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Kinder an die Macht?

Familie ist Zukunft, so lautete das Motto einer Kongress-Serie, die in den achtziger und neunziger Jahren um die Welt ging. Die Erkenntnis ist geblieben, ja sie hat sich wegen des demografischen Defizits noch verschärft. Allerdings sehen manche Autoren Kinder vorwiegend als Wirtschaftsfaktoren, nicht mehr als das, was der deutsche Frühromantiker so schön formulierte: Kinder sind sichtbar gewordene Liebe. Zu den Autoren des ökonomistischen Denkens gehört auch der Journalist Ulrich Deupmann. Sein Buch heißt entsprechend: Die Macht der Kinder.

Rezension: Kostas Petropulos | 04.07.2005
    Familie ist Zukunft, so lautete das Motto einer Kongress-Serie, die in den achtziger und neunziger Jahren um die Welt ging. Die Erkenntnis ist geblieben, ja sie hat sich wegen des demografischen Defizits noch verschärft. Allerdings sehen manche Autoren Kinder vorwiegend als Wirtschaftsfaktoren, nicht mehr als das, was der deutsche Frühromantiker so schön formulierte: Kinder sind sichtbar gewordene Liebe. Zu den Autoren des ökonomistischen Denkens gehört auch der Journalist Ulrich Deupmann. Sein Buch heißt entsprechend: Die Macht der Kinder. Kostas Petropulos hat es für uns gelesen.

    " Das Fundament jeder Gesellschaft sind ihre Kinder. [...] und aus dieser Sicht lautet das wichtigste politische Projekt für die nächsten 20 Jahre: Kinder müssen auf der Tagesordnung des Landes ganz nach vorne rücken. Der Aufruf zum Mitmachen ergeht an alle Gruppen: Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Sein Inhalt ist der radikale Umbau des Landes zur "Kinderrepublik Deutschland" - einer Republik für Kinder."

    Dieser eindringliche Appell zur Korrektur unserer gesamtgesellschaftlichen Prioritätenliste steht ganz am Anfang des neuen Buches von Ulrich Deupmann. Sicher, Kinder sind als künftige Fachkräfte und Beitragszahler für die Sozialsysteme nicht ersetzbar. Aber das ist nicht neu, und selbst die Politik präsentiert mittlerweile Konzepte für das Problem des Geburtenmangels. Also: Bei aller Liebe zu den Kindern - sollten uns jetzt nicht die grassierende Massenerwerbslosigkeit und die sich damit heute verschärfenden Probleme bei der Finanzierung von Renten- und Pflegeleistungen wichtiger sein?

    Irrtum! - Gegenüber den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts hat sich die Zahl der geborenen Kinder nahezu halbiert. Unterm Strich bedeutet dies rund 8 Millionen weniger Konsumenten und Arbeitskräfte und damit weniger Wirtschaftswachstum. Und zwar schon jetzt ein jährliches Minus von 0,5 Prozentpunkten, wie die internationale Wirtschaftsorganisation OECD vorrechnet. Das entspreche mehreren Hunderttausend verhinderter Jobs.

    Das ist allerdings nicht der einzige Irrtum, dem weite Teile der Bevölkerung und viele Medien bei der Beurteilung der gegenwärtigen Politik für Kinder unterliegen. Die Rückständigkeit praktisch aller Parteien zeigt sich für Deupmann in dem für ihn zentralen Bereich der Bildung. Schonungslos schildert der Journalist die schon lange tatenlos hingenommene kulturelle Abschottung erheblicher Teile der Einwanderer und ihrer Kinder, die systematische und kaum fassbare Vernachlässigung der deutschen Unterschicht. Ausführlich beschreibt er die Folgen dieser krassen Fehlentwicklungen: weniger Gesundheit, weniger Bildungserfolg, häufiges Scheitern am Arbeitsmarkt und dauerhaftes Einrichten in den Randbereichen unserer Gesellschaft. - Das glatte Gegenteil dessen, was unser vergreisendes Land dringend braucht!

