"Hier war vor zwei Jahren alles zerstört", erzählt Naumann Saled, ein hoch gewachsener Soldat mit kräftigem Vollbart und selbstbewusstem Auftreten aus der Hauptstadt Islamabad, "die Häuser, das Gesundheitszentrum, alles." Dann gab es Tauwetter im eisigen Verhältnis zwischen den feindlichen Brüdern Pakistan und Indien. Neu Delhi und Islamabad vereinbarten einen informellen Waffenstillstand. Das Dorf Tschakothi wurde wieder aufgebaut und die Bewohner der Grenzregion durften sogar wieder über den Weg zu ihren Feldern gehen, die kurz hinter der Grenzlinie liegen. Eine Mauer, übersät mit Einschusslöchern, erinnert an die Zeit der heftigen Kämpfe.
Doch nun herrscht wieder Eiszeit zwischen den beiden Ländern, die drei Kriege gegeneinander führten, seit sie 1947 gegründet wurden. "Jede Nacht", heißt es in Berichten aus der pakistanischen Hauptstadt Islamabad, "wird geschossen." Tausende von Bewohnern beiderseits der Grenze wurden evakuiert. Das indische Fernsehen zeigt Bilder von Truppenkonvois, die nicht nur in Kaschmir, sondern auch im Bundesstaat Rajasthan in die Thar-Wüste geschickt werden.
Der weiße Krankenwagen hält im Schatten eines Gefechtsstands. "100 Meter bis zur Front", heißt es auf einem säuberlich beschrifteten weißen Schild. Durch einen tiefen Schützengraben geht es zwischen dichtem Gebüsch zu einem Vorposten. Etwa ein Meter dick ist die säuberlich mit Beton verputzte Steinmauer an der "gefährlichsten Stelle der Welt", wie der ehemalige US-Präsident Bill Clinton einmal die Demarkationslinie zwischen den beiden Atommächten Indien und Pakistan beschrieb.
Zwei Soldaten, Stahlhelme auf dem Kopf und Maschinenpistolen unter dem Arm, reichen Ferngläser. Doch die sind überflüssig. Der Feind ist so nah, dass die gegnerischen Unterstände per Steinwurf getroffen werden könnten. Nur ein kleiner Bach trennt hier die rund 1,3 Millionen Mann starke Armee Indiens und die 600 000 Soldaten zählenden Streitkräfte Pakistans. Im Grün des anderen Ufers lugt das Stück eines rostbraunen Wellblechdachs zwischen Felsen und Tarnnetzen hervor.
Plötzlich blinkt gleißendes Licht auf. Einer der indischen Soldaten lässt mit einem kleinen Spiegel die Sonne reflektieren. Die pakistanischen Soldaten kennen das Spielchen. Es gehört zu dem Repertoire der Hänseleien, die von beiden Seiten eingesetzt werden, wenn an der Demarkationslinie einmal nicht geschossen wird. "Wir reden nie miteinander", erzählt Oberstleutnant Saled. An Sprachschwierigkeiten kann es nicht liegen. Das pakistanische Urdu unterschiedet sich kaum von dem Hindi, dass in dem Bunker auf der anderen Seite gesprochen wird. In einer Ecke der pakistanischen Befestigungen steht ein altertümliches Telefon, der direkte "heiße Draht" zur indischen Seite. ES wird ebenfalls fast nie benutzt. Die Kommandeure des Grenzabschnitts sprechen alle paar Monate schon einmal per Funk miteinander. Meistens geht es dabei um die schmale Hängebrücke, die in Sichtweite des Bunkers den Bach überspannt. Sie wird sorgfältig gepflegt, seit Jahren schon, damit sie nicht einbricht. Wozu die Soldaten sich die Mühe machen, ist unklar. "Wir benutzen sie nie", macht Saled klar. "Das gesamte Gebiet ist vermint", sagt der Offizier, "hier kann niemand über die Grenze."
Pakistans Streitkräfte pochen bei den organisierten Besuchen in Grenzbunkern immer wieder auf einen Punkt: Die Demarkationslinie sei so streng bewacht und so sehr vermint, dass niemand vom pakistanischen Teil Kaschmirs in den indisch kontrollierten Teil Kaschmirs wechseln könne. Doch genau das ist der Vorwurf, den Indien immer wieder erhebt. Mit Unterstützung der pakistanischen Streitkräfte, so beharrt Neu Delhi, würden in Pakistan trainierte und von Islamabad finanzierte islamische Untergrundkämpfer, die während der vergangenen Jahre auch enge Kontakte zu den radikalislamischen Taliban-Milizen in Afghanistan unterhielten, in den indisch kontrollierten Teil Kaschmirs einsickern.
