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Kiezführungen in Hamburg
Unterwegs mit "Titten Tina" und "Inkasso Henry"

Zehntausende Touristen zieht es im Sommer Abend für Abend auf die Hamburger Reeperbahn. Die einen kommen, um sich am Rotlichtmilieu zu erfreuen, andere lieben die Musical-Paläste, Musik-Clubs oder die Seefahrerromantik. Ein neuer Trend: Gruppenführungen durch den Kiez. Mehr als 150 schrille Fremdenführer stehen bereit – für die Einheimischen der tägliche Horror.

Von Rainer Link | 25.06.2015
    Passanten laufen am 13.01.2014 in Hamburg über die Reeperbahn. Touristen-Führer und Ladenmitarbeiter auf der Reeperbahn haben die Folgen der Krawalle und der Einrichtung von Gefahrengebieten durch die Polizei gespürt. Foto: Axel Heimken dpa (zu dpa: "Randale, Proteste, Gefahrengebiete: Arbeiten auf der Reeperbahn" vom 14.01.2013)
    Touristen vor Bordellen und Sex-Shops auf der Hamburger Reeperbahn. (picture alliance / dpa / Axel Heimken)
    "Bevor wir unsere Kiez-Tour machen, möchte ich Euch ein bisschen über mich erzählen. Mein Name ist Hans Jürgen Schmitz, ich bin der einzige hier auf St. Pauli, der eine Kiez-Tour macht, der das, was er erzählt, auch live miterlebt hat. Ich werde Euch erzählen, wie ich mit der bekanntesten Hure Deutschlands, Domenika, zusammen gekommen bin, ... ich hatte damals sechs bordellartige Betriebe hier."
    Mit Fäusten und Faustfeuerwaffen und F- Wörtern will er, der Gesetzeslose, die kriegerischen Auseinandersetzungen mit rivalisierenden Zuhälterbanden für sich entschieden haben. Und nun im hohen Rentenalter stehend, führt er Touristen über die geile Meile und plappert hardcore. Und manche glauben ihm sogar.
    Sprechen wir über weibliche Gruppenführerinnen, zum Beispiel über "Titten Tina": Unter diesem Künstlernamen treten gleich mehrere junge Frauen unterschiedlichster Körbchengröße als Kiez-Guides in Erscheinung. Ein leichter Nebenjob für Studentinnen; man muss sich nur ein paar sprachliche Derbheiten antrainieren. Freitag Abend, beste Tagesschau Zeit.
    Vor einem Kaufhaus für Sexartikel steht eine Gruppe westfälischer Hausfrauen. Titten Tina verteilt Miniatur-Sexspielzeug an die Frauen, billiger Plastik-Tand – made in China, die Stimmung steigt dennoch.
    Je kommerzieller und geordneter die Verhältnisse auf der Hamburger Reeperbahn wurden, desto mehr Gästeführer tauchten auf, die mit wilden Geschichten den verblassenden Mythos St. Paulis aufpolierten. Heute sind es mehr als 150 Fremdenführer, die pro Kopf zwischen 20 und 40 Euro kassieren, und dafür die Gäste wortreich durch den Straßenstrich lancieren. Schon lange dabei "Inkasso Henry", der seine Gefolgschaft mit Einzelheiten über seine Zeit als knochenbrechender Geldeintreiber in Aufregung versetzt. Inkasso Henry ist vor allem sauer auf die jungen Studentinnen, die als Tripper Susis oder mittelalterliche Wanderhuren die Kundschaft abgreifen und seine Einnahmen schmälern.
    Anwohner und Prostituierte sind genervt
    "Also, so was geht gar nicht hier: Ich bin alter Hase, bin 50 Jahre auf dem Kiez, bin St. Paulianer, erzähl die Wahrheit, nicht so'n Tüdelkram und nicht so'ne Scheiße. Du bist doch ein junges Mädchen, du hast doch gar keine Ahnung davon von Kiez hier. Da werd ich böse."
    Geführte Touristengruppen versperren Wege und Hauseingänge und ihre Tourguides beschallen mit ihren Megafonen selbst kleinste Wohnstraßen. Anwohner und Prostituierte sind von den zunehmenden Führungen auf der Reeperbahn genervt. Es soll schon mehrfach Drohungen aus dem Rotlichtmilieu gegeben haben, weil die Touristengruppen durch ihre Dauerpräsenz Freier abgeschreckt hätten.
    "Zur Mitte, zur Titte, zum Sack, zack, zack."
    Die Zahl der Gästeführer steigt immer weiter. Ganz neu im Geschäft jetzt auch Eddy Kante, der ehemalige Bodyguard von Udo Lindenberg. Eddy Kante führt Touristen durch Puffs und Pinten und plaudert aus, wie Udo die Schankanlagen links und rechts der Reeperbahn leer gesoffen hat.
    "Also, die andern Touren finde ich scheiße. Ich krieg jedes Mal einen dicken Hals, wenn ich die Leute sehe. Ich ärgere mich jeden Tag darüber, weil sie nur Lügereien erzählen."
    Wäre es nicht schön, wenn sich Eddy Kante und Inkasso Henry bei einer Gästeführung begegnen und den Fehdehandschuh schwenkend sich in offener Feldschlacht bis zum Abwinken gegenseitig auf die Lippe hauen. Das wäre mal authentisches St. Pauli, wie wir es von früher kennen und lieben.