Eine junge Lehrerin an einer französischen Vorschule über die Bedeutung der Frühförderung:
"Ich liebe es, mit ganz jungen Kindern zu arbeiten. Meine Aufgabe ist es, sie so weit zu bringen, dass sie ihre Schullaufbahn unter den besten Bedingungen absolvieren können. Die Kinder in meiner Klasse haben die nötigen Voraussetzungen. Ich weiß, dass sie es alle schaffen werden!"
Und ein bosnischer Geschichtslehrer über mangelnde gesellschaftliche Anerkennung:
"Bis zum Krieg waren die Lehrer ganz wichtige Kräfte der Gesellschaft. Erst die Schulbildung hat Jugoslawien zu dem gemacht, was es einst war. Jugoslawien hatte seinen Status den Lehrern zu verdanken, man müsste ihnen ein Denkmal setzten. Jetzt aber herrschen andere Werte: Geld, Politik und Macht."
Nicht jeder Beruf ist eine Berufung. Doch jeder Beruf ist Teil der eigenen Identität – mit seinen spezifischen Werten und Prinzipien, mit seinem Lebensstil, Ansehen und gesellschaftlichem Gewicht. Er ist oft Sinn und Lebensinhalt. Er prägt das Denken, Fühlen, den gesamten Lebensrhythmus: ein ganzes Arbeitsleben lang. "Lebenswelten" – das ist der Titel unserer Sendereihe, mit der wir den Programmschwerpunkt "Werkstatt Europa" des Deutschlandfunk begleiten. Mit grenzüberschreitenden Alltagsszenen aus verschiedenen Berufen. Heute eben: Lehrer in Europa – wie sehen sie sich, wie werden sie gesehen? Und was es heißt es heute: Wissen zu vermitteln? Wo das alte humanistische Ideal – non scholae sed vitae discimus: nicht für die Schule lernen wir, sondern fürs Leben – nur noch ein Nachhall aus fernen Zeiten zu sein scheint. Und vielen dennoch pädagogisches Leitbild geblieben ist.
Vor der Veranstaltung machte mich der Schuldirektor darauf aufmerksam, dass es schwierig werden könnte mit seinen Schülern, sie brächten die Geduld für Literatur kaum mehr auf. Und dann sagte er etwas, das mich beeindruckte. "Wir Lehrer," sagte er, " sind zu langsam." Und dann erzählte er von einem Experiment, das er kürzlich mit Schülern und Lehrern zusammen gemacht habe. Sie hätten gemeinsam verschiedene Videoclips angeschaut und hinterher aufgeschrieben, was sie gesehen hätten. Die Schüler hätten das mühelos auflisten können. Die Erwachsenen aber hätten sich kaum noch erinnern können, hätten eigentlich kaum etwas gesehen, es sei ihnen alles zu schnell gewesen.
Der Schuldirektor zog daraus den Schluss, dass man diese Aufnahmekapazität der Schüler ausnützen müsste, und er machte sich seine Überlegungen dazu.
(Peter Bichsel: Zeit zum Lesen, aus: Doktor Schleyers isabellenfarbige Winterschule, Suhrkamp 2003)
Der Schweizer Schriftsteller Peter Bichsel, in den 50er Jahren selbst einmal Volksschullehrer, hat bei Lesungen seine ganz eigenen Erfahrungen gemacht mit dem Lehr- und Lernverhalten von Lehrern und Schülern. Die Kinder hören kaum zu. Und: sie lesen nicht mehr – dafür, sagt nicht nur Bichsel: braucht man vor allem eins: Zeit. Zeit zum Lesen. Und zum Lesenlernen.
Den Grundstock dafür soll schon von Kindesbeinen an in Frankreich die école maternelle legen – die Vorschule für die Kleinsten ist zum Nationalsymbol für den umfassenden Bildungsanspruch des französischen Staates geworden. Eingerichtet von der französischen Regierung, die bereits Ende des 19. Jahrhunderts beschlossen hatte, die Weichen für Bildung und Wissen sehr früh zu stellen: der Besuch der école maternelle ist zwar nicht obligatorisch, doch heute besuchen etwa 30 Prozent der Zwei- und fast alle Dreijährigen die Vorschule. Und besonders für Kinder aus Immigrantenfamilien und sozial benachteiligten Schichten erweist sich die "maternelle" mehr denn je als wirksames Instrument für Chancengleichheit und Integration. Davon ist nicht nur der französische Staat überzeugt. Sondern jeder, der hier arbeitet.
Bettina Kaps berichtet aus einem Vorort von Paris.
Frühförderung in Frankreich
Von Bettina Kaps
Julie Colmard hat sich auf einen Kinderstuhl gehockt, die langen Beine angewinkelt. Bequem ist das nicht, aber so sitzt sie in Augenhöhe mit den Kindern. Die Zwei- und Dreijährigen sind im Halbkreis um die Lehrerin geschart. Die junge Frau nimmt ein Bilderbuch. Sie liest den Text vor, dann zeigt sie das Bild herum.
"Wer spricht in der Geschichte? Wer erzählt sie? Wer hat einen grünen Frosch? Der Clown. Und wer hat einen braunen Bären? Der Clown. Es ist der Clown, der seine Geschichte erzählt."
Zwei Knirpse zappeln, ein schwarzlockiges Mädchen schubst seinen Nachbarn, ein paar Kinder schauen verträumt ins Leere, aber die meisten hören aufmerksam zu. Und das, obwohl sie schon seit drei Stunden in der Ecole Maternelle sind. Die Vorschule beginnt um 8 Uhr 30, und jetzt ist gleich Essenszeit. Julie mahnt zur Ruhe. Die dunkelbraunen Haare umrahmen ihr frisches Gesicht, Mit ihrem schlichten braunen Wollpullover, dem goldenen Anhänger aus Ägypten, Jeans und derben Lederschuhen sieht sie aus wie eine Studentin. Dabei ist die 26-Jährige seit drei Jahren berufstätig.
"Was ist das, Kinder? Ein Speiseplan. Und was ist ein Speiseplan? Richtig, das ist ein Blatt Papier. Auf dem etwas ganz Wichtiges geschrieben steht. Wenn man den Speiseplan liest, dann weiß man, was es in der Kantine zu essen gibt. Ich lese euch jetzt den Speiseplan von Freitag vor, heute ist nämlich Freitag."
Kürbissuppe, Lachs und Brokkoli geben neuen Stoff ab. Was ist ein Kürbis? Wo lebt ein Lachs? Zwei, drei Finger schnellen in die Höhe.
"Die Kleinen sind natürlich aufgeweckter als die ganz Kleinen. Die Dreijährigen sind selbstständiger, körperlich weiter und sprachlich. Die Zweijährigen hören, wie die Älteren singen und sprechen, mit einem vollständigeren Satzbau. Wenn wir die beiden Altersstufen mischen, werden die ganz Kleinen mitgezogen und machen Fortschritte, davon bin ich überzeugt."