Seit es in den Jahren 1989 und 1990 die ersten Demonstrationen gegen die indische Kontrolle in Kaschmir gab, stationierte Neu Delhi immer mehr Sicherheitskräfte in der idyllischen Bergregion. Doch den ersten Streit gab es schon 1947, kurz nach der Gründung von Indien und Pakistan. Der damalige Maharadscha von Kaschmir, Hari Singh, wollte einen eigenen Staat. Unter dem Druck Pakistans, sich Islamabad anzuschließen, orientierte Singh sich nach Neu Delhi. Pakistan schickte Truppen, der erste Kaschmir-Krieg begann. Nach dem Waffenstillstand im Jahr 1949 behielt Pakistan ein Drittel des Territoriums, China sicherte sich einen Teil und Indien versprach den Vereinten Nationen eine Volksbefragung, bei der die Bewohner selbst würden entscheiden können. - Das Referendum fand nie statt. Stattdessen folgte im September 1965 ein zweiter Kaschmir-Krieg. Aber selbst im Jahr 1971, als Neu Delhi und Islamabad sich im heutigen Bangladesch bekämpften, wurde auch an der Demarkationslinie in Kaschmir gekämpft. 1989 begannen dann die Aktivitäten islamischer Untergrundgruppen, die teilweise von Pakistan aus operieren.
"Es gibt keine Familie mehr, die nicht von dem Konflikt betroffen wurde", sagt der Soziologe Bashir Ahmed Dabla von der Universität Kaschmir in Srinagar. Aber weil Indien diesen Konflikt nicht "internationalisieren" will, dürfen auch keine ausländischen Organisationen humanitäre Hilfe leisten. "Die indischen oder kaschmirischen Hilfsgruppen sind bis auf wenige Ausnahmen alle korrupt," sagt selbst der indische Beamte Kurshid Ahmed Ganai und drückt damit nur eine Meinung aus, die im Kaschmirtal von vielen der 6-einhalb Millionen Einwohner geteilt wird. Natürlich schaut der indische Staat nicht tatenlos zu, wie Ganai anhand einer Liste nachweisen kann. 100 000 Rupien(2500 Euro) gibt es als Entschädigung für den Tod eines Angehörigen, umgerechnet 1900 Euro für bleibende Behinderungen und 625 Euro für Verletzungen. Über anderthalb Milliarden Rupien - etwa 35 Millionen Euro - haben die Behörden seit 1990 ausbezahlt. Jährlich stellt die Regierung in Neu Delhi insgesamt 130 Millionen Euros für die "innere Sicherheit" Kaschmirs bereit. Die Kosten der Streitkräfte sind darin nicht eingeschlossen. Aber nur rund 15 000 Kaschmiris erhielten seit 1990 Entschädigungen. Der Grund, so Ganai: "Nur Unschuldige kriegen etwas." - Vermuten die Sicherheitskräfte nämlich, dass ein Kaschmiri Verbindungen zu den "militants" hatte, wie die Opponenten gegen die indische Kontrolle genannt werden, gibt es kein Geld. Eine Million Soldaten stehen sich an der Grenze zwischen Indien und Pakistan gegenüber, so viele wie schon seit 15 Jahren nicht mehr. Ein martialisches Aufgebot, das sich tagtäglich gegenseitig mit Artillerie-Beschuss eindeckt.
Von der Papierform her steht der Verlierer im Falle eines klassisch definierten Krieges eigentlich fest: Pakistans Militär hält gerade einmal 2300 Panzer in seinen Depots bereit, nicht einmal die Hälfte des 5000 Panzer umfassenden indischen Arsenals. Islamabad kann ganze 350 Kampfflugzeuge aufbieten, Indien besitzt immerhin 700 solcher Jets. Doch die Zahlen sagen wenig aus. In der Thar-Wüste des indischen Bundesstaats Rajasthan herrschen gegenwärtig Temperaturen von 50 Grad Celsius - zu heiß, um Panzer in die Feldschlacht zu schicken. Und viele MIG-Kampf-Flugzeuge der indischen Luftwaffe fallen auch ohne Feindeinwirkung vom Himmel - wegen Wartungsmängeln.
Beide Seiten haben während der vergangenen Jahre versucht, ihre Militärpotential durch Kurz- und Mittelstrecken-Raketen zu erhöhen. Die Führungen der beiden Atommächte hoffen, bald Nuklearsprengköpfe bauen zu können, die auf diese Trägerwaffen passen. Ihr maximales Gewicht kann eine Tonne betragen und in den Labors beiderseits der Grenze wird fieberhaft an der Entwicklung solcher Gefechtsköpfe gearbeitet:
Pakistans Militärdiktator General Pervez Musharraf gab jetzt vor wenigen Tagen öffentlich einen neuen Raketentest bekannt. - Die "Ghauri" mit einer Reichweite von 1500 Kilometern habe ihr Ziel wie geplant getroffen. Die anwesenden Honoratioren brechen in lauten Jubel aus.
Denn dank der Reichweite der "Ghauri" von 1500 Kilometern verändert sich die militär-strategische Lage in Südasien. Indiens wichtigste Städte liegen jetzt im Bereich möglicher Raketenangriffe. Talat Masud, ein ehemaliger General und Staatssekretär im pakistanischen Verteidigungsministerium:
Der gewählte Zeitpunkt zeigt, dass wir bereit sind und Indien seine aggressive Haltung aufgeben sollte. Wir werden unser Land verteidigen und wir haben die Fähigkeit sie zu zerstören, falls sie uns angreifen. Die Bedeutung dieses Tests liegt darin, dass es für viele größere indische Städte keine Unverwundbarkeit mehr gibt.
