberto Eco kennen: der Leser eines Romans wird gleichsam vom Buch gelesen, das er liest. Intoniert wird mit dieser Technik ein geradezu magischer Glaube an die Suggestionskraft von Literatur. So erzählt Daniel, der jugendliche Ich-Erzähler:
Einmal hörte ich den Stammkunden in der Buchhandlung meines Vaters sagen, wenige Dinge prägten einen Leser so sehr, wie das erste Buch, das sich wirklich einen Weg zu seinem Herzen bahne. Diese ersten Seiten, das Echo dieser Worte, die wir zurückgelassen glauben, begleiten uns ein Leben lang.
Der Roman des Julián Carax im Roman des Carlos Ruiz Zafón stellt einen Jungen auf der Suche nach seinem wirklichen Vater vor; von ihm weiß er nur durch die letzten Worte der Mutter. Und über diese Recherche, die auch eine Suche nach der verlorenen Kindheit ist, legt sich allmählich ein finsterer Schatten, der alles einschwärzt. Aber Bücher sind nach Julián Carax Spiegel:
Man sieht in ihnen nur, was man schon in sich hat.
Und so vollzieht sich an dem jungen Ich-Erzähler Daniel Sempere spiegelbildlich, was Julián erlebt hat. Beide irren sie durch die Zeiten wie durch grell bemalte Schicksalskulissen, zwei Lebenslabyrinthe legen sich übereinander.
Der jugendliche Buch-Pate Daniel Sempere weiß von Julién Carax nichts, aber Rätselhaftes ereignet sich, kaum dass er im Besitz der Schwarte ist: ein Antiquar will ihm das Buch für ein kleines Vermögen abschwatzen, ein Unbekannter mit einer Ledermaske vor dem Gesicht fahndet nach Carax-Büchern, um sie zu verbrennen. Er will die Spuren dieses Schriftstellers löschen und bedroht den Jungen. "Der Schatten des Windes", ursprünglich in Paris erschienen und dann 1935 in Spanien, ist nur noch in diesem einen Exemplar erhalten. Der "Friedhof der vergessenen Bücher" ist ungefähr so beschaffen, wie Umberto Eco die Bibliothek als solche Imaginierte - als ein unendlicher Kosmos der entseelten Schreibexistenzen schweift:
Während ich im Halbdunkel durch Büchertunnel um Büchertunnel schritt, wurde ich unwillkürlich von einem Gefühl der Trauer und Mutlosigkeit befallen. Ich konnte den Gedanken nicht verhindern, dass, wenn ich in der Unendlichkeit dieser Nekropolis rein zufällig in einem einzigen unbekannten Buch ein ganzes Universum entdeckt hatte, Zehntausende weitere unerforscht und für immer vergessen blieben. Ich spürte Millionen verlassener Seiten, herrenloser Welten und Seelen um mich herum, die in einem Ozean der Dunkelheit untergingen, während die außerhalb dieser Mauern pulsierende Welt Tag für Tag mehr die Erinnerung verlor, ohne es zu merken, und sich um so schlauer fühlte, je mehr sie vergaß.
Mit stoischer Akribie, sardonischer Undurchdringlichkeit und kriminalistischer Lust konstruiert Zafón einen Roman wie einen Golem, der sich der großen Oper verpflichtet weiß wie dem Schauerroman, dem politischen Kriminalroman, den Liebespassionen der Zarzuelas und der Ausstattungslust des historischen Sittenbilds. Zafón weiß alle Register zu ziehen, um seiner Leselust und seiner nachschaffenden Bilderleidenschaft zu frönen. Aber auch bei Aufbietung des höchsten Leser-Scharfsinns geht in diesem Kabinett aus Zerr- und Wahrspiegeln, Vervielfältigungen und Umkehrbildern die Übersicht verloren. Niemand darf sich rühmen, auch nur den plot nacherzählen zu können. Alle Figuren ziehen an mehreren Fäden, machen die anderen zu Puppen und werden wiederum von ihnen bewegt. Daniel bekennt seine Ohnmacht als Leser:
Je weiter ich in die Lektüre kam, desto mehr erinnerte mich die Erzählweise an eine der russischen Puppen, die immer weitere und kleinere Abbilder ihrer selbst in sich bergen.