    Nicht minder bedrohlich für unseren Wohlstand ist nach Ulrich Deupmann der andere, oft beklagte Trend: der eklatante Kindermangel. Hier habe die Politik ebenfalls durch faktische Tatenlosigkeit geglänzt. Einzelne und ermutigende Verbesserungen für junge Paare und Eltern seien nur durch Urteile des Bundesverfassungsgerichtes erzwungen worden. Das reiche aber nicht mehr aus: Weder mit einer längeren Lebensarbeitszeit, noch mit einer höheren Quote von Frauen im Arbeitsmarkt und selbst mit mehr Einwanderung seien die absehbaren Wohlstandsverluste zu verhindern. Wirklich helfen würde nur eines:

    " Wir müssen rasch und rasant die Geburtenziffern steigern."

    Und zwar von derzeit 1,34 Kindern pro Frau auf mindestens 1,75. Das wären bis zum Jahr 2010 fast 300.000 Kinder mehr.
    Dazu sei eine "moderne Bevölkerungspolitik" notwendig. Dies dürfe nicht länger mit Verweis auf den Missbrauch während der Diktatur der Nationalsozialisten blockiert werden. In einer Demokratie sei dies ein legitimer Anspruch, der im Ausland, wie etwa in Frankreich, beispielhaft und höchst erfolgreich umgesetzt werde.

    Die notwendige politische Neuorientierung werde hierzulande allerdings noch durch eine ganz speziell deutsche, mentale Blockade erschwert: Dem "Mutter-Mythos". Immer noch dominiere hierzulande bei vielen Müttern der Wunsch, gerade in den ersten Lebensjahren ihrer Kinder beruflich kürzer zu treten, um sich persönlich der Kindererziehung zu widmen. Dies sei aber pure Ideologie und zumindest teilweise ein Erbe des Nationalsozialismus.

    Dieses Lamento Deupmanns über die vermeintliche "mentale Rückständigkeit" deutscher Frauen zeigt ein strukturelles Problem des gesamten Buches: Der Journalist hat zwar sehr viel Material zusammentragen und fleißig gelesen, aber sich bei seiner Meinungsbildung ganz offenkundig zu wenig eigene, kritische Gedanken gemacht.

    Wenn er im Chor mit einzelnen feministischen Autorinnen den angeblichen deutschen Mütter-Mythos beklagt, bleibt er doch die Antwort auf einige nahe liegende Fragen schuldig. Beispielsweise: Wer soll denn den vielen in der Nach-68er-Ära aufgewachsenen jungen, gut ausgebildeten und berufsorientierten Frauen von heute überhaupt dieses Mutterbild vermittelt haben? - Zudem zeigt etwa der Blick auf unser Nachbarland Holland, dass dort die Hälfte der Mütter bewusst ihre Erwerbstätigkeit für mehrere Jahre unterbricht, um sich persönlich ihren Kindern voll zu widmen. Wegen der Kinder beruflich zurückzustecken, ist deshalb mitnichten nur ein deutsches Phänomen!

    Eine ähnlich fehlende gedankliche Tiefe zeichnet Deupmanns Vorschläge zur Bekämpfung des Kindermangels aus - neben einer völligen Unkenntnis der einschlägigen verfassungsrechtlichen Grundlagen, die sich etwa in seiner Forderung nach einer Halbierung des Kindergeldes dokumentiert. Bezeichnenderweise decken sich seine Vorstellungen in großen Teilen mit dem Konzept von Bundesfamilienministerin Renate Schmidt, die er im übrigen immer wieder mit Lob bedenkt. Sein so genannter "Masterplan für mehr Kinder" lautet daher: Ganztagsbetreuung für alle!