Die Genugtuung, die in den Worten von Masud durchklingt, zeigt, in welche Rüstungspsychose sich die beiden feindlichen Nachbarn bereits hineingesteigert haben - auch wenn die Militär-Logik des pakistanischen Offiziers angesichts der atomaren Aufrüstung des Nachbarn für manchen wohl nachvollziehbar ist: Denn seit Anfang dieses Jahres steht die "Agni-2" in den indischen Munitionsbunkern. Die Reichweite dieser Trägerrakete: 2200 Kilometer.
Sridhar Rao vom IDSA, dem regierungsnahen "Institute of Defence Studies and Analysis" in der indischen Hauptstadt Neu Delhi ist sich sicher: Die "Agni-2", die Mitte Januar erfolgreich getestet wurde, macht nur Sinn, wenn sie auch mit einem Atomsprengkopf ausgerüstet wird. "Es wäre Unfug", so Rao, "die Agni mit konventionellem Zeug loszuschießen, nachdem wir so viel Geld dafür ausgegeben haben." Neu Delhi will sein Atomwaffenarsenal so weit aufrüsten, dass Indien auch nach einem feindlichen Erst-Schlag noch über die Möglichkeit zur Vergeltung verfügt. In der Zeitschrift "Agni" definierten indische Strategieexperten erstmals öffentlich ihre Version dieser angestrebten "minimalen Abschreckung":
Beim Nachbarn Pakistan müssten demnach neben mehreren militärischen Zielen sechs Städte dem Erdboden gleichgemacht werden können. Um neue Angriffe Chinas zu unterbinden, müssen laut dieser Studie acht so genannte "weiche Ziele" - sprich Städte - zerstört werden. Die Rechnung setzt sich so zusammen: Verluste und Ausfälle eingerechnet braucht Indien ein Arsenal von mindestens 2000 Raketen und einen Vorrat an waffenfähigem Plutonium von mindestens 6000 Kilogramm. Gegenwärtig verfügt das Land aber - geschätzt - nur über 425 bis 1150 Kilo Plutonium für die waffenfähige atomare Produktion. Indien denkt bislang nicht daran, sein massives Aufrüstungsprojekt zu einzuschränken. Obwohl in Indien mit seinen mehr als einer Milliarde Menschen rund 450 Millionen Bürger täglich mit weniger als umgerechnet einem US-Dollar auskommen müssen, werden beständig massive Finanzmittel in die Aufrüstungspläne des Landes gesteckt. Delhis Überlegungen müssen deshalb angesichts des jüngsten pakistanischen Raketentests ordentlich durcheinander gebracht worden sein. Nach außen hin aber gab sich der indische Verteidigungsminister George Fernandes gelassen:
Das war ein demonstrativer Akt. Pakistan versucht uns klar zu machen, dass sie nun auch Raketen für Atomsprengköpfe haben. - Wir sind davon nicht beeindruckt.
Provokative Arroganz, die zeigt, wie unversöhnlich beide Seiten übereinander denken. In Neu Delhi regiert mit Premierminister Atal Bihari Vajpayee ein Mann, dessen politische Heimat die hindu-nationalistische RSS ist - zu deutsch etwa: das "Reichsfreiwilligenkorps". Die Führer dieser Anfang des vergangenen Jahrhunderts gegründeten Sammlungsbewegung träumen von einem neuen hinduistischen Großreich, das die Schmach wieder wettmachen soll, die den Hindus nach RSS-Lesart durch islamische Eroberer während der vergangenen Jahrhunderte zugefügt worden ist.
Der Berufspolitiker Vajpayee galt lange als das liberale Aushängeschild des Hindu-Nationalismus. Die eigenen Parteifreunde nannten ihn deshalb die "Maske". Alt und krank / scheint er manchmal kaum noch fähig, die Diadochenkämpfe um seine Nachfolge unter den Hindu-Nationalisten im Zaum zu halten. Doch die Energie, mit der Vajpayee die nukleare Aufrüstung seines Landes betreibt, lässt kaum einen Zweifel. Er betrachtet wie alle indischen Hindu-Nationalisten die Atombombe auch als "hinduistische Bombe", als Instrument, mit dem neue Ufer regionaler Vormacht erreicht werden können.
Doch Vajpayees Gegenüber, Pakistans Militärdiktator und selbst ernannter Präsident, General Pervez Musharraf, ist nicht weniger fest entschlossen, dem übermächtig scheinenden Nachbarn Indien die Stirn zu bieten - Musharraf hat nichts dagegen, wenn "seine Atombombe" als "islamische Bombe" bezeichnet wird. Schließlich ist Pakistan die bislang einzige islamische Nation der Welt, die über Nuklearwaffen verfügt. Niemand in der indischen Regierung traut dem General. Der Grund: Musharraf - so ist man überzeugt -steckte 1999 hinter der Besetzung der Bergregion von Kargil nördlich von Kaschmirs Hauptstadt Srinagar. Etwa eintausend Menschen kamen bei den damaligen Kämpfen ums Leben.
