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Kein Heraus

Nur noch wenige Palästinenser dürfen den Gazastreifen verlassen und ausländische Journalisten haben kaum Zugang. Die Judaistin Bettina Marx berichtet vom Überleben und den Demütigungen, die mit der Besatzung einhergehen.

Von Rupert Neudeck |
    Der Vorteil dieses Buches besteht darin, dass es nur beschreibt. Bettina Marx erzählt aus der Fülle eines engagierten Reporterlebens, was den Palästinensern geschieht, die im Gazastreifen überleben. Wenn sie dort unterwegs war, brauchte sie immer jemanden, der sie als Fahrer und Reiseleiter und Übersetzer begleitete, das war der Taxifahrer Raed. Er hat Bettina Marx erzählt, wie die israelische Armee bei ihrem Einmarsch vor zwei Jahren das Haus seiner Familie dem Erdboden gleichmacht hat. Raed sagt es wörtlich:
    "Das, was ich gesehen habe, hat mich wirklich verändert. Vorher war ich dagegen, dass Zivilisten getötet werden. Egal, ob Juden oder Muslime, ich war dagegen. Inzwischen sehe ich das anders: Wenn ich sehe, dass ein vierjähriges Kind getötet wird, dass Frauen getötet werden, dann hasse ich sie und dann wünsche ich mir, dass auch Zivilisten leiden. Mein zehnjähriger Sohn will ein Shahid werden, ein Märtyrer."

    Bettina Marx gibt einen Einblick in die Geschichte dieses winzigen "Küstenstreifens": Sie schlägt einen Bogen von der ersten Intifada Ende der 80er-Jahre, über den Friedensvertrag von Oslo 1993, der zweiten Intifada im Jahr 2000 bis heute. Sie beschreibt in einem eigenen Kapitel den von Ariel Scharon durchgezogenen Rückzug der israelischen Siedler von Gaza. Sie gibt ein Sozialporträt der verlorenen Generationen von Gaza, macht den Leser mit den Rudermädchen von Shati bekannt, die nur noch das "Trockenrudern" exerzieren können.

    Ein weiteres Kapitel gilt dem Wahlsieg und der Machtergreifung der Hamas im Oktober 2006. Sie beschreibt die radikal-islamische Organisation und wie sich ihr Bild für die Palästinenser zwischen großkotziger Arroganz und einer emsiger Sozialarbeit wandelt. Das Schlusskapitel widmet sie ihrem eigenen Beruf, den sie in Israel und Palästina nicht immer ganz frei ausüben konnte.

    Die Autorin ist Judaistin, sie kennt sich aus in allen Fragen der Geschichte des jüdischen Volkes und der jüdischen Kultur. Sie ist nie zögerlich und ängstlich, sie beschreibt die Skandale, wie sie sind und wo sie sind: Ob das auf palästinensischer Seite die Korruption und Reichtumsgier der jeweiligen Elite ist, die Verantwortungslosigkeit der Hamas gegenüber der eigenen Bevölkerung oder aufseiten israelischer Politik, die seit Ben Gurion niemals auch nur versucht hat, die Gesellschaft der Palästinenser als Nachbarvolk zu akzeptieren

    Bettina Marx zitiert die israelischen Zeugen, die vor der Demütigung warnen, die mit der Besatzung einhergeht. Die völlig unzulässige Zerstörung von Wohnhäusern zum Beispiel, als Sippenhaftung für die ganze Familie eines Attentäters, die in der Regierungszeit des früheren Ministerpräsidenten Scharon unentwegt betrieben wurde.

    Bettina Marx erzählt in diesem Zusammenhang die Geschichte der US-Bürgerin Rachel Corrie. Rachel Corrie kam nach Gaza im Auftrag einer 2001 gegründeten jungen US-Solidaritätsmission. Zwei Jahre später ging sie nach Israel, um notleidenden Palästinensern zu helfen. Bettina Marx zitiert aus dem E-Mail-Wechsel mit der Mutter.
    "Nichts hätte mich auf die Realität hier vorbereiten können, weder Bücher noch Konferenzen noch Dokumentarfilme. Man kann es sich nicht vorstellen, wenn man es nicht selbst gesehen hat."

