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Komplizierte Vergangenheit

Paläoanthropologie. - Eine der großen Errungenschaften der Menschheit ist die Entdeckung von Ackerbau und Viehzucht und die Seßhaftigkeit. Doch selbst mit neuesten molekulargenetischen Methoden ist die Verbreitung dieser Errungenschaft offenbar nur schwer nachzuzeichnen. Auf dem Kongreß "Facetten der modernen Anthropologie" in München wurde die Ausbreitung des Ackerbaus in Europa thematisiert.

Von Michael Stang |
    Für die Anfänge der Jungsteinzeit in Europa gibt es drei Szenarien, wie es zu dem Übergang von jagenden Nomaden zu sesshaften Bauern kam. Erster Fall: alle Nomaden wurden von Neuankömmlingen vollständig verdrängt. Zweiter Fall: Die Neuankömmlinge und die Nomaden vermischten sich oder - dritter und letzter Fall: lediglich die Idee der Viehzucht und der Sesshaftigkeit setzte sich damals erfolgreich durch, ohne dass sich die Bevölkerung genetisch änderte. Um diese Frage beantworten zu können, stehen der archäologischen Forschung heutzutage nicht mehr nur klassische beschreibende Methoden zur Verfügung, sondern zunehmend auch genetische. Da die heutige Bevölkerung genetisch bekannt und populationsgenetische Ereignisse wie etwa Wanderungen oder Krankheiten verstanden sind, kann man theoretisch im Umkehrschluss zurückrechnen, wie die damalige europäische Bevölkerung genetisch ausgesehen haben muss.

    "Ausgehend von den rezenten Daten war anzunehmen - da die Neolithisierung Europas der letzte große demographische Prozess in Europa darstellte, dass dieser noch in den heutigen Daten zu spüren sein müsse","

    sagt Wolfgang Haak von der Universität in Mainz. Der Anthropologe wollte diese Überlegungen in der Praxis testen. Gemeinsam mit seinen Kollegen sammelte er Vergleichsmaterial aus der damaligen Zeit, um diese These zu überprüfen. Haak:

    ""Wir hatten circa 100 Skelettindividuen aus den frühbäuerlichen Kulturen Europas untersucht und zwar haben wir DNA aus Zahn- oder Knochenproben isoliert. Die Skelette kamen hauptsächlich aus Mitteleuropa. Die ältesten Proben sind etwa 8000 Jahre alt, die jüngsten etwa 6000."

    Dabei interessierte die Mainzer Wissenschaftler vor allem eines: unterscheiden sich die damaligen Europäer überhaupt von der heutigen Bevölkerung? Oder gab es tatsächlich so etwas wie eine kontinuierliche Entwicklung? Ein paar 1000 Jahre sind im Hinblick auf die Evolution nur ein Wimpernschlag. Für eine Bevölkerung kann jedoch eine genetische Variante, wie etwa eine bestimmte Krankheitsresistenz, von entscheidender Bedeutung sein. Überlebt beispielsweise bei einer Epidemie nur der Teil der Bevölkerung, der diese Resistenz aufweist, ist der genetische Durchschnitt dieses Volkes auf einmal ein ganz anderer als vorher. Bei der Auswertung der Daten sahen Wolfgang Haak und seine Kollegen sofort, dass unsere jungsteinzeitlichen Vorfahren genetisch ganz anders aussahen als die heutigen Bewohner Europas. Das bedeutet, dass es keine kontinuierliche Entwicklung von der Jungsteinzeit bis in die heutige Zeit gab. Die Gründe dafür liegen für Wolfgang Haak auf der Hand:
    "Die Formung des europäischen Genpools war mit der neolithischen Revolution nicht beendet, sondern Prozesse, die nach der Jungsteinzeit vonstatten gingen, hatten weitaus größeren Einfluss auf den heutigen Genpool als angenommen."

    Diese Prozesse sind vor allem große Völkerwanderungen, die mit der Ausbreitung bestimmter Kulturen und Epochen einhergingen. Als Jahrtausende später Heerscharen ganze Teile der Erde eroberten, müssen viele genetische Einflüsse die Bevölkerung geprägt und verändert haben. Die jungsteinzeitliche Revolution war doch ein rein kulturelle und keine genetische. Haak:

    "Es scheint, als könnte man nicht allein aus Rezentdaten die Bevölkerungsdynamik vergangener Zeiten rekonstruieren. Stattdessen können wir unsere Methode der genetischen Zeitreise nutzen um festzustellen, wie an einem ausgesuchten Zeitpunkt die Datenlage ist und daraus Bevölkerungswandel über Bevölkerungsdynamiken erschließen."

    Damit konnten Wolfgang Haak und seine Kollegen nachweisen, dass der Blick in die Vergangenheit manchmal keine Antworten liefert, sondern weitere Fragen aufwirft. Die Anfänge der Viehzucht und Sesshaftigkeit sind damit weitaus komplizierter, als bislang angenommen.