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Katastrophe im Erbgut

Jedes Jahr erhalten 450.000 Menschen in Deutschland die Diagnose "Krebs". Für die Behandlung gibt es seit Jahrzehnten drei wichtige Methoden: Operation, Strahlentherapie und Chemotherapie. Alle drei verfolgen das Ziel, möglichst alle Krebszellen im Körper zu entfernen oder zu zerstören. Die Forschung konzentriert sich seit vielen Jahren auf die Entwicklung von Medikamenten, die weniger Nebenwirkungen verursachen, weil sie Krebszellen gezielt an ihren Schwachstellen angreifen.

Von Michael Lange und Martin Winkelheide | 29.05.2011
    "Eines Tages habe ich fest gestellt, dass auf der linken Seite der Bauch hart war und ich ihn nicht mehr eindrücken konnte. Und dann bin ich zum Arzt gegangen. Mein Name ist Patrick Bauer. Ich bin 41 Jahre alt und von Beruf bin ich Krankenhausseelsorger. Die Ärztin war sehr erschrocken über die Größe meiner Milz, die man sonst ja nicht tasten kann, und sagte direkt: Ich muss mal meinen Kollegen holen. Und der Kollege, der dann kam, sagte: Ohwei, das ist was Ernstes. Am nächsten Morgen: Blut abgenommen. Zwei Tage später: Uniklinik."

    Jedes Jahr erhalten 450.000 Menschen in Deutschland die Diagnose "Krebs". Über 200.000 Menschen sterben an Krebs. Für die Behandlung gibt es seit Jahrzehnten drei wichtige Methoden: Operation, Strahlentherapie und Chemotherapie. Alle drei verfolgen das Ziel, möglichst alle Krebszellen im Körper zu entfernen oder zu zerstören.

    "Wenn man bestimmte Tumoren mit Chemotherapie behandelt, dann gibt es da tolle Erfolge."

    Michael Hallek ist Direktor des "Centrums für Integrierte Onkologie Köln/Bonn".

    "Also, der Hodgkin oder der Hodenkrebs, die können sich ganz toll behandeln und heilen lassen damit. Aber viele, da passiert überhaupt nichts oder zu wenig."

    Die Chemotherapie greift nicht nur Krebszellen an, sondern alle Zellen, die sich schnell teilen. Daher hat sie auch viele unerwünschte Wirkungen wie Haarausfall, Darmbeschwerden, Übelkeit. Die Forschung konzentriert sich seit vielen Jahren auf die Entwicklung von Medikamenten, die weniger Nebenwirkungen verursachen, weil sie Krebszellen gezielt an ihren Schwachstellen angreifen. Hallek:

    "Man versteht molekularbiologisch, wie Krebs entsteht und hat daraus jetzt Medikamente entwickelt, die ersten Medikamente, die gezielter wirken, und die können jetzt nicht mehr nur für alles eingesetzt werden, sondern da muss man schon genauer hinschauen, und das ist personalisiert."

    Es geht darum, zu verstehen, was eine Krebszelle von einer normalen Körperzelle unterscheidet. Die Antwort suchen Forscher im Zellkern, im Erbgut der Tumorzellen.

    "Und dann die entscheidenden Veränderungen herausfiltern. Das allerdings hat gerade erst begonnen. Wir haben es ja nicht nur mit einem Faktor zu tun, sondern, wenn Krebs entsteht, sind es in der Regel fünf solche Veränderungen, als Minimum. Wir schätzen sogar zwölf im Durchschnitt. Es gilt jetzt, die alle zu erkennen und dann Therapien maßzuschneidern."

    Die ersten solchen maßgeschneiderten Medikamente existieren bereits. In den 90er-Jahren wurde ein Wirkstoff mit Namen "Imatinib" entwickelt. Er wird seit 2001 unter dem Handelsnamen "Glivec" zur Behandlung von Blutkrebsformen mit einer typischen genetischen Veränderung eingesetzt. Michael Hallek behandelt mit Imatinib insbesondere Patienten mit einer Chronischen Myeloischen Leukämie.