Julie Colmard unterrichtet die Dreijährigen in einer Schule an der "Porte de Montreuil", am östlichen Stadtrand von Paris. Die Gegend ist schäbig, die Bevölkerung hier ist arm, viele Einwandererfamilien leben hier. Das Ministerium hat das Viertel zur vordringlichen Bildungszone erklärt. Deshalb ist die Klassenstärke niedriger als an anderen Schulen. Julie unterrichtet nur 22 Kinder. Außerdem – und das ist selten in Frankreich - gibt es in ihrer Schule schon eine Gruppe mit Zweijährigen. Die lädt sie regelmäßig in ihre Klasse ein.
"In den vordringlichen Bildungszonen versucht man bewusst, die Kinder früh aufzunehmen. Sie können die Vorschule dann vier Jahre lang besuchen. Für Kinder, bei denen im Elternhaus nicht oder nur schlecht Französisch gesprochen wird, ist das eine echte Hilfe."
Kurze Pause vor dem Mittagessen. Joseph, Zinedine, Anais und die übrigen ziehen ihre Mäntel an. Die Lehrerin kontrolliert, ob alle Reißverschlüsse geschlossen sind. Über den Kleiderhaken stehen die Vornamen der Kinder und auch neben der Tafel mit den Zahlen von eins bis fünf. Die Namen sind in Druckschrift geschrieben. Auf die Rückseite hat die Lehrerin das jeweilige Foto geklebt. Jeden Morgen suchen die Kinder ihr Etikett und heften es an die Wand.
"Ziel ist es, dass sie ihren Namen erkennen, ohne auf das Foto zu schauen. Sie sind erst drei Jahre alt, das heißt aber nicht, dass man mit ihnen nur ganz simple Dinge machen kann. Einige können schon sehr viel. Ich passe mich den unterschiedlichen Niveaus der Kinder an."
Wenn die Aufmerksamkeit nachlässt, dürfen die Kinder in der Puppenküche spielen. Oder im Sandkasten, der neben der Bücherecke aufgestellt ist. Eine Wand des Klassenzimmers ist mit schrägen Brettern verkleidet, darauf wird gemalt. Im Regal stapeln sich Schachteln mit Farben, Pinseln, Knetmasse und Bastelmaterialien. Alle Fächer sind mit Druckbuchstaben beschriftet.
"Die Sprache ist für mich das Allerwichtigste. Es ist bekannt, dass viele Jugendliche Schulversager sind, dass sie nicht lesen können, oder nicht verstehen, was sie lesen. Deshalb ist die Vorschule so wichtig. Wir müssen die Grundlagen legen, damit die Kinder später Erfolg haben. Das ist unsere Aufgabe als Vorschullehrer, und zwar von der ersten Klasse an."
Julie begleitet die Kinder in den Hof. Die junge Frau hat drei Jahre Englisch studiert, ein Jahr in Großbritannien gelebt, und dann, mit 23 Jahren, die Aufnahmeprüfung für den Lehrerberuf gemacht. An ihrer Akademie gab es 10.000 Bewerber für das Lehramt, aber nur 400 Plätze. Julie hat das Auswahlverfahren im ersten Anlauf bestanden. Die Ausbildung zum Grund- und Vorschullehrer dauert danach nur noch ein Jahr.
"Ich liebe es, mit ganz jungen Kindern zu arbeiten. Meine Aufgabe ist es, sie so weit zu bringen, dass sie ihre Schullaufbahn unter den besten Bedingungen absolvieren können. Die Kinder in meiner Klasse haben die nötigen Voraussetzungen. Ich weiß, dass sie es alle schaffen werden!"
Mit ihrem Diplom kann Julie Colmard jederzeit auch in der Grundschule unterrichten. Das macht ihren Beruf so abwechslungsreich. Später wird sie vielleicht mal die 10-Jährigen auf die weiterführende Schule vorbereiten. Doch heute fühlt sie sich bei den Dreijährigen genau am richtigen Platz.
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Die Ansprüche an die Lehrer sind enorm gewachsen. Die Schulen sollen heute innovativ sein und zukunftsorientiert. Das fordert die Gesellschaft, die sich in den letzten 15 Jahren rasant verändert hat, politisch, wirtschaftlich und technologisch. Das fordern die Politiker, die Bildung wieder groß schreiben und die Wissensgesellschaft proklamieren. Und das fordern nicht zuletzt die Eltern, die selbst in der Informationsflut den Überblick verloren haben und hoffen, dass zumindest ihre Kinder lernen, wo es langgeht. All dies soll die Schule stemmen – genauer: die Lehrerinnen und Lehrer sollen es tun. Dabei sind sie mit Sparzwängen gleichermaßen konfrontiert wie mit immer neuen Reformanstrengungen. Und sollen ganz nebenbei auch noch die sozialen Fehlentwicklungen korrigieren, die sie als gesellschaftliche Frühsensoren als erste erkennen und zu spüren bekommen.
Davon zeugen die Pisa-Studien, die im Ländervergleich die bildungspolitischen Defizite schonungslos aufdeckten und damit Bildungspolitik wieder ins öffentliche Bewusstsein rückten. Seither ist wieder viel von Frühförderung die Rede – und vom Schlagwort der Chancengleichheit. Die Kombination aus beidem hat Finnland mehrmals zum Testsieger gemacht: anders als in Frankreich, wo trotz des frühen Lesenlernens nur eine kleine Elite den Weg durch das begehrte Nadelöhr in die Ecole Normale Superieure findet, setzt Finnland auf Förderung für alle. Ein derart kleines Land darf keine Auslese betreiben – diese simple wie einleuchtende Devise steckt hinter der Idee, möglichst viele Schüler zum Abitur zu führen. Und damit keiner auf der Strecke bleibt, wird den Schwächeren geholfen – der Förderunterricht durch sogenannte Speziallehrer ist Teil des finnischen Schulsystems. Stefan Tschirpke war an einer Schule in Helsinki.
Frühförderung in Finnland
Von Stefan Tschirpke
Drei Schulanfänger sprechen Worte nach, rhythmisch in Silben. Taulu, Tafel. Und weil das so flott ging, das Gleiche noch einmal mit dem schwierigeren Wort ikkuna, also Fenster.
"Seuraavaksi kirjoita sana ikkuna"
Die Dirigentin des kleinen Silbensprechorchesters ist Päivi Kalliomaa. Anfang 40, zierlich, blonde schulterlange Haare, Jeanskombination aus Jacke und Hose, unkonventionell, sympathisch. Speziallehrerin an der Pakilan Ala-aste, einer Grundschule im Stadtteil Pakila in Helsinki.
Max, Pia und Antti haben Schwierigkeiten Wörter zu bilden. Weil die Erstklässler immer noch nicht richtig lesen können, sind sie zwei Stunden pro Woche bei ihrer Speziallehrerin.
"Meine erste Aufgabe ist es, Schülern, die Lernschwierigkeiten haben, zu helfen. Meine zweite Aufgabe besteht darin, den Klassenlehrer zu entlasten. Bei 25 bis 30 Schülern kann sich der Klassenlehrer um den Einzelnen kaum kümmern. Diejenigen, die besondere Aufmerksamkeit brauchen, erhalten diese vom Speziallehrer."