Wie aus erst jüngst bekannt gewordenen US-Dokumenten hervorgeht, geriet die Welt bereits damals an den Rand eines Atomkriegs. Pakistans Streitkräfte begannen, ihre Atomwaffen einsatzbereit zu machen, bevor sie dann doch vom damaligen Premierminister Nawaz Sharif und von der US-Regierung gestoppt wurden. Aber schon wenige Monate später stürzte Musharraf den gewählten Premier und regiert seither selbst.
Doch just die islamischen Untergrundgruppen, die Musharraf 1999 in Kargil halfen, machen ihm nun Probleme. "Freiheitskämpfer" nennt Islamabad jene Organisationen, die jahrelang vom pakistanischen Geheimdienst geführt und finanziert wurden. Nun aber entpuppen sie sich als Geister, die Musharraf und seine Generäle nicht mehr loswerden, seit sie sich nach dem 11. September auf die Seite der USA schlugen und ihrerseits dem Terrorismus den Kampf ansagten. Plötzlich also sollen die eigenen Ziehkinder, die unter Islamabads Anleitung sogar gemeinsam mit den Gotteskriegern von Osama Bin Ladens Gruppe "Al Kaida" in Afghanistan trainierten, an die Kandare genommen und daran gehindert werden, über die Grenze nach Indien zu gehen. Denn in den Händen dieser islamischen Fundamentalisten liegt die Lunte, mit der das atomare Pulverfass in Südasien in die Luft gejagt werden kann - und seit Oktober des vergangenen Jahres versuchen sie nach Kräften, diese Zündschnur zu entfachen.
Im Oktober des vergangenen Jahres - der Bombenkrieg in Afghanistan hatte gerade begonnen - starben Dutzende Menschen bei einem Anschlag auf das Regionalparlament in Srinagar. - kurz darauf, am 14. Dezember, starben 14 Inder, als Selbstmordattentäter das Parlament in Neu Delhi zu stürmen versuchten. Indien schrammte an einem Bürgerkrieg nur deshalb vorbei - so glauben es jedenfalls Experten - weil keine Politiker unter den Opfer waren. - Und erst vor kurzem, Mitte Mai, kam es zu einem Blutbad mit 33 Toten - die meisten davon Ehefrauen und Kinder von Mitgliedern der indischen Streitkräfte. Selbstmord-Attentäter stürmten nahe der Stadt Dshammu ein Armeecamp und nahmen einen Bus unter Feuer.
Diese Attentate sowie eine Reihe von Anschlägen in Pakistan deuten darauf hin, dass Osama Bin Laden und seine Freunde unter den kaschmirischen Rebellen offenbar entschlossen sind, den indo-pakistanischen Konflikt anzuheizen - koste es, was es wolle. Denn sie mögen in Afghanistan militärisch geschlagen worden sein, besiegt worden sind sie freilich noch nicht. Ihr Kalkül scheint zu sein: Die Spannungen zwischen Indien und Pakistan behindern die Verfolgung versprengter Reste der radikal-islamischen Taliban-Milizen und von Osama Bin Ladens "Al-Kaida"-Kämpfern und lenken von ihnen ab.
Schon jetzt konzentriert Pakistan 80 Prozent seiner Truppen an der Grenze zu Indien. Ein Krieg würde auch die nationalistischen Wellen in Pakistan, das sich als politische Heimat der islamischen Bevölkerung in Südasien betrachtet, hoch schlagen lassen. Ein Dshihad, ein "Heiliger Krieg" gegen die Hindus, so hoffen die Fundamentalisten, würde auch ihnen massiven Zulauf von den 140 Millionen pakistanischen Bürgern bringen. Der pakistanische Ex-General Talat Masud argumentiert deshalb:
Wir sehen, dass religiöse Extremisten an Boden gewinnen. Die Al-Kaida-Gruppe etwa wäre überaus glücklich, wenn sie es schaffte, Pakistan in einen Konflikt hineinziehen zu können, um die Initiative zurückzugewinnen und die gesamte Region zu destabilisieren.
Das weiß auch Neu Delhi. Doch die hindu-nationalistische Regierung Indiens steht innenpolitisch und international unter Druck. Die Pogrome hindu-nationalistischer Gruppen gegen Muslime im Bundesstaat Gudsharat halten an. 2000 Menschen starben dort seit Anfang März. Die BJP, die Partei von Premierminister Atal Bihari Vajpayee, verliert eine Regionalwahl nach der anderen. Und in Indien grassiert zudem inzwischen eine nicht ganz unberechtigte Furcht: Der Krieg der vom Westen dominierten "Koalition gegen den Terrorismus" könnte zwar das Leben in den USA und in Europa wieder sicherer machen. Indiens Interesse aber, die islamischen Untergrundgruppen auszuschalten, läuft gleichzeitig Gefahr, ins Hintertreffen zu geraten.
Neu Delhi wird offiziell kaum eingestehen, dass Washington, London oder gar Brüssel im Streit mit Pakistan vermitteln können. Eine "Internationalisierung" der Kaschmirfrage soll nämlich um jeden Preis vermieden werden.
