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"Kongeniale Umsetzung eines schwierigen Stücks Literatur"

Mit der Verfilmung von Charlotte Roches Roman "Feuchtgebiete" stoße Jungregisseur David Wnendt beim Filmfestival in Locarno auf große Beachtung, meint der Filmkritiker Herbert Spaich. Die Hauptrolle sei überzeugend besetzt. Der Film habe Chancen auf einen Preis.

Herbert Spaich im Gespräch mit Änne Seidel | 11.08.2013
    Änne Seidel: Feministische Literatur oder pornografische Provokation? Das war damals die große Frage, 2008, als der Roman "Feuchtgebiete" von Charlotte Roche erschien. Ziemlich detailreich, man könnte sagen, mit gynäkologischer Präzision schildert der Roman die sexuellen Fantasien und Experimente der 18-jährigen Protagonistin und überschritt damit die Ekel- und Schamgrenze zumindest eines Teils der Leserschaft. Deshalb galt der Roman eigentlich auch als unverfilmbar. Der junge Regisseur David Wnendt hat jetzt aber bewiesen, dass es doch geht.

    O-Ton David Wnendt: "Lange bevor es für mich überhaupt darum ging, einen Film darüber zu machen, kannte ich den Roman schon. Ich habe ihn gelesen und ich mochte ihn total und ich habe da auch immer was ganz anderes drin gesehen, als der ganze Diskurs über dieses Buch eigentlich zu sein schien. Ich habe da sehr viel Humor drin gesehen, ich habe da irgendwie eine ganz faszinierende Hauptfigur gesehen. Das waren alles schon so Gründe, warum ich auch dachte, ach das ist auch ganz spannend für eine Verfilmung."

    Seidel: David Wnendt im Deutschlandradio Kultur. – Was er da sagt, klingt ja nun eher nicht nach Voyeurismus und einem Film an der Grenze zur Pornografie. Andererseits hat zum Beispiel Facebook gerade den Trailer zum Film gesperrt. Dort kann man jetzt nur noch eine zensierte Version anschauen, die ist dann 100-prozentig jugendfrei. Heute Abend feiert "Feuchtgebiete" auf dem Filmfestival in Locarno Premiere. – Herbert Spaich, Sie sind dort und haben den Film vorab bereits gesehen. Wie schlimm war er denn nun? Wie viele entsetzte Aufschreie im Kinosaal haben Sie gehört?

    Herbert Spaich: Überhaupt keine, weil das ist das Tolle an diesem Film: Es gibt nichts, was skandalös wäre. Es ist wirklich eine kongeniale Umsetzung eines schwierigen Stücks Literatur und insofern wird das ein Film sein, der nicht so sehr wegen eines Skandals, sondern wegen seiner Qualität, Literatur in Film zu übersetzen, seinen Rang haben wird.

    Seidel: Wie genau geht Wnendt denn um mit diesen teilweise sehr obszönen Szenen, die in dem Buch beschrieben werden?

    Spaich: Sie werden nur angedeutet. Natürlich gibt es Blut ein bisschen, es gibt auch den Tampon, den sie dann in einer etwas ekligen Toilette benutzt, es gibt natürlich auch die Pizza, auf die vier Männer masturbieren, aber das ist dann wieder sehr gebrochen witzig, weil das nämlich so ist: da fliegt der Samen gewissermaßen zum Takt der schönen blauen Donau auf die Spinatpizza. Das ist sehr witzig. Überhaupt gibt es ganz viel witzige Momente in diesem Film, wo wieder die Tragödie dieser Helden gebrochen wird, weil um was geht es in diesem Film und was geht es in dem Roman von Charlotte Roche. Es geht darum, eine Frau zu beschreiben, die zutiefst verletzt ist, die nicht geliebt wird und das auch so erlebt und jetzt appelliert an die Welt, sie doch zu lieben, indem sie sich erniedrigt – mit dem Ergebnis: wenn man appelliert, je mehr man das tut, desto weniger wird man geliebt. Dann kommt sie ins Krankenhaus und lernt hier mit einmal einen geschützten Raum kennen und wächst da über sich hinaus und findet auch ein Stück Paradies.

    Seidel: Die Hauptrolle wird gespielt von der Schweizerin Carla Juri, die in diesem Jahr bereits auf der Berlinale zum Shootingstar gekürt wurde. Wie bekommt sie das hin mit diesem vielleicht doch nicht ganz einfachen Spagat zwischen einerseits provokanten, obszönen, witzigen Szenen und dann andererseits aber auch wieder diesen sehr einfühlsamen, sensiblen Passagen, von denen Sie gerade sprachen?

    Spaich: Sie ist erst mal ein enormes Talent und es gelingt ihr, eine Wahrhaftigkeit in diese Rolle zu legen, die berührt, selbst dann: es gibt eine Szene, die gibt es auch im Buch, wo es darum geht, dass sie keine Pillen runterkriegt, und sie sich daran erinnert fühlt, dass sie auch Probleme beim Oralsex hat und dies mit dem Pfleger thematisiert. Das ist so genau auf den Punkt getroffen, auch leicht ironisch, da zeigt sich, dass es wirklich eine ganz große Schauspielerin ist und natürlich von Wnendt auch so geführt ist, dass dieser Film auch über solche Klippen mühelos wegkommt.

    Seidel: David Wnendt wurde ja auch mit einem Jugenddrama bekannt, 2001 mit dem Film "Kriegerin". Darin zeichnet er ebenfalls ein sehr sensibles, sehr einfühlsames, aber gleichzeitig eben auch sehr authentisches Bild zweier junger Mädchen, und zwar zwei Mädchen, die in der rechtsradikalen Szene unterwegs sind. Inwiefern knüpft er jetzt mit "Feuchtgebiete" an diesen ersten Film an?

    Spaich: Auch diese Mädchen sind beschädigt. Auch diese Mädchen suchen Halt und Liebe. Auch diese Mädchen haben in ihrer Sozialisation keine Liebe bei den Eltern bekommen und insofern ist die Helen natürlich schon jetzt sicher keine Schwester im Geiste, aber eine Verwandte, eine Artverwandte dieser beiden Mädchen, und insofern ist da Wnendt schon bei seinen Leisten geblieben und das zeichnet auch diesen Regisseur aus, dass er, obwohl er ganz arg jung ist und das sein zweiter Film ist, bereits sein Thema gefunden hat, mit dem er auf verschiedener Basis und in verschiedenen Facetten umzugehen versteht.

    Seidel: Abschließend noch eine Frage. Der Film läuft ja jetzt als einziger deutscher Beitrag im Wettbewerb. Welche Chancen räumen Sie ihm ein?

    Spaich: Ich denke, doch schon große Chancen, weil was man bisher so sieht, das ist ganz ordentlich und das ist sicher auch sehr kunstgewerblich vielfach, aber einen Film, der so eine klare, präzise Sprache spricht wie die "Feuchtgebiete", habe ich bisher noch nicht gesehen. Da kann ja noch was kommen. Aber ich denke, er wird schon eine gute Figur machen, und das ist ja auf einem A-Festival wie Locarno schon mal was für einen Regisseur.

    Seidel: Filmkritiker Herbert Spaich über die Verfilmung des Romans "Feuchtgebiete" von Charlotte Roche, der heute Abend in Locarno Premiere feiert. Vielen Dank für das Gespräch.


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.