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Keine Zeit! 18 Versuche über die Beschleunigung

Was hätte man aus diesem Thema nicht alles machen können! Jeder, der einmal in einer Zone 30 gewohnt hat, in der sich ein Kindergarten oder eine Schule befand, und der gesehen hat, wie morgens oder friih nachmittags so gar nicht um andere besorgte, aber von ihren Kindern und ihrem Terminplan gestreßte Mütter mit ihrem Nachwuchs durch die Straßen brausen; jeder der einmal einen Expressdienst-Fahrer hinter sich im Verkehr und dabei das Gefühl hatte, in einem Steven-Spielberg-Film von einem Unbekannten gehetzt zu werden; jeder, den bei der Supermarktkasse oder beim Anblick der Müllabfuhr der Gedanke überkommt, in unserer turboschnellen Welt gehe es doch etwas zu schnell zu, so sehr hetzen sich die Menschen heute ab und sind unzufrieden dabei -jeder also, den angesichts des beschleunigten Arbeits- und Lebenstempos eine gewisse Unruhe befällt, der hätte sich auf ein Buch gefreut, in dem er zu den allgegenwärtig greifbaren Zeiterscheinungen eine passende Theorie und das noch aus berufenem Munde gefunden hätte. Lothar Baier, der Frankfurter Wissenschaftler, Journalist und Essayist, dem man als gewieftem Zeitzeuge dieses Buch zugetraut hätte, hat es nicht geschrieben! Sein Buch "Keine Zeit! 18 Versuche über die Beschleunigung" ist statt dessen ein Werk geworden, das wohl kaum ein populär interessierter Zeitgenosse mit Vergnügen in die Hand nehmen wird. Die Seminaristen der Universität, die Zitatenschatzsammler oder Baiers Wissenschaftlerkollegen vielleicht um so mehr!

Oliver Seppelfricke |
    "Keine Zeit!" So lautet die kurze Formel (die noch nicht einmal ein ganzer Satz ist), gehetzt zwischen zwei Tätigkeiten einem anderen zugeworfen, um (häufig mit aggressivem Unterton) darauf aufmerksam zu machen, daß man äußerst gestreßt beschäftigt ist und nicht gestört werden möchte. Wie die Hotelschilder "Bitte nicht stören!" tragen heute die gestressten Zeitgenossen das neue Schild "Keine Zeit!" wie eine Warnung in ihren Augen oder zeigen es durch ihre angespannte Körperhaltung an. Es ist wahr, wir sind alle zu Mäusen in den Rädern der beschleunigten Gesellschaft geworden. Was also tun?

    Lothar Baier gibt bei seinem Rundgang durch den Wandel des Zeitbegriffs, bei seiner tour d´horizon durch das Zeitverständnis der Völker und Zeiten keine Antwort. Er macht aber immerhin einiges klar. So zum Beispiel, daß eine Rückkehr zu den seligen Zeiten des vermeintlichen Zeithabens nicht stattfinden wird. Und das aus zwei Gründen. Erstens: In den Zeiten der weltweiten Kapital- und Warenströme gibt nicht mehr die Natur mit ihren Jahreszeiten den Takt für die Produktion von Gütern und Dienstleistungen an, sondern es ist die Taktfrequenz der gerade neu entwickelten Mikrochips. Und weil überall auf der Welt nach der Taktfrequenz der Computer gearbeitet wird, da der ganze Globus am Tropf weltweiter Finanz- und Kommunikationsnetze hängt, wird es nicht lange dauem, bis auch im hintersten Winkel Afrikas bald die Beschleunigung Einzug halten wird! Und zweitens: Die Rede von der Beschleunigung ist schon sehr alt So alt wie die Menschen. Schon Seneca empfahl seinem Neffen Lucilius gegen die Beschleunigung der Zeit "mit der Langsamkeit ihrer Benutzung" anzukämpfen! Die gute alte Zeit, so Lothar Baier, ist also schon immer eine historisch falsche Rückprojektion gewesen, mit dem Appell zur Entschleunigung lassen sich gerade mal Akademikertagungen gestatten, ganze Buchreihen auch und Privatkliniken, jedoch: Aufhalten werden sie alle den rasanten Gang der Zeit nicht! Und da nach Niklas Luhmann, dem Soziologen, Beschleunigung die Bewegungsart aller modernen Gesellschaften ist, die überleben wollen, und weil unter der Bedingung zunehmender Komplexität Zeit knapp wird, wird wohl keine der heute entwickelten Gesellschaften den Schritt zurück machen wollen.Geschweige denn überhaupt können - siehe Computer

    Lothar Baier hetzt sich durch Auto- und Datenbahnen, macht sich Gedenken zu Lebenszeit und Arbeitszeit, kommt von der Zeitmessung zur Apokalypsenzeit und landet schließlich beim 'Zeitschlucker Computer".Denn der große Irrtum mit den Computern ist, so Lothar Baier: Anstatt daß sie uns Zeit schenken, indem sie die Arbeitsabläufe rationalisieren und beschleunigen, stehlen sie uns Zeit, da wir selbst im Tempo der Maschinen arbeiten müssen und das also immer schneller, die Menschen selbst hetzten sich zu Tode! Keine Zeit!

    Lothar Baier durchläuft in seiner Sammlung von Gedanken zur Zeit und ihrer Beschleunigung Stationen der Aufklärung von Diderot und Voltaire bis hin zu Adorno und Günther Anders. Vom Doktor Faustus geht es zu Brecht, Benjamin und Bachmann, Kernphysiker kommen zu Wort, Historiker und Softwareentwickler - nur eine Stimme hätte man in dieser riesigen, 200-seitigen Zitatenkiste gerne mehr vernommen: die von Lothar Baier selbst! Jeder dritte Satz ist hier ein direktes oder indirektes Zitat, und so sind die "18 Versuche über die Beschleunigung" denen der Duft einer Fleißarbeit anhaftet, kaum mehr als ein Zitatensteinbruch für die, die viel Zeit haben und Gedankenblüten suchen! Und wer ist das heute schon? "Ein brillant geschriebener Rettungsversuch der kostbarsten Ressource des Menschen, der Zeit", wie der Verlag auf sein Buch drucken läßt, ist dieses Werk jedenfalls nicht!