Nutzen will Neu Delhi hingegen die mögliche Option, wonach der Westen bei Musharraf darauf drängen dürfte, die Grenze Pakistans stärker zu überwachen und den islamistischen Gruppen das Handwerk zu legen.
Dank solchem Druck ließ Musharraf schon einmal zu Jahresbeginn 2000 Mitglieder dieser Organisationen verhaften. - Rund die Hälfte davon aber befindet sich inzwischen schon wieder auf freiem Fuß.
Doch nun herrscht wieder Eiszeit zwischen den beiden Ländern, die drei Kriege gegeneinander führten, seit sie 1947 gegründet wurden. "Jede Nacht", heißt es in Berichten aus der pakistanischen Hauptstadt Islamabad, "wird geschossen." Tausende von Bewohnern beiderseits der Grenze wurden evakuiert. Das indische Fernsehen zeigt Bilder von Truppenkonvois, die nicht nur in Kaschmir, sondern auch im Bundesstaat Rajasthan in die Thar-Wüste geschickt werden.
Der weiße Krankenwagen hält im Schatten eines Gefechtsstands. "100 Meter bis zur Front", heißt es auf einem säuberlich beschrifteten weißen Schild. Durch einen tiefen Schützengraben geht es zwischen dichtem Gebüsch zu einem Vorposten. Etwa ein Meter dick ist die säuberlich mit Beton verputzte Steinmauer an der "gefährlichsten Stelle der Welt", wie der ehemalige US-Präsident Bill Clinton einmal die Demarkationslinie zwischen den beiden Atommächten Indien und Pakistan beschrieb.
Zwei Soldaten, Stahlhelme auf dem Kopf und Maschinenpistolen unter dem Arm, reichen Ferngläser. Doch die sind überflüssig. Der Feind ist so nah, dass die gegnerischen Unterstände per Steinwurf getroffen werden könnten. Nur ein kleiner Bach trennt hier die rund 1,3 Millionen Mann starke Armee Indiens und die 600 000 Soldaten zählenden Streitkräfte Pakistans. Im Grün des anderen Ufers lugt das Stück eines rostbraunen Wellblechdachs zwischen Felsen und Tarnnetzen hervor.
Plötzlich blinkt gleißendes Licht auf. Einer der indischen Soldaten lässt mit einem kleinen Spiegel die Sonne reflektieren. Die pakistanischen Soldaten kennen das Spielchen. Es gehört zu dem Repertoire der Hänseleien, die von beiden Seiten eingesetzt werden, wenn an der Demarkationslinie einmal nicht geschossen wird. "Wir reden nie miteinander", erzählt Oberstleutnant Saled. An Sprachschwierigkeiten kann es nicht liegen. Das pakistanische Urdu unterschiedet sich kaum von dem Hindi, dass in dem Bunker auf der anderen Seite gesprochen wird. In einer Ecke der pakistanischen Befestigungen steht ein altertümliches Telefon, der direkte "heiße Draht" zur indischen Seite. ES wird ebenfalls fast nie benutzt. Die Kommandeure des Grenzabschnitts sprechen alle paar Monate schon einmal per Funk miteinander. Meistens geht es dabei um die schmale Hängebrücke, die in Sichtweite des Bunkers den Bach überspannt. Sie wird sorgfältig gepflegt, seit Jahren schon, damit sie nicht einbricht. Wozu die Soldaten sich die Mühe machen, ist unklar. "Wir benutzen sie nie", macht Saled klar. "Das gesamte Gebiet ist vermint", sagt der Offizier, "hier kann niemand über die Grenze."
Pakistans Streitkräfte pochen bei den organisierten Besuchen in Grenzbunkern immer wieder auf einen Punkt: Die Demarkationslinie sei so streng bewacht und so sehr vermint, dass niemand vom pakistanischen Teil Kaschmirs in den indisch kontrollierten Teil Kaschmirs wechseln könne. Doch genau das ist der Vorwurf, den Indien immer wieder erhebt. Mit Unterstützung der pakistanischen Streitkräfte, so beharrt Neu Delhi, würden in Pakistan trainierte und von Islamabad finanzierte islamische Untergrundkämpfer, die während der vergangenen Jahre auch enge Kontakte zu den radikalislamischen Taliban-Milizen in Afghanistan unterhielten, in den indisch kontrollierten Teil Kaschmirs einsickern.
Seit es in den Jahren 1989 und 1990 die ersten Demonstrationen gegen die indische Kontrolle in Kaschmir gab, stationierte Neu Delhi immer mehr Sicherheitskräfte in der idyllischen Bergregion. Doch den ersten Streit gab es schon 1947, kurz nach der Gründung von Indien und Pakistan. Der damalige Maharadscha von Kaschmir, Hari Singh, wollte einen eigenen Staat. Unter dem Druck Pakistans, sich Islamabad anzuschließen, orientierte Singh sich nach Neu Delhi. Pakistan schickte Truppen, der erste Kaschmir-Krieg begann. Nach dem Waffenstillstand im Jahr 1949 behielt Pakistan ein Drittel des Territoriums, China sicherte sich einen Teil und Indien versprach den Vereinten Nationen eine Volksbefragung, bei der die Bewohner selbst würden entscheiden können. - Das Referendum fand nie statt. Stattdessen folgte im September 1965 ein zweiter Kaschmir-Krieg. Aber selbst im Jahr 1971, als Neu Delhi und Islamabad sich im heutigen Bangladesch bekämpften, wurde auch an der Demarkationslinie in Kaschmir gekämpft. 1989 begannen dann die Aktivitäten islamischer Untergrundgruppen, die teilweise von Pakistan aus operieren.
