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Königin der Pariser Revuetheater

Fast ein halbes Jahrhundert beherrschte "La Mistinguett" oder "Miss", wie die Franzosen die Sängerin und Tänzerin nennen, die Bühnen der Pariser Revuetheater. Schon zu Lebzeiten war sie Legende und noch heute, 50 Jahre nach ihrem Tod, findet man sie an jeder Straßenecke rund um das Moulin-Rouge - auf Postkarten.

Von Vanessa Löwel | 05.01.2006
    "Und dann wird es plötzlich ganz laut, die Saxophone quäken, ein Takt, den ich kenn, tönt…

    …Da ist Mistinguett. Sie ist alt, aber das Publikum nimmt sie immer noch auf den Arm. Wenn sie parisiert, rauscht es durch die Stehplätze - da fühlen sich alle zu Hause. Sie ist frech; sie hat die größten Reiher und die grünsten Kostüme. ...Ja, sie noch gut."

    So beschreibt Kurt Tucholsky 1926 den Auftritt der legendären Revuesängerin im Moulin-Rouge.

    Im Paris der 20er Jahre gibt der Charleston den Takt an. Es ist die Zeit der Revuetheater, der Music-Halls. In deren aufwändigen Shows sind die Orchester laut, die Chansons frivol und die Kostüme glitzernd.

    "Music-Hall: das sind Frauen, das sind Federn, das sind Leute. Nichts und alles. Alles, das ist das Leben. Die Music-Hall bin ich."

    ...schreibt Mistinguett in ihren Memoiren. 1920 gelingt ihr der letzte große Durchbruch. Mit 45 Jahren, einem Alter, in dem sich Revuestars zur Ruhe setzen, singt sie in ihrem Kleid aus seidenen Rosenblättern "Mon homme" - ein Welterfolg. Die 20er Jahre feiern sie als "Reine du Music-Hall", als Königin.

    Ihr Erfolg bleibt all denen, die nur ihre Stimme erleben können, ein Geheimnis. Mistinguett ist keine begnadete Sängerin. Doch wer sie auf der Bühne erlebt, dem geht es wie Tucholsky, der kann sich ihrem Charme nicht entziehen. Sie hat Showtalent: Ihre Grimassen bringen die Menschen zum Lachen. Ihre glitzernden Kostüme mit aufwändigem Federschmuck sind atemberaubend. Keine ihrer Revuen endet ohne die Treppe, von der sie majestätisch hinabgleitet und dabei ihre sagenhaften Beine zeigt.

    "Ich erhielt den eindrucksvollsten Brief, den eine Künstlerin erhalten kann. Er kam von Rodin: "Müsste ich die Muse der Music-Hall gestalten, so müsste sie ihre Beine haben, Mistinguett." Meine Beine. Das große Wort war gefallen."

    Die Lieder, mit denen sie auftritt, sind freche Gassenhauer. Mistinguett singt sie stets im "Argot", der Sprache der Pariser Unterschichten, die auch ihre Sprache ist. Sie trägt zwar das strahlende Gewand einer Königin, doch sie verleugnet ihre Herkunft nicht. Für viele verkörpert sie damit den Traum des sozialen Aufstiegs.

    Mistinguett wird 1875 als Jeanne Bourgeois in einem Pariser Vorort geboren. Ihre Mutter ist Hutmacherin, ihr Vater stopft Matratzen.

    "Ich war acht Jahre alt, als ich meinen Eltern erklärte: "Ich bin eine geborene Künstlerin. Ich will zum Theater.""

    Jeanne trotzt ihrer Mutter Geigenstunden ab und darf mit dem Zug jeden Tag ins Paris der Belle Epoque fahren. Doch statt zum Unterricht zu gehen, treibt sie sich in zweitklassigen Boulevardtheatern rum. Sie nennt sich nun Mistinguett. Mit 18 Jahren debütiert sie mit einem kurzen Chanson im "Casino". Doch erst mit dem Apachentanz wird sie 1909 berühmt. Bei dieser als Tanz inszenierten Prügelei wird Mistinguett von ihrem Partner durch die Luft geworfen, an den Haaren über die Bühne geschleift. Das Publikum ist begeistert. Mistinguetts Name taucht auf den Programmen der großen Revuen auf. Ihr neuer Partner ist der junge Maurice Chevalier: Die "Miss" und Maurice sind zehn Jahre lang Paris' Traumpaar, auf der Bühne wie im Leben. Dann zerbricht die Liebe - am Ehrgeiz beider Künstler, wie Maurice Chevalier beschreibt:

    "Wir gerieten uns in die Quere, weil wir beide den aufrichtigen Wunsch hatten, unsere Zuhörer zu befriedigen. Zwei Hunde vor demselben Knochen. Mit gefletschten Zähnen. Und Mistinguett hatte die schönsten Zähne der Welt."

    Nach Chevalier kommen andere Liebhaber. Doch nie wieder lässt sie jemanden zwischen sich und das Publikum. Um dessen Zuneigung aber kämpft sie verbissen. Bald übernimmt sie nicht nur die Hauptrollen in den Revuen, sondern auch deren Leitung und herrscht streng über Darsteller, Kostüme, und Choreografie. Nun wird sie die "Missolini" der Music-Hall genannt.

    "Mein einziges Laster ist mein Beruf. ...Es ist das Einzige, was mich interessiert."

    So tanzt Mistinguett noch mit 75 Jahren auf der Bühne in der Hoffnung, dass die Glitzerkleider, die Schminke und der jugendliche Tänzer an ihrer Seite ihr wahres Alter verdecken. 1951, mit Ende 70, tritt sie ein letztes Mal am Broadway auf und ist empört, als in der Zeitung steht, ihre Beine seien nicht mehr ganz so aufreizend. Wenig später zwingt sie ihr Körper, das Rampenlicht endgültig zu verlassen. Sie stirbt kurze Zeit später, am 5. Januar 1956. Ihr Leben war die Music-Hall.