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Klappentext vor Gericht

Das Berliner Landgericht hat Teile des Klappentextes zum Roman "Anders" von Hans Joachim Schädlich verboten. Der ehemalige KZ-Häftling Stefan Jerzy Zweig, auf dessen Lebensgeschichte das Buch basiert, hatte sich durch die Aussagen beleidigt gefühlt.

Moderation: Karin Fischer |
    Karin Fischer: "Nackt unter Wölfen", der berühmte Roman von Bruno Apitz über die Rettung eines kleinen Jungen im KZ Buchenwald, war mit drei Millionen verkaufter Exemplare ein Riesenerfolg in der DDR. 1961 erschien er auch in der Bundesrepublik, 1963 wurde er von Frank Beyer verfilmt, gestern Abend erst lief der Film mit Erwin Geschonneck und Armin Müller-Stahl wieder einmal im Programm des MDR.

    Apitz schrieb einen Roman, mit vielen erfundenen Details, die der Junge aus Buchenwald, Stefan Jerzy Zweig, der von DDR-Journalisten 1964 in Israel aufgestöbert wurde, nicht beanstandete. Ein anderer machte den Störenfried: Hans Joachim Schädlich, aufgewachsen ebenfalls in der DDR, veröffentlichte im Jahr 2003 einen zweiten Roman, "Anders", darüber, wie deutsche Vergangenheit verfälscht wurde. Er wollte die antifaschistische Legende von Buchenwald durch historische Forschung aufarbeiten, einerseits. Andererseits behauptet er implizit, der kleine Junge sei schuld am Tod eines 16-jährigen Roma-Jungen, der statt seiner nach Auschwitz deportiert wurde. Und dagegen wehrte sich nun der authentische Stefan Jerzy Zweig: Heute war Verhandlung vor dem Berliner Landgericht. Frage an Jens Ebert, der für uns den Prozess beobachtet hat: Worum genau ging es denn, was war der Fall?

    Jens Ebert: Hans Joachim Schädlich wollte in seinem Roman, der eben Jahrzehnte nach dem Roman von Apitz erschienen ist, die Geschichte quasi neu erzählen, verwendete da unter anderem auch Material aus einem Erinnerungsbuch, was der Vater von dem Stefan Jerzy Zweig selbst geschrieben hatte, und wollte quasi die Geschichte neu erzählen, indem er auch sagte, dass die Geschichte so, wie sie bei Apitz beschrieben wird, nicht stattgefunden hat. Und es ging dann hauptsächlich um zwei Sätze, und dort kulminiert eigentlich auch die Kritik von Schädlich an Apitz und die Kritik natürlich von Stefan Jerzy Zweig am Roman von Schädlich, ich sage das mal. Im Klappentext steht: "Ein Überlebender der Lager kann die verdrehte Legende um seine Rettung nicht mehr von der eigenen Biografie unterscheiden." Und direkt im Romantext lesen wir den Satz: "Wahrscheinlich kann Jerzy Zweig seine wahre Geschichte nicht gelten lassen, dass er lebt, weil statt seiner der Zigeunerjunge Willi Blum ins Gas geschickt wurde." Dagegen wehrt sich vehement Stefan Zweig, weil er sich beschädigt fühlt in seiner Biografie, und er fühlt sich dadurch beleidigt.

    Fischer: Was sagten nun heute in dem Prozess die Richter des Berliner Landgerichts dazu?

    Ebert: Also diese Richter waren weiß Gott nicht zu beneiden. Sie mussten hier etwas klären, worüber sich die Literaturwissenschaft ewig streiten würde. Und sie waren eigentlich auch ein bisschen überfordert, denn es ist sehr fragwürdig, ob man künstlerische Form und Qualität, Überzeugungen und Meinungen nun wirklich mit juristischen Mitteln klären kann. Der Vorsitzende Richter selbst sprach von einem Dilemma, weil man menschliche Betroffenheit mit Mitteln des Rechts nicht gerecht werden kann, und da er wohl ein wahres Wort gesprochen. Herausgekommen ist schließlich, dass genau diese beiden Sätze, durch die sich Stefan Jerzy Zweig beleidigt fühlte, vom Gericht verboten wurden. Sie dürfen nicht weiter vom Verlag publiziert werden. Und außerdem gibt es noch einige andere Kritikpunkte von Zweig am Klappentext der Hardcover-Ausgabe, die müssen auch verändert werden. Ansonsten wurde die Klage abgewiesen. Dass im Roman von Hans-Joachim Schädlich Passagen aus dem Buch von Stefan Zweigs Vater verwendet wurden, ist legitim. Das ist sozusagen eine Adaption von historisch Bekanntem, und das hat das Gericht nicht als Plagiat angesehen.

    Fischer: Nun gibt es ja immer mal wieder alle paar Jahre Fälle, in denen sozusagen KZ-Erinnerungen selber vor Gericht stehen. Ist dieses Beispiel, was wir nun gerade besprechen, ein Fall, der dem noch eine neue Facette hinzufügt?

    Ebert: Eigentlich nicht. Dass der Roman von Apitz eine künstlerische Formung der Geschichte ist, dass sehr vieles von ihm erfunden worden ist - eben zum Beispiel große Teile der Biografie von dem Stefan Jerzy Zweig, er ist ja nicht elternlos ins Konzentrationslager gekommen wie im Roman, sondern eben mit seinem Vater -, das ist eigentlich seit den 60er Jahren bekannt, allerdings vom Lesepublikum so nie gelesen worden, weil das Lesepublikum sehr gerne Geschichten auch zur Kenntnis nimmt, die einen authentischen Kern haben. Also der Roman ist immer als Tatsachenbericht gelesen worden in der DDR.

    Fischer: Und was sagt uns dieser ganze Prozess über das, was Sie am Anfang erwähnt haben, nämlich die beiden unterschiedlichen Blickrichtungen auf die Vergangenheit der DDR?

    Ebert: Dass die Bewertung der nationalsozialistischen Vergangenheit und die Bewertung dieser Vergangenheit durch die DDR nach wie vor ein unabgeschlossener Prozess ist, dass wir sozusagen ganz verschiedene Meinungen haben, wie man damit umgehen sollte, und ein bisschen sozusagen wir uns nach wie vor in den Gräben des Kalten Krieges befinden. Stefan Jerzy Zweig äußerte heute so kurz mal in einem Satz die Vermutung, an seiner Person wird nun die gesamte Kritik am DDR-Antifaschismus thematisiert, und er muss dafür herhalten. Es gibt einfach verschiedene gesellschaftliche Sichtweisen auf diese Zeit, und die, denke ich mal, gehören nicht vor Gericht, sondern die sollten gesellschaftlich, politisch, publizistisch ausdiskutiert werden.