    "Die Idee ist jetzt, dass man unterschiedliche solcher Moleküle einsetzt, um daraus hoch aktive Kombinationsbehandlungen zu machen, mit dem Ziel, die Krebserkrankung damit zu kontrollieren. Und die sind alle entwickelt, basierend auf einem molekularen Verständnis des Krebses selbst. Beim individuellen Patienten."

    Die Vision: Eine maßgeschneiderte Therapie für jeden einzelnen Patienten. Abhängig von den jeweils typischen Veränderungen im Erbgut seiner Krebszellen. Hallek:

    "Ich schätze einmal, wir haben in ein paar Jahren 100 Medikamente als Baukasten, und für jeden Patienten werden wir daraus vier, fünf Steinchen entnehmen und die Therapie damit zusammen basteln."

    Patrick Bauer: "Ich saß beim Arzt, und der Arzt hat mir sehr deutlich gesagt: Es kann etwas Schlimmes sein. Also Schlimmes im Sinne von lebensbedrohlich. Das war am Mittwoch vor Fronleichnam. Und dann Fronleichnam abends um halb elf, mein Telefon, und mein Hausarzt hat mich angerufen, und gesagt: Er musste mir das jetzt einfach direkt sagen. Er war gerade noch in der Praxis, weil ihm das keine Ruhe gelassen hat, und hat es mir dann am Telefon erklärt. Und er hat dann mir gesagt: So, hinsetzen! Ich sage Ihnen jetzt, was Sie haben. Sie haben Leukämie. Das ist natürlich erst einmal ein Schock. Ich habe damit nicht gerechnet, überhaupt nicht gerechtet. Ja, und das muss man dann erst mal verdauen."

    Institut für Pathologie der Universitätsklinik Köln.

    "Wenn der Chirurg im Rahmen einer OP eine schnelle diagnostische Aussage benötigt, hat er die Möglichkeit eine Probe mit Eilboten hierher zu schicken."

    Im so genannten Schnellschnittraum des Instituts nimmt der Pathologe Lukas Heukamp die Probe an. Er muss untersuchen, ob das Gewebe gutartig oder bösartig ist.

    "Und dann wird das Gewebe tiefgefroren und dann geschnitten und gefärbt. Eine solche Färbung dauert ungefähr fünf Minuten, und ermöglicht es, eine Diagnose innerhalb von zehn Minuten zurück in den OP melden zu können."

    Die Proben dienen auch der Forschung. Lukas Heukamp betreut die Biobank des "Centrums für Integrierte Onkologie Köln/Bonn".

    "Gleichzeitig können wir aus dem Tumor, den Sie hier sehen, der relativ groß ist, ein kleines Stück herausnehmen, da die Patientin, der Entnahme eingewilligt hat, und für die Biobank einfrieren. Wir nehmen jetzt hier ein Würfelchen mit einer Kantenlänge von etwa vier Millimetern ungefähr erbsengroß. Und wir nehmen auch ein Stück des dazu gehörenden angrenzenden Normalgewebes."

    Jede Probe enthält Tumorzellen und – zum Vergleich - gesunde Zellen.

    "Wir haben hier diese kleinen Plastikröhrchen, die ungefähr zwei Milliliter Fassungsvermögen haben, da kommt diese Probe hinein. Dieses Röhrchen geben wir jetzt in den flüssigen Stickstoff. Einmal am Tag geht dann jemand hin, sammelt die Proben aus dem Flüssig-Stickstoff-Behälter heraus, und sortiert diese Proben unten im Tiefkeller in die Biobank ein."

    Die Proben mit den Krebszellen lagern in flüssigem Stickstoff bei minus 183 Grad Celsius. Lukas Heukamp öffnet einen der Tanks. Weißer Dampf quillt heraus.

    "Diese Tanks fassen jeder 24.000 Proben Und wie Sie hier sehen können, sind die Proben in diesen Kästen einsortiert, in denen jeweils 100 Proben gelagert werden können."

