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Kinder als Fremdlinge

In seinem Filmdebüt "Die Vermissten" inszeniert Jan Speckenbach in eindringlichen Bildern, wie sich Kinder ihren Eltern radikal entziehen. Ein besorgter Vater begibt sich auf die Suche nach seiner 14-jährigen Tochter, die plötzlich verschwunden ist. Doch auf der Reise verliert der Vater mehr als er zunächst angenommen hatte.

Von Rüdiger Suchsland |
    Es stimmt etwas nicht. Von Anfang an. Der Zuschauer spürt eine seltsame Ruhe, eine Verschwiegenheit in den Verhältnissen. Sie scheinen leer und tot. Man könnte dies auf das Atomkraftwerk schieben, in dem Lothar arbeitet, die Hauptfigur dieses Films, ein Mann mittleren Alters. André Hennicke spielt den Strahlenschutzexperten, der jeden Tag in aseptischen, vielfach gesicherten, hypertechnisierten Räumen die Werte kontrolliert, und etwas von der Todesnähe, in der er ständig arbeitet, in seinen übrigen Alltag mit hinübernimmt. Es ist eine Sensibilität für Bedrohungen, ein Sinn für Gefahren, für grundsätzliche, aber kaum spürbare Veränderungen.

    Anfangs scheint der Film einfach von Lothars normalem, sehr langweiligem und seltsam erkalteten, aber nicht unsympathischen Leben zu erzählen. Er führt eine Fernbeziehung. Eines Tages erhält er den Anruf seiner Exfrau, mit der er offenkundig seit Jahren keinen Kontakt hatte. Sie berichtet ihm davon, dass Martha, die gemeinsame vierzehnjährige Tochter spurlos verschwunden sei. Lothar hat sich auch für diese Tochter eigentlich gar nicht interessiert. Bald wird deutlich, dass auch andere Kinder auf unerklärliche Weise verschwunden sind.

    Lothar begibt sich irgendwo im ländlichen Niedersachsen auf die Suche, erst widerwillig, dann zunehmend energisch, wie fasziniert von einem Rätsel, das sich ihm hartnäckig zeigt, und das er, der Problemlöser, nicht zu lösen imstande ist. Fast erinnert er an einen Westernheld: Ein einsamer Mann auf einer Mission. Auf einer Reise ins Nirgendwo.

    Was tun die Kinder und Jugendlichen? Wir spüren ihre Macht, sehen ihr entschiedenes Sich-entziehen. Sie sind verwahrlost, plündern Häuser, zerstören sie, einige plädieren dafür, Menschen im Alter von 60 Jahren geplant umzubringen.

    Unscheinbare Indizien führen dazu, dass Lothar und wir mit ihm die Welt mit neuen Augen sehen: Plötzlich ist man sensibel für Kinder am Straßenrand, die zuvor unsichtbar schienen, für Jugendliche, die sich zu kleinen Gruppen zusammenrotten. Eine gewisse Nervosität scheint auf einmal die Verhältnisse zu durchdringen Blicke bekommen eine andere Bedeutung, Worte und Gesten erst recht. Die Jugendlichen, die Lothar trifft, entziehen sich seiner Neugier. Eine unerklärliche, aber radikale Distanzgrenze scheint zwischen der Welt der Erwachsenen und der ihrer Kinder gezogen zu sein. Lothar sucht, zunehmend fasziniert, zunehmend angeschlagen. Einstweilen ohne Ergebnis.

    Was will uns das nun erzählen? Gewiss: Man kann in "Die Vermissten" eine Reaktion auf den Befund des demographischen Wandels erkennen, auf eine Gesellschaft, in der immer weniger Kinder leben.
    Zugleich ist dies auch das kenntnisreiche Spiel mit klassischen Motiven aus Kino, Literatur und Volksmythologie. Denn "Die Vermissten" greift ins Arsenal jener Erzähl-Archetypen, die wir aus dem Mittelalter kennen: die historischen Kinderkreuzzüge und das Märchen vom "Rattenfänger von Hameln", erinnert zugleich aber auch an bekannte Geschichten von "bösen Kindern", wie "Herr der Fliegen" von William Golding oder in der Trilogie "Das Omen" oder natürlich "Das Weiße Band". Zugleich handelt es sich um eine Variation von Kino-Genre-Mustern: 1960 erzählte "Das Dorf der Verdammten" von neugeborenen Kindern, die offenkundig von einer außerirdischen Macht ferngesteuert werden. Auch hier wirken die Kinder plötzlich wie Außerirdische, und auch wenn "Die Vermissten" kein Science-Fiction-Film ist, spielt er mit diesen Motiven.

    "Wir sind die Ratten der Lüfte" sagt einmal eine Jugendliche. So bezeichnet man üblicherweise Tauben, und tatsächlich: Wie miteinander identische Gemeinschaftstiere sitzen diese Kinder oft auf einem Haufen. Schutzlos, für sich, ungreifbar - wie Tauben im Gras.

    Jan Speckenbachs in eindringlichen Bildern so lakonisch wie elektrisierend erzähltes Debüt ist demnach weit mehr als die übliche "Visitenkarte" eines Jungregisseurs: "Die Vermissten" ist eine großartige Meditation über die Fremdheit der Kinder für ihre Eltern. Eltern wollen sich das nicht gern eingestehen, aber in diesem Film wird es evident.