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König Zosimo

Eine gediegene Straße im Norden Roms: gelb und rot gestrichene Wohnhäuser der Jahrhundertwende, ein paar Palmen, flanierende Hausfrauen beim Einkaufen und tadellos gekleidete Angestellte, die zur Mittagspause eilen – hier wohnt Andrea Camilleri. Ein vierschrötiger Sizilianer mit einer Zigarette im Mundwinkel öffnet uns die Tür, er ist 78 Jahre alt und mit sieben Millionen verkauften Büchern der beliebteste Schriftsteller des Landes. Freundlich führt er uns durch die Wohnung und lässt uns in seinem Arbeitszimmer Platz nehmen. Sizilianische Marionetten zieren die Wände, Übersetzungen seiner Bücher aus aller Welt stapeln sich auf dem Schreibtisch, fortwährend rattert das Faxgerät und klingelt das Telefon. Camilleri ist der Erfinder des legendären Commissario Montalbano, der es zum berühmtesten Staatsbeamten Italiens brachte und inzwischen mit großem Erfolg verfilmt wurde, aber neben der Krimiserie schreibt Andrea Camilleri seit jeher historische Romane: vor Erzähllust berstende Gebilde, mit weit verzweigten Handlungsstrukturen, verwinkelt wie ein sizilianisches Dorf, die meistens in der Zeit vor der italienischen Einigung spielen und oft um eine wahre Begebenheit herum gesponnen sind. König Zosimo heißt Camilleris neuster Ausflug in die Geschichte seiner Heimatinsel.

Maike Albath | 06.08.2003
    Es war alles ein purer Zufall. Ich betrat eine Buchhandlung und stieß auf ein kleines Buch über die Geschichte von Agrigento, das früher "Girgenti" hieß, und dort war in zwei Zeilen festgehalten, dass dieses Städtchen für einen sehr kurzen Zeitraum von sechs oder sieben Tagen einmal ein freies Königreich gewesen war. Und an der Spitze dieses Königreichs stand ein Bauer. Mehr erfuhr ich nicht. Ich begann, gründlicher zu recherchieren, bekam aber nur sehr wenig heraus. Das eher magere historische Material über diese doch eigentlich außergewöhnliche Begebenheit verwendete ich für meinen Roman König Zosimo , und den Rest erfand ich hinzu. Es ging mir darum, eine Art Sittengemälde zu erschaffen, etwas über das sizilianische Leben zu Beginn des 18. Jahrhunderts zu erzählen, über die Umgangsformen und Gebräuche dieses Menschenschlags.

    Mit einer Mischung aus zärtlicher Verschmitztheit und treffsicherer Ironie porträtiert Andrea Camilleri seine Landsleute und entwirft ein ganzes Panorama der sizilianischen Gepflogenheiten um 1700. Die Insel war von Fremdherrschaft gebeutelt, ein Machthaber löste den nächsten ab, die Bauern und Tagelöhner waren bitterarm. Als roter Faden dient Zosimos Biographie: von seiner Zeugung über seine Geburt, die Kinderjahre bis hin zum Mannesalter bildet sein Werdegang das dramaturgische Scharnier der Geschichte. Camilleri entwirft eine Art Hagiographie mit satirischer Schlagseite, denn natürlich handelt es sich bei Zosimo um eine Erlöserfigur der besonderen Sorte. Er ist ein frühreifes Kind, verweigert mit drei Monaten die Muttermilch, beherrscht noch vor seinem ersten Geburtstag die Sprache der Erwachsenen, verblüfft seine Umgebung durch tiefgründige Bemerkungen, studiert schon als kleiner Junge lateinische Schriften und beginnt, für das Geschick seines Volkes Sorge zu tragen. Als er heranwächst, wird das Land von einer großen Dürre und Hungersnot erfasst, die jahrelang anhält. Zosimo durchschaut die Ränkespiele der Machthaber und findet einen Ausweg: Er verhandelt mit dem Kardinal von Agrigento, der das von den Reichen gehortete Getreide aufkaufen und an die Untertanen verteilen soll. Als die Mächtigen ihre geplagten Untergebenen doch noch übers Ohr hauen wollen, entpuppt sich Zosimo als gewitzter Stratege. Er wird zum Vorkämpfer einer allumfassenden Gerechtigkeit, und eines Tages krönen ihn die Bauern in einer Nacht- und Nebelaktion zum König. Zosimos Regentschaft ist nur ein Intermezzo – aber sie gibt den Menschen die Hoffnung, ihr Volk nach ihren Vorstellungen regieren zu können.