    Patrick Bauer: "Ich wusste nicht, in welchem Zimmer ich bin, auf welchem Stock ich bin, wie die Ärzte hießen, die mich behandelten, obwohl die sich alle mit Namen vorgestellt haben. So Geschichten wie: Habe ich eigentlich einen Schlafanzug dabei, habe ich Waschzeug dabei im Krankenhaus, spielten für mich überhaupt keine Rolle. Kann ich Fernsehen gucken? Das war kurz vor der WM. Kann ich die Fußballspiele gucken? Im Moment völlig unwichtig, sondern es war wirklich nur der Gedanke daran: So, das hat dir jetzt jemand vor die Füße geworfen, so, das ist jetzt dein Schicksal, wie gehst du damit um? Vieles war weit weg. Der Blick war sehr fokussiert einerseits auf das eine und doch sehr weit in Gedanken, was alles passieren kann. Aber alles drum herum war plötzlich nicht mehr wichtig."

    Großbritannien. In der Nähe der Universitätsstadt Cambridge. Ein moderner Forschungs-Campus auf der grünen Wiese. Hier hat der Wellcome Trust Europas größtes Genom-Zentrum aufgebaut, das Sanger Institute. Es hat bereits bei der ersten Entzifferung des menschlichen Genoms in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts eine Schlüsselrolle gespielt. Jetzt konzentrieren sich die Forscher am Institut auf die Erbgut-Analyse von Krebszellen.

    "My name is Peter Campbell, I am a group leader at the Wellcome Trust Sanger Institute and the Cancer Genome project."

    Peter Campbell leitet eine Arbeitsgruppe am Sanger Institute. Sie ist Teil des Krebs-Genom-Projektes. Dieses internationale Forschungsprojekt hat das Ziel, systematisch die Erbinformation einzelner Krebszellen vollständig zu erfassen.

    "Eine Krebszelle teilt sich unkontrolliert. Normalerweise steht die Zellteilung unter strenger Kontrolle. Unsere Zellen bilden nur dann Tochterzellen, wenn der Körper sie braucht. Bei Krebs entstehen zu viele Zellen, sie bilden die typische Krebs-Geschwulst."

    Verantwortlich für das unkontrollierte Wachstum sind zufällige Veränderungen im Erbgut der Zellen, so genannte Mutationen. Campbell:

    "Diese Mutationen finden andauernd statt, überall im Körper. Die meisten richten keinen Schaden an, oder sie führen zum sofortigen Tod der Zelle. Aber manchmal findet eine Mutation in einem bestimmten Bereich des Erbguts statt. In Genen, die wichtig sind für die Zellteilung. Sie bringen die Zelle dazu, sich schneller zu teilen. Das, so glauben wir, ist die treibende Kraft bei der Krebsentstehung."

    Es gibt bestimmte Krebs auslösende Mutationen an bekannten Stellen im Erbgut. Bislang schaute man sich diese Stellen gezielt an. Denn daraus ließen sich Hinweise ableiten, wie der Krebs entstanden ist, wie aggressiv er ist und wie er sich behandeln lässt. Durch diese Methodik findet man aber nur Veränderungen, die man kennt und nach denen man gezielt suchen kann. Viele andere Mutationen bleiben unentdeckt. Es sei denn, man schaut sich das gesamte Erbgut einer Krebszelle an. Das ist erst in den letzten Jahren möglich geworden. Denn man braucht modernste Technik, um das Erbgut innerhalb weniger Tage vollständig zu entziffern. Am Sanger Institute haben die Forscher bereits einige Dutzend Genome sequenziert – und dabei auch Überraschungen erlebt, sagt Peter Campbell.

