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Krank in Deutschland

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Axel Brower-Rabinowitsch |
    "Gesund leben – in Bewegung bleiben" heißt das diesjährige Motto des Weltgesundheitstages. Bewegungsmangel ist auch in Deutschland einer der Hauptgründe für die Entstehung schwerer Gesundheitsschäden. Die könnten oft genug durch eine Änderung der Lebensgewohnheiten beherrscht werden. Aber: Viele Betroffene sind dazu nicht bereit - und zahlreichen Ärzten ist es offenbar zu aufwendig und zu schlecht honoriert, wenn sie ihre Patienten regelmäßig zur gesunden Lebensweise anhalten.

    Oft werden deshalb Symptome wie Bluthochdruck und Herzerkrankungen mit Tabletten bekämpft anstatt die Ursachen zu beseitigen. Eine umfassende Gesundheitsvorsorge, die Zivilisationskrankheiten deutlich zurückdrängen könnte, wenn sie große Teile der Bevölkerung erfasst, gibt es – noch – nicht. Immerhin steht Prävention aber inzwischen ganz oben auf der Wunschliste aller Parteien und der Bundesregierung. Derzeit aber quälen sich Politiker, Patienten, Ärzte, Krankenhäuser, Pharmaindustrie, Apotheker, Therapeuten und Pflegekräfte mit ganz anderen Problemen des deutschen Gesundheitswesens.

    Die Gesetzliche Krankenversicherung – kurz GKV - ist mit Ausgaben von über 230 Milliarden EURO jährlich weltweit das dritt teuerste Gesundheitswesen – gemessen an den pro Kopf -Ausgaben. Hinzu kommt übrigens noch einmal dieselbe Summe, die vor allem private Krankenkassen, Arbeitgeber über die Lohnfortzahlung und die Bürger über den Einkauf von nicht kassenfähigen Gesundheitsleistungen bezahlen. Zusammen macht das eine Summe, die deutlich über dem Bundeshaushalt liegt. Aber das Geld der GKV-Versicherten scheint nicht gut angelegt zu sein. Verschwendung und ein international nur mittelmäßiger Gesundheitszustand der Bevölkerung bei vergleichsweise sogar geringer Lebenserwartung sind das Ergebnis. Gesundheitsministerin Ulla Schmidt nennt die Gründe:

    Unbestritten ist, dass die Abläufe in unserem Gesundheitswesen zu Über-, Unter- und Fehlversorgungen führen. Und deshalb lautete meine Grundentscheidung: Die Versorgung der Patienten muss Vorrang haben.



    Thema Unterversorgung: Im Vergleich zu anderen Industrienationen werden bei uns viele Diabetiker, Krebs- oder Herzkranke schlechter diagnostiziert und behandelt. Die Folgen reichen von höheren Todesraten bis hin zu eigentlich überflüssigen Amputationen bei Diabetikern. Das sind bittere Folgen für die Patienten – aber es ist auch Geldverschwendung. Denn schlecht behandelte chronische Erkrankungen ziehen hohe medizinische Folgekosten nach sich. Die Ministerin zieht das Fazit aus amerikanischen Erfahrungen bei der Optimierung der Behandlung von Zuckerkranken:

    Dann konnte durch eine Intensivierung der Behandlung von Diabeteskranken die Ausgaben, die bei 8.812 Dollar lagen pro Person , reduziert werden auf 3.363 Dollar, wenn die Menschen optimal eingestellt sind. Dies geht einher mit einer Erhöhung der Arzneimittelausgaben. Aber trotzdem ist es nur noch ein Drittel der Kosten und ich glaube, dass es sich lohnt, auf diesem Weg weiter zu gehen – weil wir zwei Dinge damit erreichen: Die Menschen, die krank sind, denen geht es besser, sie haben weniger Folgeerkrankungen. Und zweitens spart es im System auch Kosten ein, die heute eben eingesetzt werden, weil wir keine optimale Versorgung haben .

