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Kräftemessen im Schultergelenk

Physik. - Kaum ein Gelenk ist so fragil aufgebaut wie das Schultergelenk, das vor allem durch Muskeln stabilisiert wird. Dennoch staunten Forscher nicht schlecht über ihre Messungen von Kräften, die bei ganz unterschiedlichen Belastungen auf das Gelenk einwirken.

Von Michael Fuhs |
    "Und jetzt mal mit ihrer Hand zum Kopf, und jetzt strecken Sie mal die Hand nach oben, Strecken gegen den Widerstand und nach oben zum Kopf. Super!"

    Die Krankengymnastin an der Berliner Charité muss vorsichtig sein. Denn dem Patienten wurde gerade ein künstliches Schultergelenk implantiert. Das Besondere ist: Bei den Übungen wird im Gelenk gemessen, wie stark sie das Gelenk wirklich belasten. Ein Sender funkt die Daten nach außen. Und nicht nur das. Untersucht wird auch, wie stark die Kräfte sind, die zum Beispiel beim Haarkämmen wirken. Ulrich Weber, Direktor der Orthopädie am Campus Benjamin Franklin der Charité:

    "Aus den bisherigen Messungen haben wir gesehen, dass es Tätigkeiten gibt, banale Alltagstätigkeiten, von denen wir gedacht haben, dass sie ganz wenig belastend sind, von denen wir jetzt schon sehen, dass sie sehr hoch belastend sind."

    Interessant für diejenigen, die Probleme mit der Schulter haben. Das kann an Arthrose liegen, das kann mit einem Bruch des Schultergelenks anfangen oder durch eine Erkrankung der Gelenkumgebung.

    "Schulterschmerzen erleidet jeder Mensch irgendwann in seinem Leben. Eine so genannte schmerzhafte Schultersteife ist eine der orthopädischen Volkskrankheiten, wenn Sie so wollen."

    Ein Schultergelenk besteht aus zwei Teilen. Der Oberarm endet in einer Art Halbkugel. Das Gegenstück, die Gelenkpfanne, sitzt am Schulterknochen. Durch Muskeln werden sie zusammengehalten. Paradoxerweise entsteht auch dann ein Druck auf das Gelenk, wenn man zum Beispiel einen Sprudelkasten trägt, der am Arm zieht. Die Muskeln reagieren zu stark, überkompensieren die Zugkraft, um das Gelenk in der richtigen Position zu halten. Wie groß die Kräfte wirklich sind, wird jetzt zum ersten Mal gemessen. Bei dem Berliner Patienten sitzen sechs Kraftsensoren an der Halterung der künstlichen Gelenkhalbkugel, dort, wo sie mit einem etwa zehn Zentimeter langen Nagel im Oberarm befestigt ist. Darin befindet sich eingeschweißt die miniaturisierte Elektronik und der Sender, erklärt Georg Bergmann, Leiter des Biomechanik Labors der Charité.

    "Die Energie für die Kraftmessung und für das Senden der Signale kommt durch eine Spule, die am Ende hier der Prothese eingebaut wird. Und dieses Implantat ist nur dann aktiv, wenn der Patient um den Oberarm eine Magnetfeldspule trägt."

    Sie überträgt wie in einem kleinen Transformator die elektrische Energie in das künstliche Gelenk, das dann zu senden beginnt. Georg Bergmann filmt die Versuche und registriert gleichzeitig die Kräfte.

    "Wir sehen hier einen Patienten, der sitzt am Tisch und streckt den Arm aus, der hebt am Arm eine volle Kaffeekanne hoch und stellt die Kaffeekanne vorne wieder ab. Das heißt, dieses Gewicht der Kaffeekanne, ein gutes Kilo, hängt sozusagen am ausgestreckten Arm. In dem Augenblick, wo der Patient die Kaffeekanne, oder auch jeder andere natürlich, eine Kaffeekanne an einem gestreckten Arm abstellt, wirkt in der Schulter eine Kraft, die so groß ist wie sein eigenes Körpergewicht. Das ist, als ob sie mit 100 Kilo auf die Gelenkfläche drücken, beziehungsweise auch mit 100 Kilo auf das Schulterblatt drücken."

    Eine ein Kilogramm schwere Kaffeekanne am ausgestreckten Arm erzeugt also eine Druckbelastung im Gelenk, die einem Gewicht von 100 Kilogramm entspricht. Das liegt am Hebelgesetz. Die Kaffeekanne hängt am langen Hebelarm, die Muskeln sitzen über der Schulter am kurzen Hebel. Deshalb müssen sie das Gelenk so stark zusammendrücken. Bei früheren Berechnungen kam allerdings in vielen Fällen nicht das richtige heraus. Überrascht waren die Forscher, dass ein Sprudelkasten, der zehn Kilogramm schwer ist und am nach unten ausgestreckten Arm getragen wird, die Schulter auch nur mit zehn Kilogramm belastet. Autofahren mit einer Hand und Haare kämmen schlagen dagegen mit relativ hohen Belastungen zu Buche, nämlich jeweils mit rund 100 Kilogramm.

    "Immer wenn der Arm weit ausgestreckt ist, egal in welche Richtung, ist die Belastung groß."

    Für gesunde Menschen ist das im Alltagsleben kein Problem. Was das für die Behandlung von Schultererkrankungen bedeutet, wollen die Wissenschaftler als nächstes untersuchen.