    "Aus dem großen Tumor entnehmen wir Zellen. Aus deren Zellkernen gewinnen wir die Erbmoleküle, die DNA. Wir sequenzieren die Erbmoleküle von allen 46 Chromosomen. So können wir sämtliche genetische Veränderungen entdecken. Wir haben gesehen: Die meisten Chromosomen waren völlig normal. Unverändert. Aber ein, zwei oder drei Chromosomen sahen manchmal furchtbar aus. Hier lagen viele Mutationen dicht beieinander. Das ist nicht anders zu erklären, als dadurch, dass es ein einziges großes katastrophales Ereignis gegeben haben muss."

    Es scheint also verschiedene Wege zu geben, wie aus einer normalen Körperzelle eine bösartige Krebszelle werden kann.

    "Wir sind bislang davon ausgegangen, dass Mutationen nach und nach entstehen – immer eine nach der anderen, über eine lange Zeit hinweg. Aber jetzt haben wir entdeckt: Viele Krebsarten können durch plötzliche, schnelle genetische Veränderungen entstehen. Manchmal ist es so, dass eine große Zahl von Mutationen auf einmal entsteht – in einer einzigen genetischen Katastrophe. Meist, wenn so etwas passiert, stirbt die Zelle. Aber manchmal gelingt es der Zelle, diese Katastrophe zu überleben. Dann beschleunigt die große Zahl der genetischen Schäden die Umwandlung dieser Körperzelle in eine Krebszelle."

    Der wichtigste Raum im Sanger Institute ist der Sequenzierraum. Der Weg dorthin führt durch lange Gänge, vorbei an Büros und Laboren. Ohne blauen Laborkittel darf niemand ins Allerheiligste.

    "So we are walking in the Sanger´s instrument room. This is where all of our large sequencing instruments are kept."

    Harold Swerdlow ist Chef der Abteilung für Sequenziertechnik am Sanger Institute. Er ist der Herr über 40 Sequenzierautomaten. Zwanzig davon gehören zur neuesten Generation. Die anderen sind älter, sagt er. So zwei bis drei Jahre alt.

    "This here is about a meter by a meter by a meter and it is in black and white, kind of modern look, it has LEDs around the front which shows whether it is running or not running."

    Die modernen Automaten messen einen Kubikmeter. Sie sind kaum größer als ein Kühlschrank. Im Innern befindet teuerste Technik auf engstem Raum: kleine Kameras, Laser, Filter in verschiedenen Farben und modernste Computerchips. Außen zeigen einzig kleine LED-Leuchten an, ob der Automat arbeitet. Zur Entzifferung des ersten menschlichen Genoms - im Rahmen des Human Genom Projektes – schlossen sich viele Forschungsinstitute weltweit zusammen. Es dauerte beinahe zehn Jahre und kostete Milliarden. Heute kostet es nur noch etwa 20.000 Euro, das Genom einer Krebszelle zu sequenzieren. Die modernen Apparate schaffen es in einer Woche, alle 3,2 Milliarden Bausteine der DNA zu entziffern.

    "You can sequence an entire human genome on a single chip. So at any time we can sequence two genomes on these instruments."

    Ein vollständiges Genom kann auf einem einzigen Chip gelesen werden, erzählt Harold Swerdlow. Und da das Gerät zwei Chips besitzt, kann es parallel zwei Genome in einer Woche sequenzieren. Vollautomatisch.

    "Currently the instruments are really not diagnostic instruments."

    Die Automaten, sagt Harold Swerdlow, später in seinem Büro, sind nicht geeignet für den medizinischen Alltag. Noch sind sie reine Forschungsinstrumente.

    "They are very much research scale instruments. The whole process is research tool. It is not something you can do in a doctor´s office."

    Nichts, was ein Arzt heutzutage in seiner Praxis einsetzen könnte.