    Die rund 20 Prozent chronisch kranken Kassenmitglieder verursachen 80 Prozent der Kassenausgaben. Hier also liegt das größte Sparpotenzial. Ulla Schmidt will dabei zwei weitere Ziele erreichen: Die Versorgung der Chroniker soll über medizinische Leitlinien nach neuestem wissenschaftlichen Stand erfolgen und so den Patienten helfen. Gleichzeitig sollen die großen Versorgerkassen – etwa die AOK und die Angestellten-Ersatzkassen, die die meisten Diabetiker versichern – finanziell entlastet werden. Denn für jeden Chroniker, der sich in das kasseneigene Chronikerprogramm einschreibt, gibt es eine ausreichende Pauschale aus dem übergreifenden Finanzausgleich, dem sogenannten Risikostrukturausgleich.

    Disease-Management heißt das Ganze und ist bereits vom Parlament gebilligt. Ab Juli sollen die Kassen Chronikerprogramme anbieten für Diabetes, koronare Herzkrankheiten, chronische Atemwegserkrankungen und Brustkrebs. Aber noch streiten sich Kassen und Ärzte über den Inhalt der medizinischen Leitlinien und vor allem über die Erfolgskontrolle. Die Ärzte nämlich weigern sich standhaft, arzt- und patientenbezogene Daten an die Kassen zu übermitteln, wie erstmals gesetzlich vorgesehen. Datenschutz wird reklamiert. Man darf aber wohl annehmen, dass der vorrangig für die teilnehmenden Ärzte gemeint ist. Denn diese sensiblen Daten könnten natürlich Auskunft geben über Erfolg oder Misserfolg der medizinischen Behandlungen.

    Die Kassenärztliche Bundesvereinigung KBV fordert deshalb, diesen Datentransfer in der noch ausstehenden Rechtsverordnung auszuschließen, das Gesetz praktisch nachzubessern. Andernfalls würden die Kassenärzte aus den – auch von ihnen begrüßten – Chronikerprogrammen aussteigen. Die Leidtragenden wären die Patienten. Außerdem halten die Ärzte die Einführung der Programme vor dem kommenden Herbst für nicht machbar. Die Ministerin droht deshalb mit Ersatzvornahme: Einigen sich Kassen und Kassenärzte nicht bis Mitte Mai, will sie die medizinischen Leitlinien erlassen. Ärztepräsident Jörg-Dietrich Hoppe reagierte empört. So sei Qualität nicht machbar. Wenn die Ministerin die Programme ohne verlässliche medizinische Grundlagen zum 1. Juli durchpeitschen wolle – so meinte Hoppe wörtlich – "erzwingt sie den Weg in die staatliche Zuteilungsmedizin".

    Der Vorgang ist typisch für das deutsche Gesundheitswesen, in dem die Interessen der Beteiligten dominieren und Reformen zwar ständig angemahnt, aber meist erfolgreich torpediert werden – selbst wenn sie gesetzlich verankert sind. Das zeigt sich auch am Arzneimittelspargesetz. Über den Sinn einer der zentralen Inhalte kann man zwar trefflich streiten. Es geht um "Aut idem", was übersetzt "oder dasselbe" heißt. Danach sollen Ärzte künftig in der Regel nur den Wirkstoff des Medikaments auf das Rezept schreiben. Die Apotheker sollen dann ein Medikament aus dem unteren Preisdrittel aussuchen, das nach Inhalt, Qualität und Dosierung den Angaben der Arztes entspricht. Dabei geht es ausschließlich um Generika, also Nachahmerprodukte teurer Originalpräparate.

