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Kettenleser besetzen Stuttgarts Innenstadt

Der Tag der Bibliotheken soll daran erinnern, dass das gedruckte Buch und dessen archivarische Pflege trotz e-book und der zunehmenden Digitalisierung weiterhin und unverzichtbar in gute, echte Hände gehört. In Stuttgart haben Leseratten dies eindrucksvoll unterstrichen.

Von Susanne Lettenbauer |
    Er war jetzt einunddreißig, nicht zu alt genug doch alt genug um einsam zu sein...

    Paulette Lesterfear war nicht so verrückt wie die Leute glaubten, natürlich wusste sie, wann welcher Tag war...


    "Ich habe dabei: Dschingis Aitmatows Der Schneeleopard. Von Lily Brett. Einfach so."

    Kettenlesen mitten in der Fußgängerzone von Stuttgarts Altstadt. Auf einfachen Papphockern sitzen seit heute Vormittag Studenten, aber auch Einwohner mit ihrem Lieblingsbuch da und lesen:

    "Ich lese Die Wand von Marlene Haushofer.

    Ich habe etwas ausgefallenes dabei, den letzten Auktionskatalog von Sothebys, da ich in dem Bereich auch noch tätig bin und es geht ja auch um Information. Da hat man sie geballt in der Hand."

    Jens studiert Wirtschaftsinformatik. Unter den vielen Studierenden der Bibliothekswissenschaften, die in der Fußgängerzone sitzen, so etwas wie ein Exot. Dass er heute am Tag der Bibliotheken die Aktion unterstützt, ist für ihn keine Frage:

    "Weil ich finde, dass es eine gute Aktion ist, wenn man sich aktuelle Pressemitteilungen ansieht, zum Beispiel von Frontal 21, dann wird immer mehr von den Bildungslücken berichtet. Bei Kindern, die wenig lesen können. Ich habe einen zehnjährigen Bruder, wenn man sich da die Mitschüler anschaut, da sieht man schon, dass oft eine Lese-Rechtschreibschwäche vorhanden ist."

    Die kleinen Grüppchen der jungen Leute fallen massiv auf an diesem Freitag, ein Passant munkelt, dass wäre eine neue Sekte, andere sind spontan begeistert und setzen sich dazu:

    "Ja, ich finde das ganz toll, eine super Idee und mal was anderes. Ich hab jetzt von Stig Larsson Verblendung dabei und hoffe, dass ich das auch vor der Geräuschkulisse lesen kann

    Also wir hatten uns einfach eine interessante Aktion zum Tag der Bibliotheken überlegt, um auf die Situation der Bibliotheken an sich aufmerksam zu machen und natürlich auch auf unseren Studiengang, auf unsere Hochschule."

    Corinna Sepke, selbst Studentin an der Hochschule für Medien, hat die Kettenleser-Aktion initiiert und die roten T-Shirts drucken lassen, die jeder Teilnehmer als Erkennungszeichen trägt.

    "Oft haben die Bibliotheken ja noch so ein merkwürdiges, angestaubtes Image, und wir wollten einfach mal zeigen, dass die Bibliotheken auch ganz interessante, ganz moderne Dinge tun können. Eben solche Aktion wie diese Lesekette, wo die Bürger der Stadt beteiligt sind, wo man einfach rausgeht, mit den Leuten spricht und einfach mal Aufmerksamkeit erregt."

    Einer ihrer Professoren sitzt vor dem Stuttgarter Hauptbahnhof. Sebastian Mundt, Professor für Medienmanagement und Informationsdienstleistungen, unterstützt die Aktion seiner Studierenden wo es nur geht. Auch wenn er nicht klagen kann über die Besucherzahlen von Stuttgarts Stadt- und Universitätsbibliotheken, die Zahl ist steigend, so weiß er doch, dass gerade sein Fach immer noch nach muffigen Archivräumen klingt. Dabei kommen mit dem e-Book ganz neue Herausforderungen auf seine Absolventen zu:

    "Selbstverständlich, und das ist ein unheimlich spannender Spagat und das ist etwas, was wir versuchen, unseren Studierenden mit zu geben."

    Während draußen die gut 180 Kettenleser mit Handschuhen, heißem Kaffee und dicken Pullovern unter dem Kettenleserhemd tapfer gegen den Lärm anlesen, kritisiert Martin Götz, Professor und unter anderem verantwortlich für die Hochschulbibliothek, die Politik aus Berlin. In anderen Ländern würden Bibliotheken viel effizienter organisiert sein durch ein Bibliotheksgesetz. Wenn man den Politikern durch die Kettenleseraktion die Notwendigkeit dieses Gesetzes nahebringen könnte, wie es in Dänemark existiert, wäre sehr viel gewonnen, so Götz:

    "In Dänemark spielt es überhaupt keine Rolle, wo sie wohnen. Da können sie in ihre kleine Dorfbibliothek gehen und können in einem elektronischen Katalog ein Medium ihrer Wahl aussuchen und ganz egal wo sie wohnen, sie bekommen das Buch nach drei, vier Tagen an ihre Wohnortbibliothek geliefert, denn dort gibt es ein zusammenhängendes Bibliotheksnetz. Man hat untereinander vereinbart, dass man sich die Medien liefert. Da gibt es auch nicht die Unterschiede zwischen Staatsbibliothek, Landesbibliothek, Unibibliothek, Stadtbibliothek, Pfarreibücherei. Sondern die arbeiten alle in einem System und sorgen für eine sehr gute Informationsgrundversorgung der Bevölkerung. Das wünsche ich mir für Deutschland."