"Es gibt keine Familie mehr, die nicht von dem Konflikt betroffen wurde", sagt der Soziologe Bashir Ahmed Dabla von der Universität Kaschmir in Srinagar. Aber weil Indien diesen Konflikt nicht "internationalisieren" will, dürfen auch keine ausländischen Organisationen humanitäre Hilfe leisten. "Die indischen oder kaschmirischen Hilfsgruppen sind bis auf wenige Ausnahmen alle korrupt," sagt selbst der indische Beamte Kurshid Ahmed Ganai und drückt damit nur eine Meinung aus, die im Kaschmirtal von vielen der 6-einhalb Millionen Einwohner geteilt wird. Natürlich schaut der indische Staat nicht tatenlos zu, wie Ganai anhand einer Liste nachweisen kann. 100 000 Rupien(2500 Euro) gibt es als Entschädigung für den Tod eines Angehörigen, umgerechnet 1900 Euro für bleibende Behinderungen und 625 Euro für Verletzungen. Über anderthalb Milliarden Rupien - etwa 35 Millionen Euro - haben die Behörden seit 1990 ausbezahlt. Jährlich stellt die Regierung in Neu Delhi insgesamt 130 Millionen Euros für die "innere Sicherheit" Kaschmirs bereit. Die Kosten der Streitkräfte sind darin nicht eingeschlossen. Aber nur rund 15 000 Kaschmiris erhielten seit 1990 Entschädigungen. Der Grund, so Ganai: "Nur Unschuldige kriegen etwas." - Vermuten die Sicherheitskräfte nämlich, dass ein Kaschmiri Verbindungen zu den "militants" hatte, wie die Opponenten gegen die indische Kontrolle genannt werden, gibt es kein Geld. Eine Million Soldaten stehen sich an der Grenze zwischen Indien und Pakistan gegenüber, so viele wie schon seit 15 Jahren nicht mehr. Ein martialisches Aufgebot, das sich tagtäglich gegenseitig mit Artillerie-Beschuss eindeckt.
Von der Papierform her steht der Verlierer im Falle eines klassisch definierten Krieges eigentlich fest: Pakistans Militär hält gerade einmal 2300 Panzer in seinen Depots bereit, nicht einmal die Hälfte des 5000 Panzer umfassenden indischen Arsenals. Islamabad kann ganze 350 Kampfflugzeuge aufbieten, Indien besitzt immerhin 700 solcher Jets. Doch die Zahlen sagen wenig aus. In der Thar-Wüste des indischen Bundesstaats Rajasthan herrschen gegenwärtig Temperaturen von 50 Grad Celsius - zu heiß, um Panzer in die Feldschlacht zu schicken. Und viele MIG-Kampf-Flugzeuge der indischen Luftwaffe fallen auch ohne Feindeinwirkung vom Himmel - wegen Wartungsmängeln.
Beide Seiten haben während der vergangenen Jahre versucht, ihre Militärpotential durch Kurz- und Mittelstrecken-Raketen zu erhöhen. Die Führungen der beiden Atommächte hoffen, bald Nuklearsprengköpfe bauen zu können, die auf diese Trägerwaffen passen. Ihr maximales Gewicht kann eine Tonne betragen und in den Labors beiderseits der Grenze wird fieberhaft an der Entwicklung solcher Gefechtsköpfe gearbeitet:
Pakistans Militärdiktator General Pervez Musharraf gab jetzt vor wenigen Tagen öffentlich einen neuen Raketentest bekannt. - Die "Ghauri" mit einer Reichweite von 1500 Kilometern habe ihr Ziel wie geplant getroffen. Die anwesenden Honoratioren brechen in lauten Jubel aus.
Denn dank der Reichweite der "Ghauri" von 1500 Kilometern verändert sich die militär-strategische Lage in Südasien. Indiens wichtigste Städte liegen jetzt im Bereich möglicher Raketenangriffe. Talat Masud, ein ehemaliger General und Staatssekretär im pakistanischen Verteidigungsministerium:
Der gewählte Zeitpunkt zeigt, dass wir bereit sind und Indien seine aggressive Haltung aufgeben sollte. Wir werden unser Land verteidigen und wir haben die Fähigkeit sie zu zerstören, falls sie uns angreifen. Die Bedeutung dieses Tests liegt darin, dass es für viele größere indische Städte keine Unverwundbarkeit mehr gibt.
Die Genugtuung, die in den Worten von Masud durchklingt, zeigt, in welche Rüstungspsychose sich die beiden feindlichen Nachbarn bereits hineingesteigert haben - auch wenn die Militär-Logik des pakistanischen Offiziers angesichts der atomaren Aufrüstung des Nachbarn für manchen wohl nachvollziehbar ist: Denn seit Anfang dieses Jahres steht die "Agni-2" in den indischen Munitionsbunkern. Die Reichweite dieser Trägerrakete: 2200 Kilometer.