    Die Regelung ist seit einigen Wochen in Kraft, wird aber von vielen Ärzten und der Pharmaindustrie unterlaufen. Allein in Württemberg haben 6.500 der 7.400 Kassenärzte einen extra angebotenen Stempel angefordert, der die Abgabe eines anderen Präparats ausschließt, wenn man das Rezept damit bedruckt. Die Apotheker sind dafür, wie Christiane Eckert-Lill von der Bundesvereinigung der Apothekerverbände betont:

    Zumal sie es in der Vergangenheit im Nacht- und Notdienst auch schon problemlos praktiziert haben. Und sie versprechen sich davon insgesamt eine Verbesserung der Versorgungsqualität der Patienten. Etwa zehn Prozent der Verordnungen können in der Apotheke – weil der Arzt ein Generikum verordnet hat, das nicht vorrätig ist – nicht sofort beliefert werden. Bei der Aut-Idem-Regelung versprechen wir uns eine bessere Lieferfähigkeit gegenüber dem Patienten. Zum anderen ist aut idem sicher eine Möglichkeit, den Sachverstand des Apothekers besser in Anspruch zu nehmen.

    Das könnte die durch Versandhandel und Internetapotheken arg in Bedrängnis gekommenen deutschen Apotheker wieder aufwerten. Aber: Zahlreiche Ärzte protestieren in ihren Praxen mittels Plakaten gegen aut idem und/oder schließen eine Auswahl durch den Apotheker aus. Letzteres dürfen sie. Die Ärzte laufen dann aber Gefahr bei Wirtschaftlichkeitsprüfungen wegen hoher Verordnungskosten aufzufallen und mit Regress belegt zu werden. Aber auch viele Apotheker sind ratlos. Denn die Wirkstofflisten, die über die billigsten Medikamente Auskunft geben, sind noch gar nicht vorhanden. Erst am Jahresende dürften alle Wirkstoff-Preislisten vorliegen. Deshalb wenden noch nicht alle Apotheken aut idem an. Wo es doch geschieht, sind zumindest ältere Patienten anfangs irritiert, wenn sie ihr gewohntes Medikament nicht mehr erhalten. Pharmamanager Michael Habs stellt den ganzen Sinn der Regelung grundsätzlich in Frage und meint:

    Dass der Versuch, die eigentlichen Probleme im Gesundheitswesen darüber in den Griff zu bekommen, dass man versucht, am Arzneimittel zu sparen anstatt mit Arzneimitteln zu sparen, nur in die Irre gehen kann. Das liegt einfach daran, dass die Bedeutung der Arzneimittel im Vergleich zu den Gesamtkosten so gering ist, dass sie darüber das System nicht retten können.

    ..ein typisches Understatement. Inzwischen wird mehr für Medikamente als für die gesamten Kassenarzthonorare ausgegeben. Deswegen setzt die Pharmaindustrie alles daran, aut idem auszuhebeln, wie Kassenarztchef Manfred Richter-Reichhelm weiß:

    Ich habe Informationen bekommen, dass es Fortbildungsveranstaltungen von kundigen Juristen im Dienste der Pharmaindustrie bei Apothekern gibt, die eindeutig nach Umgehungsstrategien suchen, wie man dieses Aut-Idem-Gesetz boykottieren, verunmöglichen kann.

    Gleichzeitig schreiben Pharmakonzerne Ärzte an, warnen vor vermeintlicher Rechtsunsicherheit und empfehlen , aut idem grundsätzlich auszuschließen. Manchmal sollen sogar vorgedruckte Rezeptblöcke gleich mitgeliefert werden. Die Branche verkündet hinter vorgehaltener Hand, dass sie aut idem gegen die Wand fahren werde. Wenn alles nichts hilft, will man die Packungsgrößen so verändern, das sie nicht oder nur kaum noch vergleichbar sind und damit auch nicht durch andere Medikamente ersetzt werden können. Statt heute 20 gibt es dann 30, 15 oder 25 Pillen in einer Packung. Geschäftsführer Henning Fahrenkamp vom Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie hält das alles für in Ordnung:

    Das ist eine ganz normale Reaktion eines pharmazeutischen Herstellers, wenn er sich gegen eine erneute Reglementierung – nämlich dem massiven Markteingriff – mit legalen und vor allem auch legitimen Mitteln zur Wehr setzt.