    " Mehrmals wurde hier die zentrale Maßnahme beschrieben, die dazu beiträgt, die Geburtenrate zu steigern und den Kindern zugleich bessere Förderungs- und Bildungschancen zu eröffnen: eine frühzeitige, qualitativ hochwertige Ganztagsbetreuung für möglichst alle Kinder in ihrem ersten Lebensjahrzehnt."

    Dabei hatte er selbst noch im ersten Teil seines Buches festgestellt, dass es mit mehr Krippen und Kitas alleine nicht getan ist:

    " Ohne ein Mindestmaß an äußerer und beruflicher Sicherheit und Planbarkeit helfen nicht einmal optimale Betreuungsangebote. Das wissen wir seit dem Fall der Mauer. Der Zusammenbruch eines ganzen Gesellschaftssystems, Unsicherheit und Arbeitslosigkeit ließen die Geburtenrate in Ostdeutschland schlagartig um die Hälfte einbrechen - beinahe wie in Kriegszeiten."

    Aber der Journalist erkennt weder hier noch anderswo, dass die von ihm durchaus aufgelisteten Fakten sein Patentrezept "Mehr Ganztagsbetreuung für alle" zu naivster Ideologie zusammenschnurren lassen.

    Die Kurzsichtigkeit Deupmanns zeigt sich darüber hinaus unübersehbar am Leitmotiv seines gesamten Buches. Das Land braucht: 1. Mehr Geburten. 2. Mehr Bildung. - Die für jedes Gemeinwesen und selbst für eine funktionierende Wirtschaft unverzichtbare Grundlage - nämlich die Erziehung von Kindern und Jugendlichen - ist bei Deupmann kein Thema. Erziehung heißt, Orientierung vorzugeben, der Nachwuchsgeneration Werte zu vermitteln, die sie befähigen sollen, etwa langfristige Partnerschaften einzugehen, sich gegenüber Nachbarn verantwortungsvoll zu verhalten, gegenüber Kollegen im Betrieb, als Manager gegenüber den Kunden und den Aktionären, als Politiker gegenüber seinen Wählern oder als Mitglieder einer Solidargemeinschaft. Solche Grundwerte werden bekanntlich maßgeblich von den Familien und ihrem Umfeld geprägt. Sie sind aber bei Deupmann nicht der Rede wert.
    Das ist freilich nicht verwunderlich, da er zwar von der "Kinderrepublik Deutschland" schwadroniert, faktisch jedoch den Nachwuchs nur auf seine ökonomische Nützlichkeit reduziert:

    " Die Zukunft des Landes lässt sich begreifen wie ein Girokonto bei der Bank: Jede positive Geste, jede Stunde intensiver Beschäftigung, jeder Tag kreativer Wissensvermittlung mit unseren Kindern wirkt wie die Einzahlung eines kleinen Betrags. Sie erhöht das Guthaben und wirft eines Tages reiche Frucht in Form von Zinsen ab."

    Unterm Strich fällt die Beurteilung des Buches von Ulrich Deupmann daher sehr zwiespältig aus. Nicht akzeptabel - und das ist die größte Schwäche des Buches - ist sein einseitiger, rein ökonomischer Blick auf die Kinder und ihre Eltern. Alleiniger Orientierungspunkt für seine vermeintliche "Kinderrepublik Deutschland" ist die Erhaltung der deutschen Wettbewerbsfähigkeit im planetaren Kampf um Marktanteile. Genau dieser politisch, kaum gebändigte und tendenziell ethikfreie Wirtschaftskampf der Nation lässt immer weniger Raum für Kinder, ja für jegliches gesellschaftliche und kulturelle Leben überhaupt. Doch das erkennt Deupmann in seinem journalistischen Überflug nicht mal als Problem. Ganz zu schweigen von seiner fehlenden Antwort darauf. - Schade, eine vertane Chance.

    "Die Macht der Kinder" aus der Feder des Journalisten Ulrich Deupmann, erschienen ist es im S. Fischer Verlag in Frankfurt am Main, es hat 237 Seiten und kostet 16,90 Euro.