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Koalitionsvorhaben
Özdemir: Bei Klimapolitik wird Deutschland Bremser sein

Grünen-Chef Cem Özdemir kritisiert die Vereinbarungen zur Klimapolitik im Koalitionsvertrag. Die Ausbauziele der erneuerbaren Energien würden gebremst. Künftig werde Deutschland wohl wieder auf Kohle setzen und die Energiewende werde kein Standortfaktor mehr sein, kritisiert er.

Cem Özdemir im Gespräch mit Christiane Kaess | 28.11.2013
    Christiane Kaess: Für jeden ist etwas dabei im 185 Seiten langen Koalitionsvertrag, über den jetzt noch die SPD-Mitglieder abstimmen müssen. Kritik kam bereits gestern von der Opposition, oder auch aus der Wirtschaft. – Am Telefon ist der Parteichef der Grünen, Cem Özdemir. Guten Morgen!
    Cem Özdemir: Guten Morgen, Frau Kaess!
    Kaess: Herr Özdemir, doppelte Staatsbürgerschaft oder der Mindestlohn – diese Meilensteine zu schaffen, hätten Sie das gerne den Grünen auf die Fahnen geschrieben?
    Özdemir: Es ist immer gut, wenn die Grünen regieren. Insofern hätte es mich natürlich gefreut, wenn wir regiert hätten, denn wir hätten, wenn wir regiert hätten, nicht nur doppelte Staatsbürgerschaft oder auch einen Mindestlohn versucht durchzusetzen, sondern wir hätten auch versucht, insbesondere beim Klimaschutz und bei Europa mehr herauszuholen. Das ist der SPD allerdings nicht gelungen.
    Kaess: Dass hier aber Meilensteine erreicht wurden, dem stimmen Sie zu?
    Özdemir: Auch das ist ein Gebot der Fairness, dass man auch das, was richtig ist, benennt. Mitpreisbremse würde ich auch noch dazurechnen, zumindest ein Einstieg in die Frauenquote, wenn auch ein sehr schwacher, Mindestlohn und die Abschaffung des Optionszwangs bei der Staatsbürgerschaft – das ist ja keine generelle doppelte Staatsbürgerschaft, sondern nur für die, die künftig hier geboren werden.
    Kaess: Aber es soll ein Einstieg sein, wenn man Parteichef Sigmar Gabriel glaubt.
    Özdemir: Ja. Dann wird man sehen, ob es einen zweiten Schritt auch gibt. Vieles bei dieser Koalition ist ja nicht wirklich gelöst, sondern es wird erst mal geprüft, es gibt sehr viele Prüfaufträge. Aber ich will fair sein: Die Punkte, die ich genannt habe, die kann man, denke ich, auf der Habenseite verbuchen. Aber zwei ganz zentrale Punkte, nicht nur für Bündnis 90/Die Grünen, sondern für die Zukunft unseres Landes - das ist einerseits der Klimaschutz und andererseits, wie es weitergeht mit Europa -, das sind Punkte, da hat sich die Koalition nicht nur nicht herangetraut, sondern wenn sie was macht, macht sie das falsche.
    Kritik an Europa- und Klimapolitik
    Kaess: Was hätten Sie sich mehr gewünscht?
    Özdemir: Um mal mit Europa anzufangen: Wir haben keine Antwort auf die Altschulden-Problematik. Es ist nach wie vor so, dass das, was die Union bislang gemacht hat, nämlich einseitig auf die Sparpolitik zu setzen, das wird jetzt auch von der SPD gemacht. Ich erinnere daran, dass im SPD-Programm ganz andere Dinge drin standen. Wir haben damals in der Opposition gemeinsam mit der SPD ein Papier zu Europa gemacht. Das findet sich nun gar nicht in dieser Koalition, sondern offensichtlich hat die SPD für Europa keine eigenständigen Vorstellungen. Es reicht hier, dass Herr Schulz, der bisherige Präsident des Europaparlaments, nächstes Mal möglicherweise Kommissionspräsident wird. Der Preis, den wir dafür europaweit zahlen, ist allerdings ein sehr hoher.
    Kaess: Und zum Klimaschutz?
    Özdemir: Beim Klimaschutz waren wir mal Vorreiter. Ich erinnere daran, dass viele Länder auf uns geschaut haben, gerade wegen der Energiewende, und von Deutschland nicht nur europapolitische, sondern auch globale Impulse erhofft haben. Wer Warschau gesehen hat, der hat schon gesehen (also den Klimagipfel), wie künftig Deutschlands Rolle sein wird, von der SPD unterstützt. Wir werden der Bremser sein. Wir setzen auf Kohle, die erneuerbaren Energien werden ausgebremst, die Ausbauziele sind sehr, sehr unterambitioniert. Das ist klar. Was hier nicht mehr gewünscht wird, ist, dass die Energiewende ein Standortfaktor für Deutschland wird, sondern künftig sind wir wieder Atom durch Kohle. Damit werden wir kein Vorbild werden, sondern ganz im Gegenteil.
    Kaess: Das Ganze war ja auch kein Wunschkonzert, sondern man musste sich ja wirklich auf gewisse Kompromisse einlassen. Auf der anderen Seite, Herr Özdemir: Alles Vereinbarte, die Investitionen in Infrastruktur, Bildung und Forschung, Kinderbetreuung, Entlastung der Kommunen, das alles ohne Steuererhöhungen, da müssten Sie doch auch sagen "Respekt!".