    Noch will Ulla Schmidt nicht den großen Hammer schwingen, kündigt aber dennoch an:

    Da, wo es Versuche gibt, bestehende Gesetze zu unterlaufen, die ja zum Schaden der Patienten und Patientinnen sind, weil eben das Geld nicht optimal eingesetzt wird, das die Versicherten zahlen, da werden wir auch gegen die Pharmaindustrie vorgehen.

    Man muss das Ganze vor dem Hintergrund explodierender Arzneimittel-Ausgaben bewerten, die im vergangenen Jahr zweistellige Zuwachsraten erzielten und der Hauptgrund waren für das GKV-Defizit von 2,8 Milliarden EURO. Rund 1,3 Milliarden EURO soll das Sparpaket reinholen mit aut idem, höheren Apothekerrabatten für die Kassen, dem Solidarbeitrag der Pharmaindustrie von 202 Millionen Euro sowie dem verstärkten Reimport preisgünstiger deutscher Arzneimittel aus dem Ausland– ein blanke Illusion der Ministerin, wie die Opposition unter Kenntnis der Widerstände bei den Betroffenen meint. Der FDP-Gesundheitsexperte Dieter Thomae:

    Sie werden im Aut-Idem-Verfahren Schiffbruch erleiden. Und ich sage Ihnen voraus: Sie werden auch das Thema Reimporte und Parallelimporte wieder streichen, weil das nicht funktioniert, wie sie dies geplant haben. Und so sind ihre Einsparungen, wovon sie träumen, völlig dahin.

    Erste Trends aus diesem Jahr lassen darauf schließen, dass Thomae zumindest vorerst zur Hälfte Recht behält: Noch immer sollen die Arzneimittelausgaben um über fünf Prozent steigen......

    Ein weiteres Trauerspiel deutscher Gesundheitspolitik ist der bisher weitgehend erfolglose Kampf gegen den Brustkrebs. Er trifft jede zehnte deutsche Frau. Jährlich werden knapp 50.000 Neuerkrankungen registriert. Die Überlebensrate ist im internationalen Vergleich ebenso Mittelmaß wie die erfolgreiche Früherkennung. Jede zweite Diagnose ist falsch. Bei besserer Diagnose aufgrund moderner Untersuchungen wären jährlich tausende von Brustkrebsoperationen überflüssig inklusive operativer Gewebeentnahmen, das zumindest meinen Experten.

    Das ist ein Grund dafür, dass Brustkrebs in die bereits erläuterten Chroniker-programme einbezogen ist. Ergänzt werden soll dies 2003 nach dem Willen von Regierung und Bundestag durch flächendeckende Röntgenuntersuchungen für alle 50- bis 70jährige Frauen. Dieses so genannte Mammographie-Screening soll alle zwei Jahre erfolgen. Seit diese Pläne bekannt sind und entsprechende Modellversuche laufen, reisst die Kritik nicht ab. In Kurzfassung behaupten die Kritiker, dass die Strahlenbelastung mehr Krebs auslöst als durch das Screening entdeckt und geheilt werden kann.

    Diese Behauptungen sind schwer bis gar nicht nachvollziehbar. Aber es finden sich für alle Theorien Institute und hochrangige Experten. So durfte der Bremer Wissenschaftler Hans Junkermann in der Monitor-Sendung am 14. März im Ersten Deutschen Fernsehen verkünden, was führende europäische Krebsforscher aufgrund bisheriger Erfahrungen gemeinsam vertreten:

    Bei Berücksichtigung aller Information, die vorliegen, gehe ich davon aus, dass die Brustkrebssterblichkeit sich bei einem qualitätsgesicherten Mammographie-Screening um 20 bis 30 Prozent reduzieren lässt.