    Patrick Bauer: "Ich war noch keine fünf Minuten auf dem Zimmer, da kam der erste Arzt und dem folgte im Abstand von fünf Minuten die zweite Ärztin und plötzlich stand ein dritter Arzt da und eine Schwester. Und dann ging alles ganz schnell. Jeder wollte unbedingt meine Milz tasten. Das war wohl etwas völlig Phantastisches, mal so eine große Milz zu tasten. Die war so groß, dass sie nicht mehr auf den Monitor vom Ultraschall passte. Da war auch die Gefahr, dass die Milz zu reißen drohte. deshalb durfte ich auch nur noch liegen. Abends kam dann eine junge Ärztin herein, setzte sich hin, guckte mich an, lächelte und sagte: 'Herr Bauer ich bin so froh, Ihnen das erzählen zu dürfen.' Mir schossen direkt Tränen in die Augen und sagte: 'Heißt das etwa, ich werde nicht sterben.' Und da sagte sie: 'Nein, Sie werden nicht sterben.'"

    Viele Krebsgene wurden schon in den 70er- und 80er-Jahren entdeckt. Damals war es unvorstellbar, ganze Genome von Anfang bis Ende zu sequenzieren. Das änderte sich in den 90er-Jahren. 2001 war das erste menschliche Genom entziffert, wenn auch das Genom eines Modellmenschen. Zusammengesetzt aus dem Erbgut mehrerer Personen. Die großen Sequenzierzentren in den USA, in Großbritannien und China suchten dann nach neuen Möglichkeiten, ihre teuren Apparate sinnvoll einzusetzen. Sie sequenzierten Maus, Ratte, Hund, Schimpanse, Gorilla und zahlreiche Pflanzenarten wie Reis, und Weizen. Andere Projekte wollten die menschliche Vielfalt erfassen und verglichen das Erbgut von Menschen aus Asien, Afrika und Europa. Die Projekte lieferten wissenschaftlich interessante Ergebnisse – der praktische Nutzwert allerdings blieb eher gering. 2005 forderte der Nobelpreisträger Harold Varmus ein weltweites Krebs Genom Projekt. Darin sollte das Erbgut vieler verschiedener Tumorproben vollständig erfasst werden. Wenig später ging es los. Michael Stratton, Direktor des Sanger Institutes, ist heute einer der Leiter des internationalen Krebs Genom Konsortiums.

    "Das Konsortium will in der ersten Phase des Projektes mindestens 25.000 menschliche Tumoren sequenzieren. Und vergessen Sie nicht: Wenn Sie ein Krebs-Genom sequenzieren, dann brauchen Sie zum Vergleich immer auch das Erbgut einer gesunden Zelle derselben Person. Das macht 50.000 Genome. Es ist das bei weitem größte Sequenzierungsprojekt der Welt. Wir untersuchen 50 verschiedene Krebsarten und -unterarten. Und für jede Krebsart analysieren wir Tumor-Proben von jeweils 500 Patienten."

    Früher wurden Tumoren danach eingeteilt, in welchem Organ sie entstanden waren: Bauchspeicheldrüsenkrebs, Darmkrebs, Brustkrebs, Lungenkrebs, Hodenkrebs. Das Krebsgenomprojekt hat schon gezeigt, dass es verschiedene Gruppen von zum Beispiel Bauchspeicheldrüsenkrebs gibt. Mit jeweils typischen genetischen Veränderungen. Wenn viele Genome bekannt sind, hat das Bedeutung für die Beschreibung und die Behandlung von Tumoren. Stratton:

    "Wenn wir das geschafft haben, haben wir einen ziemlich guten Überblick über die wichtigsten Krebsgene. So schaffen wir die Grundlange für eine neue Klassifizierung und ein neues Verständnis der Biologie von Krebs."

    Immer mehr Forschungszentren in aller Welt konzentrieren sich heute auf die Sequenzierung von Krebszellen.

    "Es sind schon ein paar Hundert Krebs-Genome sequenziert worden. Und wir sind dabei, die Daten zu analysieren. Das ist anstrengend und wirklich eine Herausforderung. Denn es handelt sich um riesige Datenmengen, die sehr komplex sind. Wir stoßen dabei auf Probleme, mit denen sich bislang noch niemand beschäftigt hat. Das heißt, während wir voranschreiten, entwickeln wir erst die passenden Strategien und Analyse-Methoden."