Aber immer dann, wenn sich Ohnmacht einstellen will, die Suggestion umzukippen droht in die Ernüchterung über den Wirrwarr, zieht der Ich-Erzähler wiederum die Karte der einfachen, geradlinigen Geschichte, legt sie für dreißig Seiten dem Leser als Köder hin. Selbstverständlich ist auch sie gezinkt und führt nur tiefer hinein in den "Wald der Fiktionen", wie Umberto Eco einige seiner Vorlesungen über die Wonnen und Tricks der Literatur überschrieb. Versuchen wir erst gar nicht, den Gang der Handlung nachzuerzählen. Nur so viel: Daniel Sempere ist besessen von seiner Recherche nach dem Unbekannten namens Carax. Anfangs erfährt er nur, dass der Gesuchte ein Katalane, Autor unverkäuflicher Bücher und Pianist in einem Pariser Bordell war. Aber Daniel trägt ein Stück nach dem anderen zu einem Puzzle zusammen; fremde Hände schütteln es wieder durcheinander, unbeirrt fügt er die Geschichten wieder aneinander.
Es entsteht das Porträt eines leidenschaftlichen, aber unmöglichen Liebespaars, die Biographie eines Ruhelosen, eines Ahasver, der die schlimmsten Abenteuer besteht. Daniel Sempere ergeht es anders: er selbst zerbricht schier an einer pubertären Liebe, findet eine unabdingbare andere und gerät in den Wahrscheinlichkeitsdschungel der Detektivgeschichte. Zwischen einer Education sentimentale und einem Krimi hält das Buch die Balance. Aber es ist auch aufgeladen mit allem Grusel der gothic novel : um die Villa eines cäsarischen Industriellen Aldaya wabern die Nebel, in ihr birgt eine Krypta ein schreckliches Geheimnis, der Weg führt in die zwittrigen Straßen des Barrio gotico, wo die Rätsel mit Händen zu greifen, aber nicht zu entschlüsseln sind, und in die Lemurenwelt eines Barceloneser Altersheims, das beschrieben ist, als nehme ein sozialkritischer französischer Realist des 19. Jahrhunderts das Wort:
Ein morsches Holztor führte auf einen Innenhof, bewacht von Gaslampen, die ihr Licht auf Wasserspeier und steinerne Engel mit ausgewaschenen Gesichtszügen warfen. Eine breite Treppe führte zum ersten Stock hinauf, wo ein helles Rechteck den Haupteingang des Altenheims markierte. Das Gaslicht tönte den herausströmenden Giftnebel ockerfarben. Eine kantige Raubvogelsilhouette beobachtete uns im Türbogen. Im Halbdunkel konnte man ihren scharfen Blick erkennen, von derselben Farbe wie das Ordensgewand. Sie hielt einen dampfenden, unbeschreiblich stinkenden Holzeimer in der Hand. (...) Ohne einen Mucks von sich zu geben, folgten wir ihr durch einen höhlenartigen Korridor, dessen Geruch mich an einen U-Bahn-Schacht erinnerte. Zu beiden Seiten öffneten sich hinter türlosen Rahmen von Kerzen erleuchtete Säle, an deren Wänden Betten aufgereiht waren, über denen sich Moskitonetze wie Leichentücher bewegten. Man hörte Wehklagen und erkannte zwischen dem Vorhanggewebe einzelne Gestalten.
'Hier entlang', sagte Schwester Hortensia, die ein paar Meter vorausging.
(...) Auf den ersten Blick hatte ich im Halbdunkel das Gefühl, ich sähe eine Sammlung von Wachsfiguren, die mit glasig-toten, im Kerzenlicht wie Messingmünzen glänzenden Augen in den Ecken saßen oder dort liegengelassen worden waren. Ich dachte, vielleicht handle es sich um Puppen oder Überbleibsel aus dem alten Museum. Dann stellte ich fest, dass sie sich bewegten, wenn auch sehr langsam und behutsam. Sie hatten kein bestimmtes Alter oder Geschlecht und waren in aschfarbene Lumpen gehüllt.
