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Keuschheit und Gehorsam

Die Neue Platte stellt eine gewichtige Neuerscheinung aus dem Bereich der Klaviermusik vor. Diese Aufnahme erregte bereits im Vorfeld Aufsehen, und dies zu Recht. Wenn ein Pianist wie András Schiff mit einer Einspielung der Goldberg-Variationen von Johann Sebastian Bach an die Öffentlichkeit tritt, ist das Interesse naturgemäß groß, und man ist mit gutem Grund geneigt, das Datum im Kalender der Rezeptionsgeschichte rot anzukreuzen.

Von Norbert Ely |
    Schiff und sein Label ECM hatten die Courage zum Live-Mitschnitt. Das Konzert fand am 30. Oktober 2001 im Stadtcasino Basel statt. Die CD beginnt mit elf Gedenksekunden, die auch dem seriösen Hörer hinreichend Zeit lassen, den Weg von seinen Gerätschaften bis zum Fauteuil zurückzulegen, sich dort in sorgfältig berechneter Distanz zu den Lautsprecher-Säulen niederzulassen und womöglich noch zu konzentrieren. Intellektuell bewegliche gelernte Humanisten schaffen in dieser Zeit auch noch ein stilles lateinisches Vaterunser. Und dann fängt alles, wie es sich gehört, mit der Aria an.

    • Musikbeispiel: J.S.Bach - Nr. 1. Aria aus: Goldberg-Variationen, BWV 988

    Das ist ein Ton wie kostbares Porzellan. Vielleicht gibt es derzeit wirklich keinen Pianisten mit einem schöneren Anschlag als eben diesen András Schiff. Die Musik hebt ein wenig wie traumverloren an. Im Tempo rubato schwingt ein Moment von Improvisation mit, so als gehe es um das Verfertigen der Gedanken beim Reden. Der Duktus ist gleichwohl flüssig. In dieser Aria ist eine große Offenheit für das, was kommen mag. Vor gut einem Jahrzehnt, bei den Berliner Festwochen, spielte Schiff die Aria noch gesetzter, indes auch mehr als das Gesetz, unter dem die kommenden Variationen zu stehen hatten.

    András Schiff hat sich in diesem Jahrzehnt offenbar eine Menge Gedanken über die Goldberg-Variationen gemacht. Den Text zum Booklet verfasste er selbst. Überschrift: "Goldberg-Variationen - Eine Führung". Das ist alles von bewundernswerter Klugheit. In einem Punkt möchte man ihm freilich widersprechen. Am Ende einer ebenso vehementen wie vielleicht unnötigen Verteidigung des modernen Klaviers weist er darauf hin, dass die Variationen immerhin eineinviertel Stunden dauern, und er schließt mit der rhetorischen Wendung: "Hand aufs Herz, können Sie so lange einem Cembalo zuhören?" Die Antwort kann eigentlich nur lauten: Durchaus! Es kommt immer auf den Cembalisten an....

    Die Pianisten haben sich in der jüngsten Vergangenheit erstaunlich häufig diesem immensen Werk Johann Sebastian Bachs zugewandt und sind zu den unterschiedlichsten Lösungsversuchen gelangt. Erwähnt seien hier nur die Einspielungen von Murray Perahia, Evgeni Koroliov und Daniel Höxter, die unter einander grundlegend differieren und doch auf völlig gleicher interpretatorischer Höhe angesiedelt sind. Es ist eben nicht so, dass Glenn Gould in Sachen Goldberg-Variationen zwei Mal das letzte Wort gesprochen hat. András Schiff hielt vor einem Jahrzehnt den Zyklus nach der einigermaßen festgefügten Aria in einer beglückenden Balance zwischen überdimensionierter Passacaglia und Folge von Charakterstücken. Nun entschied er sich, den Aspekt von fortschreitenden Veränderungen über einen stets gleichen Bass stärker hervorzuheben, den Zyklus also als geschlossenen Prozess darzustellen. Dementsprechend spielt er weitgehend a tempo und schließt die 30 Variationen durchweg attacca einander an, macht dafür deutliche Pausen vor der elften und der einundzwanzigsten und eine kürzere vor der sechszehnten. Man erfährt also eine durch und durch von strukturellem Denken bestimmte Interpretation. Und plötzlich fehlt einem etwas, gerade im Vergleich zu Schiffs Konzert damals im Berliner Kammermusiksaal. Die Variationen sind tatsächlich nicht nur in einen großen, faszinierenden und geradezu unbegreiflichen Zusammenhang eingebunden. Sie sind eben auch jede für sich Charakterstücke. Man könnte sogar die Schandtat begehen, jede einzelne als Encore zu spielen. Will sagen: der schieren pianistischen Lust hat Schiff entsagt. Schon die erste Variation klingt so, als habe der Pianist ein Gelübde abgelegt, das zwar nicht unbedingt die Armut, aber doch die Keuschheit und den Gehorsam einschließt.

    • Musikbeispiel: J.S.Bach - Variatio 1 aus: Goldberg-Variationen, BWV 988

    Das ist alles unerhört geistvoll und erlesen gespielt. Bei András Schiff sind Bachs Goldberg-Variationen ein lichter Kosmos von heiterer Gesetzmäßigkeit, der in einem makellosen Spiel der Finger Klanggestalt annimmt. Und Schiff will alles. Er will alle geheimen Beziehungen zwischen Themen und Gedanken hörbar machen und darüber auch jede Neigung zum Chaotischen der Disziplin eines hohen Geistes unterwerfen. Dann kommt aber zum Beispiel exakt in der Mitte des Zyklus eine Französische Ouvertüre. Es ist, so wie Schiff sie spielt, eine schlechthin formvollendete Ouvertüre. Und es kommt einem fürwahr an keiner Stelle der unkeusche Gedanke, dass solche Ouvertüren bei Hofe den Auftakt bildeten zu einem Abend, an dem - halten zu Gnaden - aus Leibeskräften gefressen, gesoffen und gehurt wurde. Bach hat möglicherweise die Realität der Französischen Ouvertüre keineswegs völlig verkannt und seine zehn Finger eventuell nicht immer völlig schicklich über die Tasten toben lassen. Kurz gesagt: da, wo es um Emotionen geht, etwa um die verführerischen Töne eines Latin Lovers oder um welsche Gloire, lässt Schiff den Hörer ein bisschen mit sich allein.

    • Musikbeispiel: J.S.Bach - Variatio 16 aus: Goldberg-Variationen, BWV 988

    Es markiert diese Einspielung der Bach’schen Goldberg-Variationen durch András Schiff gleichwohl ein Datum in der Rezeptionsgeschichte. Schiff hat da einen einsamen Gipfel erklommen. Es ist, wie gesagt, nicht der einzige Gipfel, der in den letzten zehn Jahren erklommen wurde. Aber irgendwie vielleicht der einsamste. Schiff spielt die Variationen sehr für sich. Am Ende ist die Aria gewiss eine andere geworden. Die Gedanken waren einem langen, komplexen musikalischen Prozess unterworfen, der so recht zu nichts geführt hat. Der Künstler hat seinen Plan vollendet, und dem CD-Hörer seien die Fress-, Sauf- und Venuslieder von Arno Holz dringend zur anschließenden erholsamen Lektüre empfohlen. Amen!

    • Musikbeispiel: J.S.Bach - Variatio 30/Aria (Ausschnitt) aus: Goldberg-Variationen, BWV 988

    Johann Sebastian Bach: Goldberg-Variationen, BWV 988
    Solist: András Schiff, Klavier
    Label: ECM
    Labelcode: LC 02516
    Bestell-Nr.: 472185-2