Förderunterricht ist nichts Besonderes an finnischen Grundschulen. In Päivis Schule sind es durchschnittlich drei Schüler pro Klasse. Mit 24 Förderstunden pro Woche sind die zwei Speziallehrer voll ausgelastet.
Entschieden wird über den Förderbedarf von der Oppilashuolto, der Schülerfürsorge. Jeden Freitag trifft man sich, ein Team aus Klassenlehrer Schulpsychologe, Krankenschwester, Kurator und Speziallehrer.
"Wichtig ist das Gespräch mit dem Klassenlehrer. Er weiss, welcher Schüler nicht mitzieht oder sich nicht konzentrieren kann. Wichtig ist auch, dass in den Klassen getestet wird. Wir wollen verhindern, dass das Kind den Anschluss verliert und ausgegrenzt wird."
Selbständiges Lernen im zweiten Teil der Unterrichtsstunde. Max und Pia schreiben Wortsilben, während Antti am Computer sitzt. Klick, klick, ein Bild mit einem hevonen, also Pferd, erscheint, darunter die Silben des Wortes, durcheinander gewürfelt. Antti fügt die Silben schnell zusammen. Kalliomaa pendelt zwischen ihren Schützlingen hin und her, gibt Hilfe, lobt kleine Fortschritte. Für Pia gibt es nach der Stunde noch ein Extralob.
"Sie liest schon so gut, dass sie bald am Förderunterricht nicht mehr teilzunehmen braucht."
Elf Uhr, Hofpause. Im Lehrerzimmer streift sich Päivi noch schnell eine grell-grüne Signalweste über. Sie ist für die Hofaufsicht eingeteilt.
"Anfangs fanden wir die Weste schrecklich. Aber sie ist recht nützlich, denn falls etwas passiert, ist der Lehrer gleich zu erkennen."
Diesmal passiert nichts. Kinder tollen auf einem Schneehügel, jagen einem Ball hinterher. Das Berufsbild des Lehrers hat sich deutlich verändert, erzählt Päivi beim Spazieren über den Hof. Früher ging es um das Unterrichten. Heute erlebt eine Grundschullehrerin wie sie immer öfter, dass den Kindern auch vermittelt werden muss, wie man mit Messer und Gabel isst und wie man sich korrekt benimmt. Die Verantwortung des Lehrers ist größer geworden, aber Päivi empfindet auch, dass die Arbeit des Lehrers allgemein anerkannt wird. Nur mit der Bezahlung ist sie unzufrieden.
"Die gesellschaftliche Wertschätzung ist nicht im Gehalt zu spüren: 2500 Euro brutto! Das ist nicht besonders viel, gemessen an der Verantwortung des Lehrers und der Länge der Ausbildung."
Letzte Unterrichtsstunde. Sechs Schüler der fünften Klasse. Übungen in Bruchrechnung. Die Atmosphäre ist aufmerksam, aber locker, auch deshalb, weil sich Lehrerin und Schüler – wie in Finnland fast immer üblich - duzen. An der Tafel gelbe Magnetscheiben, die eine runde Pizza darstellen. Wie nennt man die Ziffer über dem Bruchstrich, fragt Päivi. Und welche Zahl steht im Zähler, wenn ich ein Pizzastück wegnehme? Fragende Blicke, unruhiges Herumrutschen. Die Spannung wächst. Bis endlich ein Mädchen die richtige Lösung nennt. So ganz zufrieden ist Päivi mit dem Verlauf dieser Stunde trotzdem nicht, vor allem weil sie sich nicht jedem Schüler ausreichend widmen konnte.
"Wenn im Förderunterricht Mathe behandelt wird, sind sechs Schüler bereits zu viel. Fünf sind das Maximum."
Früher Nachmittag. Kalliomaa eilt mit Notenblättern über den Flur. Die Lehrerband probt noch für das Schulfest, am Klavier Päivi Kalliomaa. An der Tür zum Musikraum wird sie von einer Schülerin abgefangen. Die Kleine möchte wissen, wann sie wieder in den Förderunterricht kommen kann.
"Wir haben viel dafür getan, dass die Kinder gern in den Förderunterricht kommen und um bei den Eltern falsche Vorstellungen abzubauen. Es gibt viele Wege des Lernens. Förderunterricht ist weder Nachhilfe noch Nachsitzen, sondern eine Form des Unterrichts an der Grundschule."
Der Schuldirektor hatte erst einmal recht. Die Aufmerksamkeit bei der Lesung war zum mindesten geteilt. Hinterher kam die Diskussion. Und er hatte noch einmal recht: die Fragen kamen schnell und frech und unzensuriert. Die Schüler versuchten, mich auf Trab zu bringen, aus dem Gleichgewicht zu bringen, vom Seil stürzen zu lassen. Mir blieb als Mittel dagegen nur die Langsamkeit.
Ich beantwortete die Fragen zögernd. Oft hatte ich mit der Beantwortung der einen Frage noch nicht begonnen, als schon die nächste kam – und plötzlich hatte ich ein aufmerksames Publikum. Die Fragen wurden länger, die Schüler begannen zu erzählen. Die Veranstaltung dauerte eine Stunde länger als geplant.
Da fiel mir plötzlich ein Satz ein, der neulich in einer Fernsehsendung fiel: "Vielleicht werden die heutigen Jungen das gehetzte Leben wieder langsamer machen". Das erinnerte mich an jenen Schuldirektor. Darauf ist er in seinen Überlegungen nicht gekommen: dass nämlich nicht etwa die Jungen das Leben schnell gemacht haben, sondern die Alten. Die Jungen können es nur besser und sind noch schneller. Und die Lehrer wollen schnell werden und rasen ihnen hinterher.
(Peter Bichsel: Zeit zum Lesen, aus: Doktor Schleyers isabellenfarbige Winterschule, Suhrkamp 2003)
Bildung ist in Europa Ländersache – es gibt keinen gemeinsamen europäischen Lehrplan oder Bildungskatalog. Geht es um Schulen und Universitäten, hat die Europäische Union kein direktes Wort mitzureden. Deutschland treibt dieses Prinzip der Kompetenzverteilung auf die Spitze: jedes Bundesland setzt Lerninhalte und Bildungsstandards selber fest.
Dabei gibt es durchaus gemeinsame europäische Wurzeln - ganz gleich, ob ecole, schola oder school: in fast allen europäischen Sprachen geht das Wort für Schule auf das Griechische zurück: scholé. Was so viel bedeutet wie Lehranstalt. Aber auch: Ort der Muße. Und: Muße an sich im Gegensatz zur körperlichen Tätigkeit. Platons Erziehungsideal ist bis heute einer der Grundsteine für Bildung, nicht nur in Europa.
