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Krebsgefahr durch Kernkraftwerke

Mediziner und Umweltverbände sehen einen direkten Zusammenhang zwischen dem Leben in der Nähe von Atomkraftwerken und Leukämieerkrankungen als erwiesen an. Kinder- und Jugendärzte verlangen von der Bundesregierung eine verbesserte Vorsorge, die in Deutschland geltenden Grenzwerte für Strahlenemissionen müssten an den internationalen Forschungsstandard angepasst werden.

Von André Hatting |
    Was der BUND und die Internationalen Ärzte für die Verhinderung des Atomkrieges, IPPNW heute vorgelegt haben, sind tatsächlich neue Erkenntnisse: Fast die Hälfte aller Kinderkrebserkrankungen im Umkreis von fünf Kilometern um ein Atomkraftwerk geht darauf zurück, dass der Nachwuchs in der Nähe eben dieser Anlagen aufwuchs. Das ist das Ergebnis einer Überprüfung der bislang weltweit größten Studie, die im Dezember vorgelegt worden ist.

    Darin hatte es geheißen, dass nur 29 Säuglinge und Kleinkinder zwischen 1980 und 2003 im Umkreis von 5 Kilometern an Leukämie erkrankt seien. Die Überprüfungsstudie im Auftrag des Bundesamtes für Strahlenschutz stellt heraus, dass im weiteren Umkreis von 50 Kilometern es mindestens viermal so viele sind. Diese beträchtliche Abweichung entsteht aber nicht nur durch den höheren Radius. Ein weiteres Problem ist, dass man die Strahlung im Umkreis der AKWs nicht einfach so messen kann. Das haben auch die Wissenschaftler damals nicht getan, sagt Angelika Claußen, Vorsitzende der IPPNW:

    "Das Modell, das man genommen hat, um diese Strahlenexposition eben doch indirekt abzuschätzen, ist, dass man gesagt hat, wir nehmen den Abstand zwischen dem Schornstein des AKW, wo die Abluft rauskommt, bis zum Wohnort der Familie, die wir untersuchen, so dass wir den individuellen Abstand bestimmen, nicht allgemein nur Kreise, sondern den individuellen Abstand zu den betroffenen Kindern, die auch krank geworden sind, so dass dieser Abstandsparameter eine Ersatzgröße ist."

    Das Pikante daran ist, dass in der Vorstudie zu der im Dezember veröffentlichten Arbeit genau dieses Modell auch vorgesehen war. Am Ende ist es aber einfach unter den Tisch gefallen, wie ein Zitat aus der Abschlussstudie belegt, das Angelika Claußen auf der Pressekonferenz vorgetragen hat:

    "Die Exposition gegenüber ionisierender Strahlung wurde weder gemessen noch modelliert. Gemessen wurde es nicht, weil es nicht geht. Aber sie wurde modelliert. Sie widersprechen sich wirklich. Sie haben es selber modelliert. Sie haben ihr Modell, wie es ja wissenschaftlich sich gehört und redlich ist, auch genau beschrieben und sagen dann aber: Wir haben da gar nichts modelliert. Das ist eindeutig falsch! Da widersprechen sie sich. Ob man das als Betrug bezeichnen soll? Ich finde, ja."

    IPPNW und BUND sehen mit dieser heute vorgestellten Kontrollstudie auch eindeutig den direkten kausalen Zusammenhang zwischen Atomkraftwerksnähe und Leukämieerkränkung bewiesen. Hubert Weiger, Vorsitzender des BUND:

    "Das bestätigt nur die Jahrzehnte alte Erkenntnis, die die Radiologie hat, dass es keine unschädliche Strahlendosis gibt, dass natürlich auch von der kleinsten Strahlendosis die jüngsten Menschen aufgrund der stark wachsenden Gewebezellen und Organzellen besonders betroffen sind. Und deswegen gilt es, nicht länger zu bagatellisieren, sondern die Bundesregierung ist gefordert und der Bundesumweltminister ist gefordert, daraus entsprechende Konsequenzen zu ziehen."

    Die wären erstens Stilllegung aller Atomkraftwerke, zweitens Entschädigung für Familien, die mit ihren Kindern wegziehen, um nicht weiter der Strahlung ausgesetzt zu sein, drittens Umkehr der Beweislast. Nicht die Krebskranken sollen belegen, dass die Strahlung im Umkreis eines Atomkraftwerks schädlich ist, sondern die Energiekonzerne sollen nachweisen, dass keine Gefahr besteht, auch wenn man näher als fünf Kilometer an einem Kernkraftwerk wohnt.

    Um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen, haben Kinder- und Jugendärzte einen Appell verfasst. Sie verlangen von der Bundesregierung eine verbesserte Risikovorsorge. Vor allem die in Deutschland geltenden Grenzwerte für Strahlenemissionen müssen an den internationalen Forschungsstandard angepasst werden, sagt Winfrid Eisenberg, der ehemalige Leiter der Kinderklinik Herford:

    "Die sogenannten erlaubten Emissionen, also die Grenzwerte, die da festgelegt sind, orientieren sich nicht an Kindern und schon gar nicht an Embryonen, sondern an gesunden Erwachsenen. Das halten wir für einen Skandal. Denn es geht um die Kinder."

    Winfrid Eisenberg leitete bis 2002 das Kinderklinikum in Herford und ist einer der Initiatoren eines Appells an die Bundesregierung. Etwa 100 Ärzte haben diesen Appell unterschrieben.