    Özdemir: Na ja, ohne Steuererhöhungen, aber mit Ausgaben, von denen wir nicht wissen, wie sie gegenfinanziert sind. Aber einen Vorschlag, den konnte man ja schon sehen, wie man dann durch Tricks versucht, Geld zu bekommen, nämlich indem man in die Rentenkasse greift. Der Rentenbeitrag müsste eigentlich von 18,9 auf 18,3 Prozent sinken, also vom Bruttolohn, und das passiert nicht nur nicht, sondern ganz im Gegenteil: Man macht die Rentengeschenke, die man sich vorgenommen hat, durch die Rücklagen der Rentenkasse. Das heißt, bezahlen tun die Beitragszahler und künftige Generationen, und das scheint mir das Prinzip dieser Regierung zu sein.
    Kaess: Dennoch kann die SPD ja von sich jetzt sagen, sie hat die Fehlentwicklungen der Agenda 2010 ausgebessert. Was haben denn die Grünen eigentlich im sozialen Bereich noch dagegenzusetzen?
    Finanzierung auf Kosten der künfitgen Generation
    Özdemir: Wenn man sich damit zufriedengibt, dass man einen Mindestlohn bekommt und einen Einstieg in die doppelte Staatsbürgerschaft, dann glaube ich auch, dass die SPD-Mitglieder Ja sagen werden. Aber wenn man einen Gestaltungsanspruch hat, wenn man Projekte vorhat, wenn man ein gemeinsames Fundament sucht, dann ist das Fehlanzeige bei dieser Koalition. Man kann, glaube ich, als Überschrift sagen: "Der gemeinsame Machterhalt wird gesichert", aber den Preis dafür, den zahlt die Zukunft und den zahlen künftige Generationen.
    Kaess: Herr Özdemir, müssen Sie nicht zugeben, dass es immer schwieriger wird für die Grünen, sich mit Themen zu profilieren?
    Özdemir: Da ist sicherlich ein Risiko dabei, denn die dissenting votes, also abweichende Stimmen innerhalb der Koalition, gerade wenn es so eine Große Koalition wird, werden für Sie als Journalisten natürlich interessanter werden, und die wird es in Hülle und Fülle geben. Das wird nur nichts am Kurs der Regierung ändern.
    Aber trotzdem befürchte ich, dass es erst mal so wird, dass die Opposition in der Großen Koalition für viele Journalisten interessant sein wird und für uns als Opposition oder als echte Opposition. Wir werden uns anstrengen müssen, durchzudringen gegenüber dieser Großen Koalition. Ich rate trotzdem dazu, das konstruktiv zu machen, so wie man Bündnis 90/Die Grünen kennt.
    Kaess: Wie wollen Sie denn durchdringen? Welche Strategie wollen Sie denn in den kommenden Jahren fahren?
    Özdemir: Erst mal ist die Große Koalition gefordert, die künftige Große Koalition, dafür zu sorgen, dass die Opposition ihren Job anständig machen kann. Das liegt im Interesse aller in dieser Republik.
    Kaess: Auf was hoffen Sie da, damit Sie nicht nur abhängig sind von der Gnade einer möglichen Großen Koalition?
    Özdemir: Na ja, der Bundestagspräsident hat ja einige Punkte genannt. Es gab auch eine entsprechende Anhörung dazu von uns. Es geht da beispielsweise um die Frage, dass man einen Untersuchungsausschuss einberufen kann. Es geht um die Frage, ob wir in der Lage sind, Parlamentsdebatten spannend zu machen. Wenn von einer halbstündigen Debatte 24 Minuten von der Regierung bestritten werden und die restlichen sechs Minuten wir mit Herrn Gysi uns teilen müssen, dann, befürchte ich, werden Bundestagsdebatten künftig sehr langweilig. Dann wird es eine Lobhudelei auf die Regierung geben von Regierungsabgeordneten. Ich denke, das ist auch nicht im Interesse der Regierungsfraktionen, die wollen ja auch nicht einschlafen.
    Kaess: Aber das heißt, Herr Özdemir, Sie haben durchaus bisher den Eindruck, dass Union und SPD ein Gespür für die Minderheitenrechte im Bundestag haben?
    Özdemir: Bis jetzt habe ich den Eindruck, dass sie vor allem daran interessiert sind, dass ihre Regierung zustande kommt. Das ist erst mal nichts Unanständiges, aber sie sollten auch ein Interesse daran haben, dass das Parlament arbeitsfähig ist. Mit dem heute geplanten Hauptausschuss im Deutschen Bundestag passiert das nicht. Unsere Verfassung sieht einige Ausschüsse zwingend vor. Die könnte man jetzt bereits einsetzen.
    Kaess: Aber der Hauptausschuss beendet doch gerade acht Wochen Stillstand im Bundestag. Da müssten Sie doch eigentlich froh sein darüber?
    Özdemir: Der Hauptausschuss ist nichts, was bei uns in der Verfassung vorgesehen ist. Das ist ein etwas seltsames Konstrukt. Da soll alles reingepackt werden, was in Ausschüsse muss. Das ist nicht das, wie unsere Verfassung eigentlich vorhat zu arbeiten, oder wie die Verfassungsväter und Mütter gedacht haben, dass die Verfassung arbeitet. Aber noch mal: Entscheidend werden natürlich die nächsten vier Jahre sein. Da wird unsere Position sein, dass wir uns genau anschauen, was die Koalition macht. Was sie richtig macht, werden wir auch entsprechend benennen, und dort, wo sie gerade beim Klimaschutz oder bei Europa auf einen falschen Pfad geht, oder auch beim Thema Bürgerrechte – denken Sie an die Vorratsdatenspeicherung -, werden wir das sehr klar sagen, und spätestens im Bundesrat sehen wir uns wieder.
    Kaess: Die Meinung von Cem Özdemir, Parteichef der Grünen. Danke für dieses Gespräch heute Morgen, Herr Özdemir.
    Özdemir: Gerne! Tschüß! Schönen Tag.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.