Clara Wintermute ist das einzige Kind eines wohlhabenden Arztes in London. Sie lebt in einem Haus der bürgerlichen Oberschicht, wir befinden uns im Jahre 1860. England ist unter der Regentschaft von Königin Viktoria. Clara feiert ihren 12. Geburtstag. Als sie in der Nacht danach verschwunden ist, beginnt die rastlose Suche der Eltern nach ihrem Kind.
Der Verdacht fällt auf einen Puppenspieler, der mit seinem Marionettentheater und zwei Assistenten im Hause der Familie Wintermute zu Gast war. Der Puppenspieler Grissini ist eine Figur, die einem Roman von Charles Dickens entsprungen sein könnte. Seine beiden Assistenten Lizzie Rose und Parsefall sind Waisenkinder. Ihr Alltag ist hart und trostlos.
Lizzie Rose war hungrig. Während sie den Wagen des Puppentheaters die Straße entlangschob, stieg ihr der köstliche Duft von den Ständen der Straßenhändler in die Nase: geröstete Maroni, gebackene Kartoffeln und Kaffee. Ihr Magen knurrte grimmig, weil sie seit dem Frühstück nichts gegessen hatte. Grissini hatte sich mittags wie üblich eine sausage roll geholt – das wusste sie, weil sein Atem nach Knoblauch gerochen hatte –, aber er hatte nichts nach Hause gebracht. So war Grissini. ... Lizzie Rose schnüffelte. Parsefall hatte ebenfalls gegessen. Unter den Schmuddeljungen-Mief mischte sich der Geruch von Kohl mit Speck. Das musste er in der Küche der Vermieterin erbeutet haben.
Grissini und die Kinder leben zur Untermiete in einem alten Haus. Es gibt Risse in den Wänden, überall ist es dunkel, schmutzig und kalt. Fünf Hunde, auch Katzen und ein Papagei leben in der engen Behausung. Die Vermieterin, eine ältere Schauspielerin, rezitiert ihre Rollen nur noch Zuhause auf dem Sofa, trinkt dazu viel Gin und bittet Lizzie Rose und Parsefall um Applaus. Laura Amy Schlitz ist begeisterte Leserin der Romane von Charles Dickens. Und das merkt man spätestens hier.
In Claras Haus dagegen herrscht Ordnung. Das Personal konzentriert sich auf das einzige Kind, die Geschwister sind an der Cholera gestorben. Clara wird mit Spielsachen überhäuft, aber sie möchte lieber tanzen und sehnt sich nach Spielkameraden. Mit Leidenschaft erzählt Clara ihrem Dienstmädchen von den Kindern des Marionettentheaters.
"Sie sind so klug, sie müssen so viele Dinge wissen, von denen ich keine Ahnung habe. Denk nur Agnes, sie verdienen ihren eigenen Lebensunterhalt."
Clara beneidet die Waisenkinder und stellt traurig fest, dass Klavierspielen und Sticken zu nichts nütze sind. Der Vater von Clara versteht die Gefühle seiner Tochter, doch er beugt sich dem Zwang seiner Zeit. Es ist an Clara, aus den Konventionen auszubrechen. Nur schweren Herzens erfüllt Doktor Wintermute seiner Tochter ihren Geburtstagswunsch, den Puppenspieler in sein Haus einzuladen. Grissini ist Italiener und Ausländer haben in der Oberschicht nichts zu suchen.
Während der Aufführung des Marionettentheaters hat Clara einen Lachanfall. Um sie herum herrscht bestürztes Schweigen. Claras Vater ist Arzt, er konstatiert, ganz im Sinne des Viktorianismus, einen hysterischen Anfall und schickt das kranke Kind ins Bett. Hysterie, Ohnmachtsanfälle und häufiges Weinen entsprechen dem Frauenbild der gehobenen Gesellschaft.
Dr. Wintermute griff in die Tasche und wollte sein Taschentuch herausholen, als er sich erinnerte, dass er es seiner Frau gegeben hatte. Es fiel ihm auf, dass er seit dem Morgen ausschließlich mit Frauen beschäftigt war, und alle hatten geweint.
Der Puppenspieler Grissini entführt das traurige Mädchen und verwandelt Clara mit seiner Zauberuhr in eine Marionette. Nun darf das Mädchen aus der Oberschicht mit den Waisenkindern Lizzie Rose und Parsefall zusammen sein, sie darf als Ballerina tanzen an den Fäden des Puppenspielers. Laura Amy Schlitz orientiert sich an den historischen Marionettentheatern und beschreibt die Marionetten als menschliche Wesen, eingesperrt in einen Puppenkörper. Nach ihrer Verzauberung ist Clara eine wunderschöne Marionette, und sie vermag etwas Besonderes: Sie kann alles hören, riechen, auch denken, aber sich selbst bewegen und sprechen kann sie nicht.
Die Tür zum grünen Zimmer öffnete sich. "Wer ist das?", rätselte Clara, aber sie konnte den Kopf nicht drehen, um nachzusehen. Leise Schritte waren zu hören ... Dann tauchte eine schattenhafte Gestalt in Claras Blickfeld auf... "Grissini!", dachte Clara und ihr wurde kalt. Sie wollte einen gellenden Schrei ausstoßen: "Vorsicht Parsefall! Wach auf!" Aber ihre Panik blieb stumm.
"Clara und die Magie des Puppenmeisters" von Laura Amy Schlitz ist für ein Kinderbuch ein sehr ehrgeizig gebauter Roman. Er hat zwei Erzählstränge. Parallel zur Geschichte von Clara und den Waisenkindern wird die Vita des Puppenspielers Grissini erzählt. Der Puppenspieler ist verflucht, eine Hexe von ihrem Phoenixstein zu erlösen. Diese Hexe mit dem Namen Cassandra verspricht ihrem Retter einen hohen Lohn.
Als Lizzie Rose und Parsefall davon erfahren, machen sie sich auf den Weg zur Hexe. In ihrem Gepäck ist die schöne Marionette Clara. Im zweiten Teil von "Clara und die Magie des Puppenmeisters" laufen die beiden Erzählstränge ineinander. Clara verbindet die beiden Geschichten. Sie ist es auch, die Cassandra von ihrem Feuerstein befreit.
Eines der beiden musste den Feueropal stehlen. Ihre Armut, so bedauernswert sie auch war, würde ihr in die Hände spielen. Nur, welches der Kinder würde sie erlösen? Welches war vielversprechender, habgieriger, verführbarer?
Cassandra heißt die Hexe, wie die tragische Figur der antiken Mythologie. Auch die anderen Namen in "Clara und die Magie des Puppenmeisters" hat Laura Amy Schlitz mit viel Bedacht gewählt. Parsefall, eine Form des Ritters Parzival. Er übernimmt schließlich die wichtige Aufgabe, Clara zu retten. Und nicht zuletzt der passende Nachname für Claras Familie "Wintermute", winter-kalt und mute, also stumm, so war es in diesem vornehmen großen Haus, nachdem die Trauer eingezogen war.
Laura Amy Schlitz gelingt es, mit "Clara und die Magie des Puppenmeisters" das viktorianische England zu beleben. Und ganz im Sinne von Charles Dickens ist Clara am Ende ein glückliches Mädchen mit neuen Geschwistern. Wir ahnen es - es sind die beiden Waisenkinder Lizzie Rose und Parsefall.
Laura Amy Schlitz: "Clara und die Magie des Puppenmeisters"
Aus dem Amerikanischen von Eva Plorin, Thienemann Verlag, 512 Seiten, 14,95 Euro, empfohlen ab 10 Jahren