Doch im Schulalltag ist von diesem gemeinsamen Erbe des Humanismus und der Aufklärung wenig zu spüren: Zwar gibt es in allen europäischen Ländern längst eine Schul- oder zumindest eine Bildungspflicht für Kinder zwischen 6 und 16 – die Lerninhalte klaffen jedoch weit auseinander. Überall unterschiedliche Ansprüche, Traditionen, Wertigkeiten. Überall hat die Geschichte der Nationen ihre Spuren hinterlassen. In Westeuropa gleichermaßen wie in Osteuropa. Zum Beispiel auch in Estland.
Nach dem Zusammenbruch des Sowjetreiches und der Unabhängigkeit musste das Land an der nördlichen Ostsee auch sein Schulsystem neu erfinden. Und tat es – nicht nebenbei, sondern mit höchster Priorität. "Erziehung ist eine Investition in die Zukunft" war das Schlagwort Anfang der 90er Jahre. Der baltische Tiger erwies sich auch auf bildungspolitischer Ebene als sprunggewaltig: Lernen sollten alle Esten, junge wie alte. Wie kaum ein anderes Land hat Estland von Anfang an auf Computertechnologie gesetzt. Im Alltag. Und auf Fremdsprachen - in den Schulen. Und manche der jungen erfolgreichen Bankiers investieren Unsummen in das Bildungswesen, etwa in die privat finanzierte Musterschule Rocca al Mare, die möglichst vielen estnischen Schülern die Chance eröffnen soll, zur europäischen Elite aufzusteigen. Alexander Budde hat eine Lehrerin in ihrer "kool" begleitet.
Neue Bildungseliten in Estland
Von Alexander Budde
An diesem Wintermorgen ist Janika Kärk in aller Frühe aus den Federn gesprungen. Ein hastiges Frühstück, dann werden die Töchter Mirjam und Merili, drei und sieben Jahre alt, warm eingepackt.
Janika und ihr Mann Viljar liefern die Kleine im Kindergarten, die große Tochter in der Schule ab. Viljar verabschiedet sich hastig von seiner Frau: Er arbeitet beim Grenzschutz. Auch Janika muss sich sputen: Sie fährt mit dem Auto weiter ins Stadtviertel Rocca al Mare im Nordwesten Tallins, wo sie als Deutschlehrerin an der gleichnamigen Privatschule unterrichtet.
Die zierliche Estin Anfang 30 bahnt sich ihren Weg ins Lehrerzimmer.
Durch breite Panoramafenster schweift der Blick über die Bucht und die dunklen Wasser der Ostsee. Skandinavisches Design prägt die hellen, freundlichen Räumlichkeiten. Auch in den Klassenräumen stehen überall Computer mit modernen Flachbildschirmen. Die so genannte "E-Schule" ist ein virtuelles Klassenbuch für Schüler, Eltern und Lehrer. Per Mausklick lassen sich nicht nur Studieninhalte und Hausaufgaben, sondern auch Noten und Fehlstunden ablesen. So kann Janika auch die eigenen Sprösslinge jederzeit im Blick behalten:
"Das ist mein Kind, meine Tochter Merili. Sie ist jetzt in der ersten Klasse, das ist Estnisch. Und hier kann ich alles sehen: Was die in der Stunde gemacht haben. Und hier die Hausaufgabe. Steht alles drin – und die Noten natürlich auch. Wenn jemand gefehlt hat, kann er jederzeit nachschauen. Oder wenn man krank ist eine Woche lang, kann man zuhause alles nachmachen."
Die Esten sind stolz auf ihre technischen Innovationen: Im Lande gibt es mehr Handys als Einwohner. Bankgeschäfte und Steuererklärungen werden über das Internet abgewickelt. Selbst bei den bevorstehenden Parlamentswahlen Anfang März können die Bürger im Netz abstimmen.
9 Uhr 15: Im Deutschkurs der Klasse Zehn übt sich der estnische Nachwuchs im richtigen Gebrauch des Konjunktivs. Auf die Vermittlung von Fremdsprachen wird in der kleinen Baltenrepublik mit ihren gerade einmal 1,3 Millionen Bewohnern größte Sorgfalt gelegt. Karl-Heinz hofft auf einen Studienplatz im Land seiner Vorfahren:
"Wir können verschieden Sprache lernen: Spanisch, Schwedisch, Französisch. Ich glaube, dass Russisch mehr populär als Deutsch ist, aber es interessiert mich und meine Urgroßmutter war auch aus Deutschland. Wenn ich klein war, konnte ich es ziemlich gut sprechen."
Wie alle Staaten Osteuropas machte auch Estland nach der Unabhängigkeit einen brutalen Wandel durch: Die Regierung setzte nach der Abnabelung von Russland auf streng marktliberale Prinzipien. Arbeitslosigkeit und Zukunftsangst machten sich breit, die Emigration nahm erschreckende Ausmaße an. Gewinner des Wandels war die junge, urbane Elite, die im Finanzsektor, als Unternehmer oder in der Telekom-Branche gutes Geld verdient. Janika, die selbst noch in der Sowjetzeit die Schulbank drückte, bewundert den Tatendrang der jungen Esten:
"Mir gefällt der Ideenreichtum. Mir gefällt der Mut, auch was ganz anderes zu machen. Das ist natürlich damit verbunden, dass man vor 15 Jahren, als Estland frei wurde, einfach niemanden hatte, der soviel Mut gehabt hätte. Und dadurch ist es auch gekommen, dass wir Leute auf den ganz hohen Posten hatten, die 23 oder 25 Jahre alt waren. Die sind jetzt 30 und bekommen Herzinfarkte, weil sie soviel gearbeitet haben."
Aus dem sagenhaften Vermögen junger Bankiers speist sich auch das Gründungskapitel der privaten Rocca al Mare-Schule. Ein Stipendium ermöglicht auch solchen Kindern eine Ausbildung, deren Familien sich das teure Schulgeld nicht leisten können. Lange Jahre waren geringe Steuern und der schlanke Staat das Leitbild. So wurden Kinder zum Armutsrisiko. Das kleine Volk wird immer kleiner.
Unterdessen wurden schon die ersten Schulen geschlossen und auch in Rocca al Mare leiden sie unter dramatisch sinkenden Schülerzahlen aus den geburtenschwachen Jahrgängen. Um ihren Arbeitsplatz muss Janika dennoch nicht fürchten. Im Gegenteil: kompetente Lehrer werden in Estland händeringend gesucht:
"Der Beruf von Lehrern ist nicht besonders hoch angesehen. Er ist auch schlecht bezahlt. Junge Leute kommen nicht in die Schule, sondern machen, was finanziell viel mehr einbringt, gehen in die Wirtschaft. Und natürlich ist der Beruf nicht der einfachste."