Sridhar Rao vom IDSA, dem regierungsnahen "Institute of Defence Studies and Analysis" in der indischen Hauptstadt Neu Delhi ist sich sicher: Die "Agni-2", die Mitte Januar erfolgreich getestet wurde, macht nur Sinn, wenn sie auch mit einem Atomsprengkopf ausgerüstet wird. "Es wäre Unfug", so Rao, "die Agni mit konventionellem Zeug loszuschießen, nachdem wir so viel Geld dafür ausgegeben haben." Neu Delhi will sein Atomwaffenarsenal so weit aufrüsten, dass Indien auch nach einem feindlichen Erst-Schlag noch über die Möglichkeit zur Vergeltung verfügt. In der Zeitschrift "Agni" definierten indische Strategieexperten erstmals öffentlich ihre Version dieser angestrebten "minimalen Abschreckung":
Beim Nachbarn Pakistan müssten demnach neben mehreren militärischen Zielen sechs Städte dem Erdboden gleichgemacht werden können. Um neue Angriffe Chinas zu unterbinden, müssen laut dieser Studie acht so genannte "weiche Ziele" - sprich Städte - zerstört werden. Die Rechnung setzt sich so zusammen: Verluste und Ausfälle eingerechnet braucht Indien ein Arsenal von mindestens 2000 Raketen und einen Vorrat an waffenfähigem Plutonium von mindestens 6000 Kilogramm. Gegenwärtig verfügt das Land aber - geschätzt - nur über 425 bis 1150 Kilo Plutonium für die waffenfähige atomare Produktion. Indien denkt bislang nicht daran, sein massives Aufrüstungsprojekt zu einzuschränken. Obwohl in Indien mit seinen mehr als einer Milliarde Menschen rund 450 Millionen Bürger täglich mit weniger als umgerechnet einem US-Dollar auskommen müssen, werden beständig massive Finanzmittel in die Aufrüstungspläne des Landes gesteckt. Delhis Überlegungen müssen deshalb angesichts des jüngsten pakistanischen Raketentests ordentlich durcheinander gebracht worden sein. Nach außen hin aber gab sich der indische Verteidigungsminister George Fernandes gelassen:
Das war ein demonstrativer Akt. Pakistan versucht uns klar zu machen, dass sie nun auch Raketen für Atomsprengköpfe haben. - Wir sind davon nicht beeindruckt.
Provokative Arroganz, die zeigt, wie unversöhnlich beide Seiten übereinander denken. In Neu Delhi regiert mit Premierminister Atal Bihari Vajpayee ein Mann, dessen politische Heimat die hindu-nationalistische RSS ist - zu deutsch etwa: das "Reichsfreiwilligenkorps". Die Führer dieser Anfang des vergangenen Jahrhunderts gegründeten Sammlungsbewegung träumen von einem neuen hinduistischen Großreich, das die Schmach wieder wettmachen soll, die den Hindus nach RSS-Lesart durch islamische Eroberer während der vergangenen Jahrhunderte zugefügt worden ist.
Der Berufspolitiker Vajpayee galt lange als das liberale Aushängeschild des Hindu-Nationalismus. Die eigenen Parteifreunde nannten ihn deshalb die "Maske". Alt und krank / scheint er manchmal kaum noch fähig, die Diadochenkämpfe um seine Nachfolge unter den Hindu-Nationalisten im Zaum zu halten. Doch die Energie, mit der Vajpayee die nukleare Aufrüstung seines Landes betreibt, lässt kaum einen Zweifel. Er betrachtet wie alle indischen Hindu-Nationalisten die Atombombe auch als "hinduistische Bombe", als Instrument, mit dem neue Ufer regionaler Vormacht erreicht werden können.
Doch Vajpayees Gegenüber, Pakistans Militärdiktator und selbst ernannter Präsident, General Pervez Musharraf, ist nicht weniger fest entschlossen, dem übermächtig scheinenden Nachbarn Indien die Stirn zu bieten - Musharraf hat nichts dagegen, wenn "seine Atombombe" als "islamische Bombe" bezeichnet wird. Schließlich ist Pakistan die bislang einzige islamische Nation der Welt, die über Nuklearwaffen verfügt. Niemand in der indischen Regierung traut dem General. Der Grund: Musharraf - so ist man überzeugt -steckte 1999 hinter der Besetzung der Bergregion von Kargil nördlich von Kaschmirs Hauptstadt Srinagar. Etwa eintausend Menschen kamen bei den damaligen Kämpfen ums Leben.
Wie aus erst jüngst bekannt gewordenen US-Dokumenten hervorgeht, geriet die Welt bereits damals an den Rand eines Atomkriegs. Pakistans Streitkräfte begannen, ihre Atomwaffen einsatzbereit zu machen, bevor sie dann doch vom damaligen Premierminister Nawaz Sharif und von der US-Regierung gestoppt wurden. Aber schon wenige Monate später stürzte Musharraf den gewählten Premier und regiert seither selbst.