Zum Personal dieses Schauerromans gehört auch ein glühender Anhänger Francos: der Inspektor und Folterknecht Fumero. Er ist einst von den Anarchisten zu den Kommunisten und dann, als es geboten schien, zu den Frankisten übergewechselt. Er ist ein Finsterling, der seine Geheimpolizisten ausschickt, um Daniel zu überwachen und einzuschüchtern, vor allem jedoch den leidenschaftlichen Republikaner und Oppositionellen Fermín zu verfolgen. Der ist die lebens- und witzsprühende Gestalt in Zafóns Roman. Er hängt, in Bettlerlumpen, an Barcelonas Plaza Real herum und wird wegen seiner lockeren Sprüche von Daniel mitgenommen, um fortan als Antiquar und als Begleiter des Helden zu dienen.
Zafón konstruiert seine Tableaus wie ein hochbewusster Bühnenarchitekt, der die Arbeit der Altvorderen und seiner Kollegen bestens kennt. Eduardo Mendozas Romane sind nahe, Hitchcock wurde von Zafón gesprächsweise selbst ins Spiel gebracht, Mantel- und Degenstücke eines Alexandre Dumas werden parodiert, und sogar der Lazarillo de Tormes fällt einem ein, das Inbild des picarischen Schelms, wenn der republikanische Fährtensucher Fermín auf den Plan tritt. Vor allem anderen ist dieser Bilderbogen aus anderen Romanen auch eine Leseertrag aus dem berühmtesten Kolportageroman, den es gibt: der "Geheimnisse von Paris" von Eugene Sue, 1842/43 erschienen. Hier wie dort eine Handlung, die vor allem dazu dient, Figuren anzulagern, ähnliche, auf Kürze und Tempo angelegte Spannungsbögen, die parodistisch eingesetzten Herzschmerzattacken, die Verwirrungswogen der Handlung - das alles mag Zafón animiert haben.
Nicht jeder mag sich den 527 Seiten dieses souverän gemeisterten Schmökers ergeben. Wer sich nach der Hälfte seitwärts in die Büsche schlägt, will den Minotaurus eben nicht im Labyrinth des Unterhaltungsromans suchen. Daraus erklärt sich mancher deutscher Rezensentenunmut, der sich auf dieses raffiniert gebaute Monster wirft.
Merkwürdig, dass Sue gleich zwei zeitgenössische spanische Schriftsteller angeregt hat: auch Jorge Semprún hat mit dem Ausschweifungsroman "Algarabia oder Die neuen Geheimnisse von Paris" ein Zeitbild der Gewalttätigkeit und des Terreurs vorgelegt. Zafón nutzt die Kolportage für einen Roman, in dem die ganze Gesellschaft in diversen Zeitebenen abgebildet werden soll. Vielleicht geht dieses Vorhaben nur noch im Muster des Trivialromans, das erfüllt und parodiert, erneuert und durchbrochen wird. Eine Berufungsinstanz in Zafóns Roman ist der Sue-Leser Victor Hugo mit seinem in der ganzen Welt spielenden Mammutwerk Les Misérables von 1869. Die Fäden der Handlung verknüpfen eine Sozietät, die in ihren Schichten und Klassen einander unbekannt ist, zu einer Totale. Victor Hugos Feder geistert als Reliquie durch den Roman.