Mit ihrem Gehalt von rund 600 Euro monatlich verdient Janika Kärk in etwa doppelt soviel wie ihre Kollegen an den staatlichen Schulen. Dennoch kommt die Familie mit beiden Gehältern gerade so über die Runden. Die Zwei-Zimmer-Wohnung im Plattenbau ist eigentlich viel zu klein, doch etwas Größeres können sich Janika und Viljar bei steigenden Mieten und Heizkosten nicht leisten. So sitzt Janika spätabends noch am Küchentisch. Wenn die Kinder schlafen schreibt sie mit eisernem Willen an ihrer Doktorarbeit über deutsche Modalverben:
"Ich hatte so das Gefühl, mir wird langweilig. Oder meinem Kopf wird langweilig. Es ist zwar sehr viel Arbeit in der Schule, aber ich möchte viel mehr denken, sage ich mal so. Ich will noch soviel tun in meinem Leben, habe so viel Ideen, dass ich vielleicht ein Bruchteil von den Ideen verwirklichen kann, die in meinem Kopf jetzt da sind."
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Überall ist der Druck auf die Lehrer gewachsen, überall sind die Erwartungen und die Ansprüche gestiegen. Nur an den Negativ-Klischees hat sich nicht viel geändert – ein Lehrer hat den halben Tag recht und die andere Hälfte frei. Sätze wie diese sind zwar weit verbreitet, sprechen aber der gesellschaftlichen Bedeutung dieses Berufsstandes Hohn: und sie sind dem Selbstbewusstsein der Lehrer nicht gerade förderlich. Viele sehen sich als Opfer eines umfassenden Bildungsnotstandes – die Schule ist längst zu einem Spiegelbild der gesellschaftlichen Polarisierung im Zeichen des wachsenden Wohlstandsgefälles geworden: Hektische, halbgare Bildungsreformen, zu wenig Geld, schlechte Ausstattung, zu große Klassen, zu viele Spannungen und Problemgruppen – kein Wunder, dass viele Lehrer angesichts dieser Defizite in den staatlichen Bildungseinrichtungen resignieren. Und immer mehr Eltern, die es sich leisten können, ihre Kinder lieber Privatschulen schicken.
In Großbritannien haben die Public Schools – die privaten Colleges also, eine lange Tradition für die Bildung der Oberschicht. Die Nachfrage wächst – denn alle Versuche der Regierung, die staatlichen Schulen zu reformieren und das öffentliche Bildungssystem wieder aufzuwerten, sind gescheitert. So hat die Öffentlichkeit das Vertrauen in das staatliche Schulsystem verloren – und die privaten Institute boomen. Längst können auch die teuersten Internate nicht mehr jeden Bewerber aufnehmen. Eigentlich paradox: an den exklusiven Colleges verdienen die Lehrer deutlich weniger als an staatlichen Schulen. Trotzdem geht - wer es sich leisten kann – an eine sogenannte Public school.
Alte Bildungseliten in Großbritannien
Von Ruth Rach
Mit einem Seufzer der Erlösung manövriert Ken Kimber seinen weißen Skoda durch ein enges Steinportal, weg von der verstopften Landstraße, vom allmorgendlichen Verkehrschaos. Lauschige Gärten, diskrete Villen, ein stiller Golfplatz. Im Landschaftspark ehrwürdige Zedern, und auf lieblicher Anhöhe ein Landschloss aus dem 18. Jahrhundert, mit weißem Säulenportal: Claremont Fan Court, eine Privatschule in der südenglischen Grafschaft Surrey.
"Bei diesem Anblick geht mir jeden Tag die Seele auf."
Ken Kimber, Anfang 50, blaue Augen, blauer Pulli, dunkelblaue Hose, Stachelhaarschnitt, Krawatte. Ken Kimber unterricht Englisch und Drama. Seit 7 Jahren. Davor war er an einer staatlichen Gemeinschaftsschule. Claremont Fan Court hat 650 Schüler und Schülerinnen zwischen 6 und 18 Jahren. Sie kommen mit dem Schulbus – oder werden von den Eltern hergefahren. Es ist 8 Uhr 25.
Ken Kimbers Büro: Stapelweise Bücher und Videos, König Lear, Charlie Chaplin, Pygmaelion. Eine Kaffeemaschine. Ein Staubsauger, ein Bügelbrett. Exotische Masken, Musikinstrumente. Ken Kimber hat ein neues Theaterstück laufen. Die Bühne ist gleich nebenan.
Ken Kimber loggt sich in den PC ein. Jeder Schüler hat einen Laptop. Wer fehlt, entschuldigt sich virtuell. Normalerweise wäre jetzt Lehrer- und Schülerversammlung. Aber letzte Woche war Inspektion. Die Schule schnitt gut ab. Jetzt erholt man sich erst einmal von der Aufregung. Ken Kimber sortiert die Theaterkasse, organisiert Kulissen für die Abendvorführung.. Ein langer Tag.
Neun Uhr. Ken Kimber besucht seine Tutorengruppe – 6 Studenten, die er persönlich betreut. Die Abiturienten haben ihr eigenes Häuschen - komplett mit Küche: das weiße cottage aus dem 18. Jahrhundert,. Heute besprechen sie ihre Präsentation für die Schulversammlung. Thema: labels – zum Beispiel Prolos, Snobs, Streber. "In manchen Gegenden würden wir zusammengeschlagen, wenn wir uns in unserer Schuluniform zeigen würden", sagt ein Mädchen. Sie diskutieren. Vorurteile, Klassenunterschiede, Klischees
Ein ziemlich gemischtes Grüppchen : sie wollen Business studieren, aber auch Medien, Mathematik, Kunst. Die Eltern sind Geschäftsleute, Sportler, Künstler. Manche wohnen gleich um die Ecke, andere weiter weg.
In der Marmorhalle wartet Tiffany, eine Praktikantin. Sie hat letzte Woche in einer Staatschule gearbeitet. Kurzführung durch den Drawing Room. Grüne Seidentapete, Mamorkamin, alte Stiche. Hier entstand ein Portrait der französischen Königsfamilie im Exil. Als kleines Mädchen verbrachte Königin Victoria ihre Ferien in Claremont. Die Schule wurde erst in den 1930er Jahren gegründet.
Die nächste Klasse. Blaue Faltenröcke. Weiße Söckchen. Blazer mit Schulwappen. Dunkle Anzüge. Schulkrawatten. Polierte Lederschuhe. 17 Schüler und Schülerinnen im Alter von 14. Stimmübungen, Gedichte, Kurzdialoge, Ken Kimber ist superhöflich. Sie gehorchen aufs Wort. Machen begeistert mit.
Was ist falsch daran, wenn sie Spaß in der Schule haben. Vor allem wenn sie gleichzeitig lernen viel selbstbewusster aufzutreten, kreativ zu sein, im Team zu arbeiten, und besser zu kommunizieren. All das ist in der modernen Welt lebenswichtig.
Auch staatliche Schulen unterrichten Drama. "Aber die Klassen sind viel größer, der Lehrer muss sich 15 Mal wiederholen, bis er überhaupt gehört wird", sagt Tiffany während der Kaffeepause. Ken Kimber nickt:
"Meine schlimmste Erfahrung war in einer Inner City Schule: der Drama-Unterricht fand in einer verdunkelten Halle statt. Die Klasse kam rein, rannte weg und versteckte sich."