    Das ist eine interessante Sache, denn es existiert keine bäuerliche Kultur – und ich spreche jetzt nicht nur von Italien – die nicht den Versuch unternähme, eine universelle Gerechtigkeit zu installieren. Unglaublich, aber genauso ist es. Deshalb wollte ich auch in König Zosimo davon erzählen. Da ich aber keine historischen Dokumente auftreiben konnte, habe ich mich auf einen sizilianischen Lyriker bezogen, nämlich Abate Meli. Er hat eine sizilianische Variante von Cervantes Don Quijote verfasst. Und ich habe von ihm das Konzept der universellen Gerechtigkeit geklaut, das er seinem Don Quijote auf den Leib schreibt. Das habe ich übernommen und umgeformt.

    Sieben Jahre lang hat Andrea Camilleri, der sonst unbeirrbar alle zwölf Monate einen neuen Montalbano-Krimi produziert, an König Zosimo gearbeitet und mit dem dickleibigen Roman eines seiner Hauptwerke geschaffen. Ihm gelingt eine schillernde Mischung aus Schelmenroman, Historiengemälde und Satire; phantastische Elemente, Anspielungen auf die sizilianische Volkskultur, literarische Paraphrasen und geschichtsphilosophische Betrachtungen ergeben einen mitreißenden Erzählstrom, der von einer fabulierenden Leichtigkeit getragen wird. Camilleris liebstes Stilmittel ist die Übertreibung - die magische Bauernwelt ist durchdrungen von einer überbordenden Körperlichkeit. Krude, drastisch und unvermittelt erzählt Camilleri von den Trieben seiner Helden. Zosimos Vater Gisuè, zu Beginn des Romans im Schloss der Herzogin wegen eines Mordverdachts eingebuchtet, muss sich mit seiner ureigenen Manneskraft freikaufen und die kinderlose Adlige schwängern, was ihm selbstverständlich sofort gelingt. Weil er gerade so gut in Fahrt ist und um seiner Ehefrau die ungetrübte Hingabe zu beweisen, versorgt er gleich auch noch sie mit seinem Samen, woraufhin neun Monate später Zosimo zur Welt kommt. Zosimo selbst ist ebenfalls ein sinnenfroher Vertreter seiner Gattung: bevor er sich an die glutäugige Ciccina bindet, beglückt er ganze Heerscharen von jungen Sizilianerinnen.

    Es handelt sich um physische Bedürfnisse, um Triebe. Ich erzähle nicht nur in meinem Roman davon, sondern sie prägen die Wirklichkeit der gesamten Epoche. Wenn ich zum Beispiel an einen großen italienischen Theaterautor denke wie Ruzzante – bei ihm existiert eine ekstatische Körperlichkeit. Wir entdecken seit einigen Jahren den Körper und die Körperlichkeit neu, aber wir geben diesen Dingen so etwas wie ein Ziel, und das ist die Schönheit. Das mag auf der einen Seite angenehm sein. Gleichzeitig existiert aber doch auch eine andere Körperlichkeit, mit all ihren alltäglichen Bedürfnissen.

    Mit der gestylten Pseudo-Sinnlichkeit von heute haben Camilleris Helden nichts gemein: sie sind urwüchsig, lustvoll, versessen auf das Leben. Andrea Camilleri hat nicht nur eine subtile Deutung des aktuellen Italien in seinen Roman eingearbeitet; König Zosimo ist auch sprachlich eine feinsinnig ausgestaltete Komposition. In den ersten Kapiteln, die von der Beherrschung Siziliens durch die spanische Krone erzählen, versieht der Bestsellerautor das Italienische mit einem spanischen Einschlag und legt dem unsympathischen Tyrannen ein gestelztes, pseudoaristokratisches Idiom in den Mund, was einen ungeheuer komischen Effekt hat und von Moshe Kahn einfallsreich im Deutschen nachgebildet wurde. Da ist die Rede von "provisional" für provisorisch, jemand wird nicht einfach benachrichtigt, sondern "avisiert", Relativpronomina wie "welchselbiger" erfreuen sich großer Beliebtheit, und die "situacion" gleitet den beflissenen Höflingen aus den Händen. In der farbigen, bilderreichen Sprache der Bauern hat sich Camilleri von den Niederschriften mündlicher Erzählungen inspirieren lassen. Es entsteht ein sizilianisches Kolorit, das mit Folklore nichts zu tun hat: König Zosimo ist ein polyphones Gebilde mit verschiedenen Stilebenen, von idiomatischen Preziosen bis hin zu derben Witzen. Andrea Camilleri gibt Sizilien eine Stimme. Als eine Verdichtung positiver sizilianischer Charaktereigenschaften ließe sich auch sein Commissario Montalbano begreifen: ein wackerer Kämpfer gegen das Böse mit einem unbestechlichen Gerechtigkeitssinn, der morgens gern ausschläft und eine Schwäche für die süditalienische Küche hegt. Genau wie sein Held mischt sich Camilleri unerschrocken in das Tagesgeschehen ein.