    Für die Analyse der Genomdaten gibt es am Sanger Institute eine eigene Halle.

    "I am Phil Butcher. I am the head of IT. The head of information technology at the Wellcome Trust Sanger Institute"

    Phil Butcher ist der Chef der Abteilung Informationstechnologie.

    "We are responsible for running all of the computers and all of the storage that you see here in the data center."

    Er ist für den Betrieb des Rechenzentrums zuständig. In zwei Meter hohen Regalen: Rechnerkern an Rechnerkern. 13.000 insgesamt. Und Festplatte an Festplatte. Mit einer Speicherkapazität von insgesamt zwölf Petabytes.

    "It is several hundred normal computers. You can see upon racks here."

    Das entspricht der Speicherkapazität von mehreren Hundert PCs.

    "It has grown over the years and it is continuing to grow over the next five years. The check is to keep it cool enough. Air condition as well as the fans in the machines to keep it cooling these CPUs."

    Das Rechenzentrum ist mit den Jahren enorm gewachsen, erzählt Phil Butcher. Und es wird weiter wachsen. Die Herausforderung besteht darin, die Rechner zu kühlen.

    "Certainly the computer and IT technology is running behind the technology of producing sequence data."

    Was Phil Butcher Kopfschmerzen bereitet: Die Computertechnik kann kaum noch mit den Fortschritten der Sequenziertechnik Schritt halten. Die Folge: Die Computer brauchen immer mehr Platz. Und die Computerhalle ist schon fast voll. Ziel der Genomentzifferung ist die bessere Klassifizierung von Tumoren. Außerdem wollen die Forscher neue Angriffspunkte für gezielt wirkende Medikamente finden. Vorbild ist der Wirkstoff Imatinib – also das Medikament Glivec. Ursache für den Blutkrebs vom Typ der Chronischen Myeloischen Leukämie ist ein Fehler im Erbgut. Zwei Chromosomen brechen und fügen sich neu zusammen. Die Folge: Ein verändertes Gen entsteht. Michael Stratton:

    "Das Medikament schaltet das so genannte Abl-Gen aus. Die vereinfachte Vorstellung: Ist das Gen ausgeschaltet, verschwindet der Krebs. Und in diesem speziellen Fall funktioniert das auch erstaunlich gut. Bei vielen Patienten verschwindet der Krebs tatsächlich. Und bei einem großen Teil der Patienten bleibt das auch so."

    Patrick Bauer: "Dann hat sie mir halt erzählt, welche Form der Leukämie ich habe, dass ich diese Chronische Myeloische Leukämie habe, dass es ein Medikament dagegen gibt, und dann hat sie mir erst einmal erzählt, wie es weiter geht mit den Medikamenten. Ich habe zuerst Letalir bekommen. Das Medikament, das erst einmal die Krebszellen zerstören soll. Also quasi die Chemotherapie auf Tablettenbasis, weil sie erstmal diese unglaublich hohe Anzahl von Krebs-, Leukämiezellen, zerstören wollten. Seitdem nehme ich das Imatinib. Einmal täglich. Jeden Tag eine Tablette für 110 Euro. Ja. Lebenslang, damit ich auf der sicheren Seite bin."

    Michael Stratton: "Wenn Sie mit den Patienten sprechen, dann erfahren Sie, wie glücklich sie mit Glivec sind. Das Medikament hat relativ wenige Nebenwirkungen. Und früher hatten diese Patienten kaum eine Überlebenschance. Und heute haben die sehr gute Aussichten."

    Patrick Bauer: "Erstens ist es so, dass dieses Medikament auf den Magen schlägt. Seit ich dieses Medikament nehme, bekomme ich bei einem Gummibärchen schon Sodbrennen. Das wird aber gemindert durch Säure hemmende Medikamente. Die andere Nebenwirkung, die ist etwas unangenehmer, ist, dass einem schlecht wird, teilweise recht heftig. Ich habe für mich jetzt heraus gefunden. Das beste ist: Abends drei, vier Stunden nach dem Abendessen, kurz vor dem Schlafengehen, wenn ich möglichst müde schon bin, direkt die Tablette nehmen, hinlegen, und wenn ich dann innerhalb einer halben Stunde einschlafe, kriege ich die Übelkeit nicht mit, weil ich dann schlafe."