Die nächste Mini-Klasse ist verschollen. Ken Kimber hat Verständnis: alle drei spielen Hauptrollen im Schultheater. Schließlich kommt Michael, ein eleganter junger Mann. Vor kurzem hätte er in einem Spielfilm fast die Hauptrolle bekommen.
Ein Stück von Pinter. Konzentrierte Textanalyse. 30 Minuten Einzelunterricht auf hohem Niveau. In Privatschulen sind die Semester kürzer – gleichzeitig werde mehr Lehrstoff vermittelt, und mehr geleistet, sagt Ken Kimber.
Zum MIttagessen treffen sich Schüler und Lehrer in der Cafeteria. Es gibt Salate, vegetarische Burger, Chili con Carne.
"Als ich hier in Claremont anfing, dachte ich jeden Morgen, ich bin im Himmel gelandet."
Dennoch sei Claremont keine Eliteschule.
"Die Unterschiede? Erst einmal die Gebühren. Wir verlangen 12.000 Pfund im Jahr - Eton, Harrow oder Winchester wollen mindestens 20.000. Außerdem sind wir nicht so selektiv. Wir haben durchaus auch Kinder, die mehr Hilfe benötigen. Eliteschulen stehen zunehmend unter Druck, sich zu öffnen. Wer die akademischen Voraussetzungen mitbringt – und die dazugehörigen Finanzen, hat gute Aussichten. Aber nur eines davon– Intellekt oder Geld, garantiert dir inzwischen keinen Platz mehr."
Ken und Tiffany klagen: Lehrer wurden von der britischen Gesellschaft seit jeher verachtet. Lediglich Journalisten, Makler und Politiker hätten einen noch schlechteren Ruf.
Die Nachmittagsklasse, zehn aufmerksame 12-jährige, die ein Stück für Ihr Examen einproben. Wieder das Thema : Klassenunterschiede. Die verschiedenen Register. Verhaltensweisen. Dann eine Pause – bis zum Abend.
Um halb acht geht der Vorhang auf. Ken Kimber ist wieder im Einsatz, aber diesmal hinter den Kulissen.
Es war einmal vor langer, langer Zeit ein Briefkastenonkel im Radio. Dem schrieb man, wenn es Unstimmigkeiten gab über die Höhe eines Berges oder die Tiefe eines Sees, ein Briefchen und wartete dann wochenlang, bis im Radio die Antwort kam. "Liebe Nichten und Neffen", begann dann der Briefkastenonkel, und er gab nicht nur eine Antwort, sondern erzählte vorerst über Berge und Seen, über die Probleme der Vermessung, über die Weltmeere, über Längen- und Breitengrade. Er hatte Zeit. Und sollte der Streit am Stammtisch über die Tiefe des tiefsten Binnensees ein heftiger gewesen sein, der Briefkastenonkel schlichtete ihn gemütlich.
Niemand wünscht ihn sich zurück. Er wäre nicht mehr auszuhalten, und auf Information wartet niemand mehr wochenlang. Die ruft man heute ab, und niemand mehr möchte sie erzählt haben. Da gibt es kein zurück, die Langsamkeit ist verloren.
Die Langsamkeit des Briefeschreibens, die Langsamkeit des Briefelesens, die Langsamkeit der Zeitung, mit der man gemütlich neben dem Kaffee den Tag begann.
Die Welt rast, und wer nicht mitrast, ist verloren. Und so rasen wir halt – die Jungen etwas schneller und die Alten hinterher.
Und mitten in die Raserei hinein platzt kurz die Pisastudie, die feststellt, dass es schlecht steht um die Lesefähigkeit der Jungen. Und selbstverständlich kann das nur die Schule sein, die versagt hat.
Der Schuldirektor wird sich wohl wieder Gedanken machen müssen. Und er wird wohl wieder feststellen, dass die Schule zu langsam ist.
(Peter Bichsel: Zeit zum Lesen, aus: Doktor Schleyers isabellenfarbige Winterschule, Suhrkamp 2003)
Wenn von der Bildungsmisere in Europa die Rede ist, darf der Blick in Richtung Süden nicht fehlen: Italien hat schlecht, sehr schlecht abgeschnitten bei den Pisastudien – auch dort ist die Debatte nun von hektischen Reformbemühungen geprägt. Doch die düstere Bilanz gilt nicht fürs ganze Land: Beim Binnenvergleich 2003 belegten die Regionen Trentino und Südtirol sogar Plätze an der Weltspitze. Ein Prädikat, mit dem besonders die dreisprachige Region in den Dolomiten für sich wirbt. Ist die Auszeichnung doch die offizielle Bestätigung für eine konsequente Schulreform und für den Erfolg des Autonomiestatuts, das auch und gerade den deutschsprachigen Schulen zugute kommt.
Der Traum der dreifachen Muttersprachler in Südtirol allerdings hat sich nicht erfüllt – die Unterrichtssprache ist, bis auf wenige Ausnahmen, entweder deutsch. Oder italienisch. Doch nicht nur die Lehrer, auch die Schüler haben ein Wörtchen mitzureden, und sie tun es – jedenfalls in Bruneck. Von dort berichtet Karl Hoffmann:
Völkerverständigung in Südtirol
Helene Dorner kommt an der neuen Sporthalle vorbei, dem Kernstück des neuen Schulzentrums von Bruneck, in der die Arbeiter noch fleißig am Werk sind. 11 Millionen Euro kostet sie, wenn sie im Herbst fertig wird, dann werden Helenes Kollegen 400 Wochenstunden Sport für die Schüler aus dem gesamten Pusztertal dort unterrichten können, aber auch für Konzerte und Theaterveranstaltungen ist die neue Halle geeignet.
Helene Dorner eilt die Treppe zu den Schulräumen im daneben liegenden Realgymnasium hinauf. Am Dienstagnachmittag treffen sich alle 40 Lehrer zu ihrer wöchentlichen Besprechung. Da geht es um Lehr- und Stundenpläne, um Fortbildung und immer wieder um das leidige Problem Südtirols: die Zweisprachigkeit.
"Rein rechtlich ist alles klar abgesichert. Die Kinder bekommen von der 2. Klasse Volksschule weg Unterricht in der so genannten "Zweiten Landessprache", also die deutschen Kinder in Italienisch und die italienischen Kinder in Deutsch. Das ist alles garantiert und schriftlich festgehalten, Nur die Realität sieht dann einfach anders aus, weil es da emotionale Widerstände gibt gegen das Erlernen der zweiten Sprache.
Plus Eltern, die dann sagen: ‚Es ist nicht so wichtig dass du in Italienisch gut bist an der Schule, ich schick dich ein Jahr nach Amerika, das ist egal, aber Italienisch brauchst du nicht."
