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Klangreigen auf der Insel

Das Aldeburgh Festival of Music feiert in diesem Jahr seine 60. Auflage. Zur Eröffnung präsentierte es eine gediegene Version von "Tod in Venedig", die den konservativen Publikumsgeschmack durch nichts herausfordert.

Von Frieder Reininghaus |
    Das Aldeburgh Festival of Music hat sich von Anfang an über das kleine Städtchen hinaus auf das Umland in Suffolk ausgedehnt. Und jetzt, mit der 60. Ausgabe der musikalischen Sommerfrische, kommt man in Genuss von kontrastreich zusammengestellten Kirchenkonzerten oder einer alternativen Beschallung von Teilen eines stillgelegten Militärflughafens. Klang- statt Kerosinwolken erhoben sich da: "Faster than Sound" machte sich in einem von der US-Air-Force verlassenen riesigen Areal bei Bentwaters breit, das (allerdings bislang mit wenig sichtbarem Erfolg) zum Industriepark umgewidmet wird. Avancierte und vielfach videogestützte Klanginstallationen eroberten ehemalige Kasernengebäude, die Zufahrtswege zu den Startbahnen der Kampfjets oder die Brachflächen zwischen den Zivilisationswüsteneien.

    Neben einem wundersam akkuraten Haydn-Beethoven-Schubert-Mozart-Klavierabend des ganz auf Understatement spielenden Alfred Brendel, porzellanhaft fragil und mit atemberaubender Spannung, galt das Hauptaugenmerk am Eröffnungswochenende Benjamin Britten, der das ziemlich verwunschene Aldeburgh nach seiner Rückkehr aus dem wegen Kriegsdienstverweigerung notwendig gewordenen amerikanischen Exil zusammen mit seinem Lebensgefährten Peter Pears als Rückzugsort für ein neues Modell der Verbindung von Kunst und Leben wählte. Dort entzog er sich auch gewissen Anfeindungen der Londoner Society. Aus diesem Projekt erwuchs, zunächst nur gestützt auf Freunde, jenes längst auch international höchst renommierte Festival, das sich insbesondere auch mit Meisterkursen und Workshops, dem "Britten-Pears Young Artist Programme", um Nachwuchsförderung kümmert.

    Das riesige Areal der früheren Malzfabrik von Snape avancierte zum Hauptquartier des seit kurzem als "National Centre of Excellence" geförderten Vereins für musikalische Bildungs- und Freizeitgestaltung, der seine Aktivitäten von den Sommerwochen aufs ganze Jahr ausgedehnt und im zurückliegenden Geschäftsjahr rund 90.000 Besucher angelockt hat. In der großen Backsteinhalle, die zwischenzeitlich abbrannte, aber binnen Jahresfrist auf die alte Weise wieder in Stand gesetzt wurde, fand 1973 die Uraufführung der letzten Britten-Oper statt: "Death in Venice". Auch die Eröffnungspremiere des 60. Festspiel-Jahrgangs wurde in dem auratischen und kahl belassenen Raum angesetzt, der zwar in nichts an das Venedig des Canal Grande oder der Piazza San Marco erinnert, ein wenig aber immerhin an die Bauten des Arsenale.
    Yoshi Oida und seine Ausstatter Tom Schenk und Richard Hudson beließen die Erinnerung an Gustav von Aschenbachs Suche nach neuen Anregungen für Kunst und Leben in optischen Anspielungen und Kostümen der Entstehungszeit von Thomas Manns Novelle. Auf ein paar Stegen über einer fein sich kräuselnden Wasserfläche und unter artigen Lichtspielen wird die mit Sympathie zum Tode führende Geschichte schlicht und klar erzählt, die Altersgeilheit des Münchener Schriftstellers dabei vielleicht allzu plump freigespielt, Todessymbole überspielt und das Psychoanalytische unterlaufen. Dabei erweist sich der Tenor Alan Oke als exzellenter Sänger mit intelligentem Gefühl, der die von Thomas Mann ironisch abgemischte Balance von deutschkünstlerischer Ambitioniertheit, mittelständischer Hypochondrie, kläglicher Verliebtheit, zunehmender Trivialität der Männerphantasien und erschreckend wahrzunehmender Hohlheit im Kontrast zur geschäftstüchtigen, verschlagenen Italianità und der unerreichbaren Noblesse von Tadzios polnischer Aristokraten-Familie ungleich besser ausbalanciert als die Inszenierung insgesamt.
    Das Aldeburgh Festival präsentiert eine gediegene Version von "Tod in Venedig", die den konservativen Publikumsgeschmack durch nichts herausfordert. Die unter Leitung von Paul Daniels realisierte retrospektive Musik ist vom Feinsten - wohlriechend, ohne Kanten oder gar Schreckmomente. Das Festspielpublikum in Bregenz kann sich auf die Übernahme der Produktion freuen.