    Michael Stratton: "Wir wussten schon immer, Tumoren sind hinterhältige Ungeheuer. Sie versuchen immer zurückzuschlagen."

    Auch eine gezielte Therapie, weiß Michael Stratton, ist keine Garantie dafür, dass eine Tumorerkrankung für immer unter Kontrolle ist. Das lässt sich an der Chronischen Myeloischen Leukämie zeigen. Stratton:

    "Auch hier sehen wir die Fähigkeit eines Tumors, zurückzuschlagen. Bei manchen Patienten kommt es vor, dass es einige resistente Zellen gibt, bei denen Imatinib nicht wirkt. Es reicht, wenn eine oder zwei Zellen eine bestimmte Mutation tragen. Dann kommt der Tumor zurück und wächst. Bei so einem Tumor hilft das Medikament nicht mehr. Er ist resistent."

    Aus der Behandlung von Infektionskrankheiten haben die Mediziner gelernt: Es gibt zwei Wege, um mit dem Resistenzproblem fertig zu werden. Entweder müssen die Medikamente so verändert werden, dass sie auch bei Resistenz wirken. Oder es werden von vornherein mehrere, unterschiedlich wirkende Stoffe eingesetzt, um einer Resistenz vorzubeugen. Stratton:

    "Ohne Zweifel liegt die Zukunft in Kombinationstherapien. Sie werden nach und nach die Überlebenschancen der Krebspatienten erhöhen. Dank dieser maßgeschneiderten Therapien."

    Stratton geht davon aus, dass Mediziner in den nächsten 10 oder 20 Jahren ein Baukastensystem entwickeln werden, mit vielen verschiedenen Wirkstoffen. Damit sie für jeden Patienten die beste Kombination zusammen stellen können, müssen sie genetischen Besonderheiten der Krebszellen kennen.

    "Meiner Meinung nach wird es in 20 Jahren das Einfachste sein, bei jedem Patienten nur einen einzigen Labortest durchzuführen. Nicht viele einzelne Gentests sondern ein vollständig entziffertes Krebs-Genom."

    Anfangs waren Pharmafirmen skeptisch, ob sich das Konzept einer persönlichen, maßgeschneiderten Krebstherapie für sie rechnet.

    "Die Pharmafirmen sahen keinen Sinn darin, für seltene Tumorformen Medikamente zu entwickeln. Denn herkömmliche Chemotherapie-Medikamente gibt man nur ein paar Wochen lang. Aber Pharmafirmen haben gemerkt: Es lohnt sich, für seltene Tumoren, Wirkstoffe zu entwickeln. Sie rechnen sich, weil die Patienten sie lebenslang einnehmen müssen."

    Patrick Bauer: "Der Dank zu empfinden, in dieser Gesellschaft zu leben, dass ich versichert bin, und eine Versicherung es möglich macht, dass ich jeden Monat für 3000 Euro, über 3000 Euro Medikamente nehmen kann und kein schlechtes Gewissen zu haben brauche, sondern dass das gut ist, und trotzdem daran zu denken, dass es Menschen in anderen Ländern gibt, die wahrscheinlich die gleiche Krankheit haben und die an dieser Krankheit sterben werden, weil dieses Medikament dort nicht bezahlt werden kann. Wenn ich irgendwann mit 80 – wie ein Arzt mir mal prophezeit hat – der sagte: 'Sie werden wahrscheinlich mit dieser Krankheit im hohen Alter sterben und nicht an dieser Krankheit.' Das wäre der größte Wunsch, das zu erleben, und natürlich auch irgendwann doch Enkelkinder zu erleben, das sind so die größten Wünsche, die ich noch habe. Ansonsten ist da nicht viel."