Nach langen Auseinandersetzungen, gegenseitigen Verletzungen und endlosen Verhandlungen seit dem zweiten Weltkrieg herrscht Frieden zwischen der deutschsprachigen Mehrheit und der italienischen Minderheit in Italiens nördlichster Provinz Bozen. Im hochmodernen Schulzentrum von Bruneck finden die jungen Südtiroler Lernmöglichkeiten vor, wie sie in ganz Italien wohl einmalig sind. Da gibt es nicht nur moderne Turnhallen und Schulräumen, sondern auch kleine Klassen und hoch motivierte Lehrer wie Helene Dorn. Die allerdings immer wieder an der Sprachbarriere scheitert, auch bei italienischen Schülern:
"Wir hatten eine Zusammenarbeit mit einer italienischen Schule, die unmittelbar in der Nachbarschaft liegt. Und dort wurden Klassen gebildet: also die Hälfte bestand aus Schülern unserer Schule. Die zweite Hälfte waren Schüler der italienischen Schule. Die wurden gemeinsam unterrichtet. Ein Teil hier, ein teil an der italienischen Schule. Und nach einem Halbjahr wurde dann gewechselt. Und es hat Probleme gegeben. Und irgendwann wurde die Frage gestellt: ‚Ja wollt ihr überhaupt Deutsch lernen?’. Und da kam die Antwort ziemlich klar und auch auf Plakat festgehalten: ‚Wir wollen das eigentlich gar nicht!’"
Eigentlich bräuchte doch jeder Südtiroler in seinem Leben mal beide Sprachen, meint die Deutschlehrerin Helene Dorner. Viele Eltern auch aus zweisprachigen Familien verzichten jedoch freiwillig auf eine zweite Muttersprache für ihre Kinder. Und gegen diese tief verwurzelte sprachliche Abneigung ist die Schule machtlos, sagt Helene Dorner.
"Das ist ein Problem, das emotional verankert ist, und das kann man bekanntlich nicht über rationale Wege lösen. Die Kultur muss geschützt werden und zwar indem man sie möglichst abschottet gegen zu frühe Einflüsse aus der Nachbarkultur. Für bestimmte Politiker. Ich glaub da sind auch Machtspiele dahinter. Da sind Interessen, die gewahrt werden müssen. Das sind alte Strukturen, da geht es auch um Parteipolitik, das ist ein heikles Thema."
Helene Dorner will nicht ins Detail gehen, das Thema Landessprache ist ein allzu heißes Eisen. Denn die vorherrschenden Parteien und das deutschsprachige Medienmonopol schüren nach wie vor die Existenzängste der Urbevölkerung. Jeder allzu starke Einfluss von außen wird als Bedrohung der eigenen Tiroler Identität empfunden. Im zusammenwachsenden Europa ist ausgerechnet das vorbildliche Modell Südtirol an seine multikulturellen Grenzen gestoßen, und auch noch gänzlich unvorbereitet auf neue Immigranten aus anderen Ländern, die das Verhältnis der Volksgruppen erneut belasten.
"Die Stimmung zwischen den Volksgruppen war schon besser, die hat sich wieder verschärft mit bestimmten wirtschaftlichen Bedingungen und unter anderem glaube ich auch mit einer Zunahme der Auswanderer aus so genannten Nicht-EU-Ländern. Da sind wieder verstärkt Ängste aufgetaucht. Es geht im Grunde auch um Arbeitsplätze. Es geht um Einkünfte, es gut um Wohnungsplätze. Es geht um das so genannte Fressen, das vor der Moral kommt."
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Bildung als Friedensaufgabe – die Schulen im Dienst der Versöhnung und der Verständigung. Das war nicht sofort das erklärte Ziel deutscher Bildungspolitik in der Nachkriegszeit. Aber es müsste nun auch zum Ziel in den Bürgerkriegsländern des ehemaligen Jugoslawien werden: Dort haben sich die unterschiedlichen Volksgruppen noch längst nicht arrangiert – die Wunden, die der Krieg geschlagen hat, sind allerorts zu spüren. Abzulesen nicht nur in der oft mangelhaften materiellen Ausstattung, sondern auch im Unterricht selbst.
In Bosnien-Herzegowina etwa wird jedes Thema vermieden, das die Spannungen zwischen den Ethnien verstärken könnte: in Fächern wie Erdkunde oder Geschichte wird eine Art Stillhaltetaktik betrieben: die Landkarten sind veraltet, die jüngere Geschichte wird komplett ausgeklammert. Die meisten Schulen sind – entsprechend ihrem Einzugsgebiet – entweder bosnisch oder kroatisch, so dass es weder einen Raum für Dialog gibt noch die Chance auf Verständigung mit den Nachbarn. Und daran wird sich in nächster Zeit wohl kaum etwas ändern: Die Bildungsausgaben belaufen sich auf weniger als 6 Prozent des Staatshaushalts. Die Schulreform 2005 beschränkte sich auf Äußerlichkeiten: 9 Jahre Schulpflicht für alle, keine Zeugnisse bis zur 3. Klasse. Nur wenige Lehrer sind nach dem Krieg zurückgekehrt – sie werden mehr oder minder alleingelassen mit der schwierigen Situation: keiner will zurück, aber niemand weiß wohin. Gerwald Herter hat einen Geschichtslehrer an einer technischen Oberschule in Sarajevo besucht.
Völkerverständigung in Bosnien
Schulgebäude, Klingel, Stimmen von Schülern, dann Blende in den Klassenraum, Lehrer klopft mit Lineal auf den Tisch.
Kemal Mahic hat sich rasch ein paar Notizen gemacht, dann schlägt er das Klassenbuch zu und klopft mit dem Lineal auf das Pult, um sich Gehör zu verschaffen: Schüler blicken nach vorn - wenigstens ein paar Minuten lang. Wenn es dann wieder zu laut wird, nimmt Mahic sein Lineal zur Hand. Fünf oder vielleicht sechs Mal wird sich das in dieser Schulstunde wiederholen.
Es geht um Nationalsozialismus, um die Hyperinflation in Deutschland Anfang der 20er Jahre und die Weltwirtschaftskrise - Faktoren, die zum Zweiten Weltkrieg führten, so erklärt es Mahic den Schülern.
Seit drei Jahrzehnten unterrichtet der 59-jährige Bosniake das Fach Geschichte, den Stoff kennt er auswendig, kein einziges Mal muss er ins Buch blicken.
Sein Auftreten verleiht ihm eine gewisse Autorität: Der Lehrer ist nicht besonders groß, er trägt einen gepflegten Oberlippenbart und hat wache Augen. An diesem Tag hat er einen Anzug an, er trägt ein frisch gebügeltes Hemd und eine Krawatte.
Wie die meisten seiner Schüler, ist Mahic Moslem. Lange lebte er in der kroatisch dominierten Herzegowina, seit fast zehn Jahren arbeitet er hier, an der Technischen Mittelschule in Sarajevo. 1889 wurde sie gegründet:
"Diese Schule wurde noch unter österreich-ungarischer Herrschaft gebaut - die älteste technische Schule auf dem Balkan!"