Zafón zeichnet die verschiedenen Gesichter Spaniens, die unterschiedlichen Zeiten angehören. Porträtiert wird der großbürgerliche Feudalismus mit seinen herrischen Übergrößen, die Epoche, die am 18. Juli, dem Beginn des Spanischen Bürgerkriegs, in Barcelona endgültig unterging. Verkörpert ist sie in jenem Reaktionär und Kunstmäzen Eusebio Güell, der Antonio Gaudí, den katalanischen Meister-Architekten und Designer einer ganzen Epoche, finanziert hat. Aldaya im Roman hat manche Züge von diesem Großmogul. Dann die lähmenden Franco-Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, in denen die öffentliche Macht in Gestalt des Inspektors Fumero mit seinen geheimen Schergen aus dem Dunkel heraus agiert:
Wir hatten noch keine zehn Schritte in Richtung der lauten Schenke ein paar Häuser weiter unten getan, als sich drei geisterhafte Gestalten aus dem Schatten lösten und auf uns zukamen. Zwei von ihnen postierten sich hinter uns, so nahe, dass ich ihren Atem im Nacken spüren konnte. Der dritte, kleiner, aber unendlich viel unheimlicher, verstellte uns den Weg. Er trug den gleichen Mantel, und sein öliges Grinsen schien ihm vor Vergnügen aus den Mundwinkeln zu quellen.
'Na, da schau her, wen haben wir denn da? Das ist doch mein alter Freund, der Mann mit den tausend Gesichtern', sagte Inspektor Fumero.
(...) Der erste Faustschlag genügte, um den schmächtigen Fermín zu Boden zu werfen. Er lag noch zusammengestaucht in der Pfütze, als Fumero ihm Fußtritte in Magen, Nieren und Gesicht zu verpassen begann. Vom fünften an zählte ich nicht mehr weiter. Fermín ging die Luft aus, und einen Augenblick später konnte er keinen Finger mehr rühren, um sich vor den Schlägen zu schützen. (...) Ich schaute zu, wie Inspektor Fumero untrer dem Licht einer Straßenlampe Fermín mit Fußtritten fertigmachte. Die ganze Zeit über brachte ich den Mund nicht auf. Ich erinnerte mich an das dunmpfe Geräusch, mit dem die Schläge erbarmungslos auf meinen Freund prasselten. Sie tun mir noch heute weh. Ich konnte nicht anders, als mich, zitternd und feige Tränen vergießend, in den willkommenen Griff der Polizisten zu flüchten.
Als Fumero es satt hatte, ein totes Gewicht zu malträtieren, knöpfte er den Mantel auf, öffnete den Hosenschlitz und urinierte auf Fermín. Mein Freund rührte sich nicht; er war bloß noch ein Bündel alter Kleider in einer Lache. Während Fumero seinen satten, dampfenden Strahl auf ihn abgab, brachte ich noch immer kein Wort heraus.
Aufklärung der Handlung und ein breitwandiges Happyend gehen in diesem Roman mit dem Ende der Franco-Ära konform. Diese verschiedenen spanischen Physiognomien legt Zafón auf den Masterplan Barcelonas und wir können die europäische Lieblingskapitale in diesem Roman fast so real erwandern, als läge ihm ein Reiseführer zugrunde.
Dieser mit leichter Hand oft in die hermetische Wirrnis hineingeführte Lesekoloß ist wegen seiner artistischen Trivialitäten, seinem hedonistischen Glauben an die Bücher, seiner Leseverführungskunst vielleicht ein Erbe jenes modernismo , der Barcelona zu seiner Hauptstadt erwählt hat. Ein Stil, der im Gegensatz zum europäischen Jugendstil auf nichts verzichtete, was an Elementen aus der Vergangenheit verwendbar erschien, einem kombinatorischen Spiel frönend, hinter der gefälligen Fassade ein Sturm von Gefühlen, die den Kitsch nicht scheuen, einer bizarren Heiterkeit wie einem Fieber verpflichtet. Die Fama behauptet, Zafón schreibe an einem Buch über Gaudí, den Heros des modernismo , der katalanischen Sonderart Jugendstils. Da kann man vermuten: es wird auch eine Art Selbstbeschreibung. Wie anders könnte sich Carlos Ruiz Zafón anders darstellen, als dass über ihm und seinem triumphalen Schmöker Der Schatten des Windes wie über Gaudí die Wogen des allerschönsten Irrsinns zusammenschlagen?