    Rachel Corrie wollte in Palästina eigentlich Gandhi folgen und seiner Politik des friedlichen Widerstands. Ihrer Mutter schrieb sie:

    "Wenn einer von uns zusehen müsste, wie man sein Leben und seinen Wohlstand zerstört, wenn wir mit unseren Kindern auf einem immer kleiner werdenden Raum leben müssten und wüssten, dass jeden Moment Soldaten mit Panzern und Bulldozern kommen und unsere Gewächshäuser zerstören können, wenn sie uns schlagen und mit 150 Leuten für mehrere Stunden einpferchen würden, glaubst Du nicht, dass wir dann zu gewalttätigen Mitteln greifen würden, um das zu schützen, was noch übrig ist?."

    Am 16. März 2003 wollte Rachel Corrie zwei israelische Bulldozer aufhalten, die in Rafah Häuser zerstören. Als einer der Bulldozer auf das Haus eines Apothekers zufuhr, kniet sich Corrie - mit ihrer leuchtend orangefarbenen Jacke weithin sichtbar - vor ihn auf den Boden, der Bulldozer fuhr weiter. Sie stieg auf den Erdwall, der begann zu wanken, sie rutschte herunter, doch der Bulldozer hielt nicht an. Sie starb gleich danach an Schädel- und Wirbelsäulenbrüchen.

    Das Bedrückende macht das Buch über die 300 Seiten sensibel deutlich: Das entscheidende Faktum, das die Menschen und die Völker trennt, ist die Besatzung. Israel bestimmt die Politik, kann den Gazastreifen wie die Westbank abschließen und wieder aufschließen, seine Armee hineinschicken oder draußen lassen, es gibt keine wie auch immer gearbeitete Gleichartigkeit und Gleichwertigkeit.

    Es ist der Kampf zweier Völker um das ganze Land. Die religiösen Juden verlangen das Land ganz, das Gott Ihnen vor zweitausend Jahren "geschenkt" hat. Bettina Marx spricht den Rabbi Yosef Elnekaveh an:

    "Abraham hatte zwei Söhne, Isaak und Ismael. Isaak hat er das Land gegeben und Ismael hat er es nicht gegeben. Er hat ihn gesegnet und dieser Segen ist eingetreten. Die Araber haben Gold, sie haben Erdöl, das sind die Segen unseres Erzvaters Abraham. Aber das Land Israel hat er ihnen nicht gegeben. Wollen Sie, dass wir ihnen das Erdöl nehmen? Der Heilige, gelobt sei er, hat sie mit Erdöl gesegnet und uns hat er das Land Israel gegeben!"

    Die Autorin liebt die Menschen, die seit Jahrzehnten gefangen sind in einem Land, das ihnen nicht zur Verfügung steht und in das die israelische Armee einmarschiert, wann immer sie das will. Sie gibt wunderbare Miniaturporträts von Familien, von Frauen, von Ärzten und Ärztinnen, die nicht aufgeben, sondern den Kampf um eine menschenwürdige Existenz aufrechterhalten. Sie halten Ihre Gastfreundschaft der deutschen Reporterin gegenüber auch dann aufrecht, wenn sie selbst kaum noch etwas zu essen und trinken haben.

    Das Buch muss man an einem Wochenende anfangen zu lesen, weil man nicht stoppen kann, die 344 Seiten hintereinander zu verschlingen. Das ist die große Leistung einer unbeirrbar tüchtigen Reporterin, die trotz vieler Einschränkungen alles besucht hat, viele Menschen in Gaza gesprochen hat. Sie hat bis zum Schluss diesen Stil beibehalten. Das Buch ist eine einzige Anklage, obwohl sie kein Wort der Anklage verwendet.

    "Gaza – Bericht aus einem Land ohne Hoffnung" von Bettina Marx. 348 Seiten für 19 Euro 90, im ZweiTausendeins-Verlag erschienen, vorgestellt von Rupert Neudeck.