    Aber das bestreiten die Kritiker vor allem unter Hinweis auf Untersuchungen in Toronto an 20.000 Frauen, bei denen die Vorsorge zur Hälfte mittels Abtasten der Brust und zur anderen Hälfte zusätzlich mit Mammographie-Screening erfolgte. Dabei gab es keine unterschiedlichen Ergebnisse. Andere Studien allerdings kommen zu genau dem gegenteiligen Ergebnis. Auch die Gefahr durch Strahlenbelastung wird völlig unterschiedlich beurteilt. Der Strahlenbiologe Dieter Frankenberg in Monitor:

    Unsere experimentellen Untersuchungen mit einer menschlichen Zell-Linie haben ergeben, dass Mammographie-Röntgenstrahlen – und das sind weiche Röntgenstrahlen – sechs Mal schädlicher sind als bisher angenommen. Das bedeutet, dass die weichen Röntgenstrahlen bei einer Mammographie möglicherweise mehr Brustkrebs auslösen als bisher gedacht.

    Das mag ja sein, wenn man alle Frauen ab 20 regelmäßig zum Bruströntgen schickt. Geplant ist etwas ganz anderes: Mammographie-Screening ist zur ergänzenden Diagnose bei Brustkrebsverdacht auch in jungem Alter unstrittig - Reihenuntersuchungen soll es aber erst ab dem 50. Lebensjahr geben, wenn die möglicherweise krebsauslösenden Röntgentrahlungen sehr viel ungefährlicher sind. Geröngt und diagnostiziert wird dann nach den strengen europäischen Richtlinien. Dazu gehören zum Beispiel strikte Auflagen für die eingesetzten Röntgengeräte, die besonders strahlungsarm sein müssen. Röntgen dürfen nur speziell aus- und fortgebildete Ärzte, die über Erfahrung bei mindestens 5.000 dieser Untersuchungen verfügen. Praktisch bedeutet das, das vorwiegend Unikliniken und große Spezialpraxen Mammographie-Sreening machen dürfen. Schließlich soll bei der Diagnose grundsätzlich eine Zweitmeinung eingeholt werden.

    Entsprechende Programme laufen erfolgreich in europäischen Nachbarstaaten und auch in den USA haben sich kürzlich das Gesundheitsministerium sowie die nationalen Krebsorganisationen einmütig dafür ausgesprochen. Natürlich ist Röntgen nicht ungefährlich – ebenso wie Impfungen. Aber es gilt, Vor- und Nachteile abzuwägen. Die große Mehrheit der europäischen Krebsforscher wenigstens empfiehlt die Reihenuntersuchung für ältere Frauen, weil sie Leben rettet. In Deutschland allerdings wird dies zum Streitthema erhoben.

    Und so ergeht es fast allen Reformideen. Ob Gewerkschaften, Ärzte, Krankenhäuser oder Parteien – wohin man guckt wird gestritten und geblockt. Das sind keine guten Voraussetzungen für die notwendige Modernisierung des Gesundheitswesens. Und das wird – wie die Beitragszahler gerade leidvoll erfahren haben – immer teurer. Dabei macht sich die ungünstige demographische Entwicklung noch gar nicht bemerkbar. Aber es gibt eine Einnahmeschwäche wegen der hohen Arbeitslosigkeit und wegen des sinkenden Lohnanteils am Bruttoinlandsprodukt. Die Beteiligten im Gesundheitswesen – vom Patienten über den Arzt bis zum Krankenhaus – betätigen sich darüber hinaus als Kostentreiber. Denn sie sind für Über-, Unter- und Fehlversorgung verantwortlich. Hans-Jürgen Ahrens, Vorstandschef des AOK-Bundesverbandes, nennt ein typisches Beispiel teurer Überversorgung:

    Ein internationaler Vergleich, der zeigt, dass wir Weltmeister sind bei der Frage der Betten pro Einwohner, dass wir Weltmeister sind bei der Frage der Liegezeiten. Da muss man sagen: Dann ist das schlicht teuer, denn in jedem Bett liegt Jemand.

    Diagnosebezogene Fallpauschalen für jeden Patienten nach australischem Vorbild – so genannte DRGs– sollen deshalb ab 2004 an die Stelle der noch weithin geltenden Pflegesätze treten. Die Folgen sind klar: Gut durchorganisierte Kliniken und spezialisierte Krankenhäuser werden mit den Fallpauschalen sogar Gewinne machen, unwirtschaftliche Kliniken und Klinikabteilungen stehen vor dem Aus. Damit auch auf dem flachen Land die stationäre Versorgung gesichert ist, müssen die Bundesländer benötigte, aber teure Krankenhäuser subventionieren.