    Mein neuer Montalbano, der in Italien vor einigen Wochen erschien, hat ungeheure Polemiken ausgelöst, und zwar keine literarischen, sondern politische. Montalbano ist nämlich extrem kritisch in bezug auf das neue Einwanderungsgesetz. Und er ist müde geworden, am liebsten würde er die Flinte ins Korn werfen. Vielen Leuten ist aufgefallen, dass mein neuer Montalbano-Krimi sehr viel stärker als frühere Bücher in der italienischen Wirklichkeit verankert ist. Ich verweise am Ende des Buches auf meine Quellen, und sie entstammen allesamt den Lokalseiten der Zeitungen. Montalbano fühlt sich der Entwicklung der Wirklichkeit, die er bekämpfen soll, menschlich fast nicht mehr gewachsen.

    Im Unterschied zu seinem Commissario hat Camilleri noch nicht resigniert – der Literaturstar ist ein kritischer Zeitgenosse und nimmt kein Blatt vor den Mund. Er äußert sich zu den politischen Verhältnissen, seine Popularität benutzt er dabei als Plattform – vielleicht hören ihm die Montalbano-Leser eher zu als irgendeinem Politiker. Gemeinsam mit anderen italienischen Intellektuellen beteiligt sich Camilleri an den sogenannten Movimenti, politischen Gruppierungen jenseits der etablierten Parteien, schreibt regelmäßig für die kulturphilosophische Zeitschrift MicroMega und macht immer wieder auf die Aushöhlung der demokratischen Prinzipien unter Berlusconi aufmerksam. Der Diskussionsbedarf ist groß – beinahe täglich erreichen Camilleri Einladungen zu Talkshows und Interviews, und vor zwei Jahren bot ihm das Mitte-Links-Bündnis eine Kandidatur in Sizilien an. Camilleri lehnte ab – aber nur aus Altersgründen. Lange vor den Ausfällen Berlusconis auf internationaler Bühne und den Attacken des Staatssekretärs Stefani gegen die deutschen Touristen prangerte Camilleri öffentlich die populistische Politik der Regierung an. Mit Berlusconi habe das Kleinbürgertum gesiegt und einem grenzenlosen Materialismus Tür und Tor geöffnet, die Folge sei eine Barbarisierung der Gesellschaft und eine allgemeine Verrohung der Sitten.

    Die Rolle des Schriftstellers könnte sich in Zeiten wie diesen sehr wohl ändern. Die Versuchung ist eben – und ich kann das gut verstehen –, dass man sich in den Elfenbeinturm zurückzieht und sagt, gut, an diesem Punkt erzähle ich ganz einfach meine Geschichten und Gute Nacht. Meine Position ist das nicht. Ich kann nicht einfach meinen Bauchnabel betrachten und die Geschichte der Betrachtung meines Bauchnabels erzählen. Danach ist mir nicht zumute. Es entspricht mir nicht. Ich glaube, der Schriftsteller ist insofern wichtig, als dass er die Geschehnisse - nicht verändert, denn das kann er nicht -, aber beobachtet, wahrnimmt und seine Interpretation darlegt. Der Schriftsteller muss das Chaos interpretieren.

    Italien kann froh sein, dass es Schriftsteller wie Camilleri besitzt. Solange Andrea Camilleri seinen Commissario auf Verbrecherjagd schickt und seine Heimat mit Betrachtungen über die Untiefen der Historie und die Gefahren der Gegenwart versorgt, besteht Hoffnung.