Doch just die islamischen Untergrundgruppen, die Musharraf 1999 in Kargil halfen, machen ihm nun Probleme. "Freiheitskämpfer" nennt Islamabad jene Organisationen, die jahrelang vom pakistanischen Geheimdienst geführt und finanziert wurden. Nun aber entpuppen sie sich als Geister, die Musharraf und seine Generäle nicht mehr loswerden, seit sie sich nach dem 11. September auf die Seite der USA schlugen und ihrerseits dem Terrorismus den Kampf ansagten. Plötzlich also sollen die eigenen Ziehkinder, die unter Islamabads Anleitung sogar gemeinsam mit den Gotteskriegern von Osama Bin Ladens Gruppe "Al Kaida" in Afghanistan trainierten, an die Kandare genommen und daran gehindert werden, über die Grenze nach Indien zu gehen. Denn in den Händen dieser islamischen Fundamentalisten liegt die Lunte, mit der das atomare Pulverfass in Südasien in die Luft gejagt werden kann - und seit Oktober des vergangenen Jahres versuchen sie nach Kräften, diese Zündschnur zu entfachen.
Im Oktober des vergangenen Jahres - der Bombenkrieg in Afghanistan hatte gerade begonnen - starben Dutzende Menschen bei einem Anschlag auf das Regionalparlament in Srinagar. - kurz darauf, am 14. Dezember, starben 14 Inder, als Selbstmordattentäter das Parlament in Neu Delhi zu stürmen versuchten. Indien schrammte an einem Bürgerkrieg nur deshalb vorbei - so glauben es jedenfalls Experten - weil keine Politiker unter den Opfer waren. - Und erst vor kurzem, Mitte Mai, kam es zu einem Blutbad mit 33 Toten - die meisten davon Ehefrauen und Kinder von Mitgliedern der indischen Streitkräfte. Selbstmord-Attentäter stürmten nahe der Stadt Dshammu ein Armeecamp und nahmen einen Bus unter Feuer.
Diese Attentate sowie eine Reihe von Anschlägen in Pakistan deuten darauf hin, dass Osama Bin Laden und seine Freunde unter den kaschmirischen Rebellen offenbar entschlossen sind, den indo-pakistanischen Konflikt anzuheizen - koste es, was es wolle. Denn sie mögen in Afghanistan militärisch geschlagen worden sein, besiegt worden sind sie freilich noch nicht. Ihr Kalkül scheint zu sein: Die Spannungen zwischen Indien und Pakistan behindern die Verfolgung versprengter Reste der radikal-islamischen Taliban-Milizen und von Osama Bin Ladens "Al-Kaida"-Kämpfern und lenken von ihnen ab.
Schon jetzt konzentriert Pakistan 80 Prozent seiner Truppen an der Grenze zu Indien. Ein Krieg würde auch die nationalistischen Wellen in Pakistan, das sich als politische Heimat der islamischen Bevölkerung in Südasien betrachtet, hoch schlagen lassen. Ein Dshihad, ein "Heiliger Krieg" gegen die Hindus, so hoffen die Fundamentalisten, würde auch ihnen massiven Zulauf von den 140 Millionen pakistanischen Bürgern bringen. Der pakistanische Ex-General Talat Masud argumentiert deshalb:
Wir sehen, dass religiöse Extremisten an Boden gewinnen. Die Al-Kaida-Gruppe etwa wäre überaus glücklich, wenn sie es schaffte, Pakistan in einen Konflikt hineinziehen zu können, um die Initiative zurückzugewinnen und die gesamte Region zu destabilisieren.
Das weiß auch Neu Delhi. Doch die hindu-nationalistische Regierung Indiens steht innenpolitisch und international unter Druck. Die Pogrome hindu-nationalistischer Gruppen gegen Muslime im Bundesstaat Gudsharat halten an. 2000 Menschen starben dort seit Anfang März. Die BJP, die Partei von Premierminister Atal Bihari Vajpayee, verliert eine Regionalwahl nach der anderen. Und in Indien grassiert zudem inzwischen eine nicht ganz unberechtigte Furcht: Der Krieg der vom Westen dominierten "Koalition gegen den Terrorismus" könnte zwar das Leben in den USA und in Europa wieder sicherer machen. Indiens Interesse aber, die islamischen Untergrundgruppen auszuschalten, läuft gleichzeitig Gefahr, ins Hintertreffen zu geraten.
Neu Delhi wird offiziell kaum eingestehen, dass Washington, London oder gar Brüssel im Streit mit Pakistan vermitteln können. Eine "Internationalisierung" der Kaschmirfrage soll nämlich um jeden Preis vermieden werden.
Nutzen will Neu Delhi hingegen die mögliche Option, wonach der Westen bei Musharraf darauf drängen dürfte, die Grenze Pakistans stärker zu überwachen und den islamistischen Gruppen das Handwerk zu legen.
Dank solchem Druck ließ Musharraf schon einmal zu Jahresbeginn 2000 Mitglieder dieser Organisationen verhaften. - Rund die Hälfte davon aber befindet sich inzwischen schon wieder auf freiem Fuß.