    Ärzteverbände wie der Marburger Bund sprechen vom einem der größten Menschenversuche aller Zeiten. Ihr Argument: Das alles geht nicht nur auf die Knochen der sowieso schon überlasteten Ärzte und Pflegekräfte, sondern bringt vor allem Nachteile für die Patienten. Ärztepräsident Hoppe sieht das ähnlich:

    Die Gefahr für die Patienten liegt in erster Linie im Moment darin, dass sie in jedem System gleichermaßen beliebt wie unbeliebt sind. Solange sie Geld bringen sind sie beliebt, und in dem Moment wo sie teuer werden, sind sie unbeliebt. Und was wir befürchten müssen ist eine Verschieberei zwischen den Sektoren. Niedergelassene Ärzte werden die Patienten ins Krankenhaus einweisen. Dort bringen sie eine Fallpauschale mit. Die Fallpauschale ist für das Krankenhaus hoch interessant solange wie die Kosten, die der Patient verursacht, unterhalb dessen liegen, was diese Fallpauschale bedeutet. Wenn die Zeit kommt, wo sie aufzubrauchen sich anschickt, werden die Patienten dann möglichst aus dem Krankenhaus dann hinausgeschickt in andere Sektoren. Man nennt das dann auch blutige oder rohe Verlegung.

    Die Auffangnetze müssen also verstärkt werden – Rehaeinrichtungen ebenso wie die ambulante Versorgung. Geht es nach Ulla Schmidt, hat der allein praktizierende Kassenarzt auch deshalb ausgespielt:

    Ich glaube es ist unbestritten, dass die Ärzte und Ärztinnen der Zukunft ihre Patienten qualitätsgesichert in vernetzten Strukturen behandeln werden. Sie sollen keine Einzelkämpfer mehr sein. Und deshalb werden wir die integrierte Versorgung weiter stärken. Den Patienten wird auf freiwilliger Basis eine abgestimmte Versorgung – ambulante, stationäre Leistungen, ärztliche, nicht-ärztliche Leistungen – angeboten.

    Darüber hinaus scheint inzwischen allen klar zu sein: Den teuren medizinischen Fortschritt und die Alterung der Gesellschaft kann die GKV finanziell nur bewältigen, wenn die Menschen deutlich gesünder werden und ihre Alterskrankheiten zeitlich um Jahre nach hinten verschieben können. Das neue Zauberwort heißt deshalb Prävention. Eine Stiftung will die Ministerin dafür einrichten, um die Kassenfinanzen zu schonen. Denn anfangs kostet aufwendige Vorsorge viel Geld, dass sich erst viele Jahre später auszahlt. AOK-Vorstand Ahrens zitiert jüngste Studien:

    Die kommen zu dem Ergebnis, wenn man die chronischen Krankheiten, die beeinflussbar wären über Prävention, in den Griff bekäme, dann könnte man die Ausgaben, die bei diesen chronischen Krankheiten um 72 Milliarden liegen, senken um 25 Milliarden.

    Das entspricht immerhin 13 Milliarden EURO. Hier geht es nicht um die Chronikerprogramme für schon Erkrankte, sondern um die Vermeidung chronischer Erkrankungen. Dass das funktioniert, hat Finnland vorgemacht. Dort sind die Herzerkrankungen um 50 Prozent zurückgegangen. Die Deutschen sind allerdings Präventionsmuffel. Nur 15 Prozent der Erwachsenen nehmen die heute angebotenen Vorsorgeuntersuchen in Anspruch.

    Man müsste die Deutschen also zu ihrem Glück zwingen – etwa durch höhere Krankenkassenbeiträge, wenn sie vom Arzt verordnete Prävention nicht wahrnehmen. Vor der Wahl aber wagt das kein Politiker laut auszusprechen.