Der großen Tradition scheinen sich die Schülerinnen und Schüler dieser Klasse nicht sehr bewusst zu sein. Sie sind 16 oder 17 Jahre alt. Geschichte ist aus Sicht ihres Lehrers wichtig, den jungen Bosnier kommt es wohl eher auf die richtige Kleidung an: Turnschuhe sind offenbar ein Muss. Im Unterricht frischen einige Mädchen ihr Make-Up auf und kontrollieren ihre Fingernägel, ein Junge spielt mit seinem Handy.
Mahic geht durch die Reihen und stellt gezielte Fragen, manchmal gehen auch die Finger hoch, vor allem wenn der Lehrer Bezüge zur jüngeren Vergangenheit entwickelt: Von der Inflation in den 20er Jahren hat kaum einer gehört, wohl aber von der Geldentwertung Anfang der 90er Jahre in Jugoslawien, dann kam in Bosnien der Krieg und für die Lehrpläne im Fach Geschichte heißt das "Stopp":
Bis zum Krieg, so Mahic, reiche der Geschichtsunterricht, und keinen Tag weiter. Das gilt in Bosnien als fortschrittlich, weil die Geschichte des Krieges natürlich so umstritten ist. Serben, Kroaten oder Bosniaken vertreten dabei ziemlich kompromisslos ihre Sicht der Dinge. Strittig ist vor allem die Schuldfrage: wer trägt die Verantwortung für den jahrelangen Krieg, für Massaker wie in Srebrenica und Hunderttausende Tote?
"Ich bin im öffentlichen Dienst. Früher, in Jugoslawien galt Princip als ein Kämpfer für die nationale Sache. Anders hätte ich das nicht formulieren können, ohne Schwierigkeiten zu bekommen.
Jetzt bin ich freier und es herrscht auch ein anderer Zugang zu historischen Ereignissen. Aber trotzdem bezeichne ich Princip nicht als einen Terroristen, denn es geht mir um Versöhnung und das ist ein kleiner Beitrag dazu."
Dass das einfach ausgeblendet wird, damit ist Mahic nicht einverstanden. Auch andere Ereignisse sind ja umstritten: die Herrschaft der kroatischen Faschisten, das Konzentrationslager Jasenovac und das Attentat von Sarajevo im Juni 1914. Gavrilo Princip hatte den österreichisch-ungarischen Thronfolger Franz-Ferdinand in Sarajevo erschossen. Für die meisten Serben war Princip ein Freiheitskämpfer - für die meisten Bosniaken ein Terrorist. Mahic sagt, dass sei auch seine Meinung, er lasse Begriffe, wie "Terrorist" aber beiseite. Er will zur Versöhnung beitragen. In den meisten Klassen unterrichtet er neben Bosniaken nämlich auch einige Kroaten oder Serben.
Warum er Schwache zu schützen versucht und Minderheiten achtet, erklärt uns Kemal Mahic zuhause:
"Jedes Kind, egal ob Serbe, Kroate oder Roma, behandle ich wie mein eigenes Kind. Weil ich weiß, wie es ist in der Minderheit zu sein. So habe ich 50 Jahre gelebt. Sie sollen nicht auch noch vernachlässigt werden. Aus diesem Grund werde ich von einigen Kollegen manchmal schief angeschaut."
Toleranz – andere Lehrer gehen anders mit ihren Erlebnissen um: Kemal Mahic wohnte bis zum Krieg in dem vorwiegend kroatischen Dorf Ljuboshki. Im Frühjahr 1993 floh seine Frau nach Deutschland, zusammen mit dem Sohn, weil ihm der Militärdienst drohte.
Doch schon bald sollte der Vater folgen: Kemal Mahic wurde von Kroaten angegriffen, weil er sich in der moslemischen Hilfsorganisation Merhamed engagierte. Einzelheiten schildert er nicht, das Erlebnis scheint ihn bis heute zu bewegen. Anders als seine Familie ist er bisher nicht nach Ljuboshki zurückgekehrt. Dennoch sehnt er sich nach den alten, jugoslawischen Zeiten. Da herrschte Toleranz und Respekt für die andere Religion oder die andere ethnische Gruppe und auch Lehrer zu sein, das war offenbar etwas ganz anderes:
"Bis zum Krieg waren die Lehrer ganz wichtige Kräfte der Gesellschaft. Erst die Schulbildung hat Jugoslawien zu dem gemacht, was es einst war. Jugoslawien hatte seinen Status den Lehrern zu verdanken, man müsste ihnen ein Denkmal setzten. Jetzt aber herrschen andere Werte: Geld, Politik und Macht."
Ja, darüber sind sich nun alle einig: die Schule muß verbessert werden, muß effektiver werden, muß mehr Leistung bringen.
Doch ich fürchte, die Schule hat nur insofern damit zu tun, dass sie eben ein Teil der Welt ist – jener Welt, die längst zu schnell geworden ist für das Lesen. Ich fürchte, wieder einmal wird hier etwas auf die Schule geschoben, was nicht die Schule angeht, sondern uns alle – und eine Pisastudie unter Erwachsenen hätte wohl noch viel erschreckendere Ergebnisse.
Das Verhältnis zur Schule ist verlogen. Eine Welt, die nicht mehr liest, möchte lesende Schüler. Eine Welt, der Gewaltigen und in der Gewalt Tätigen möchte eine Schule, die zur Gewaltfreiheit erzieht. Die erfolgreichen Einzelkämpfer möchten eine Schule, die das Sozialverständnis fördert.
Aber in Wirklichkeit möchten wir doch nur eine Schule für Erfolgreiche, für eine erfolgreiche Wirtschaft zum Beispiel. Und diese Schule haben wir doch – und diese Wirtschaft auch. Und nicht die Schule hat die Welt schnell gemacht, sondern wir.
(Peter Bichsel: Zeit zum Lesen, aus: Doktor Schleyers isabellenfarbige Winterschule, Suhrkamp 2003)
Das waren Gesichter Europas. In unserer Reihe "Lebenswelten": Kreidezeit – Lehreralltag in Europa. Mit Reportagen aus Frankreich, Finnland, Estland, Großbritannien, Italien und Bosnien. Hans Gerd Kilbinger las den Essay "Zeit zum Lesen" von Peter Bichsel, erschienen in dem Buch "Doktor Schleyers isabellenfarbige Winterschule" im Suhrkamp Verlag. Die Musik hat Sylvia Systermans ausgewählt – und am Mikrophon verabschiedet sich im Namen des ganzen Teams Simonetta Dibbern.
"Ich liebe es, mit ganz jungen Kindern zu arbeiten. Meine Aufgabe ist es, sie so weit zu bringen, dass sie ihre Schullaufbahn unter den besten Bedingungen absolvieren können. Die Kinder in meiner Klasse haben die nötigen Voraussetzungen. Ich weiß, dass sie es alle schaffen werden!"
Und ein bosnischer Geschichtslehrer über mangelnde gesellschaftliche Anerkennung:
"Bis zum Krieg waren die Lehrer ganz wichtige Kräfte der Gesellschaft. Erst die Schulbildung hat Jugoslawien zu dem gemacht, was es einst war. Jugoslawien hatte seinen Status den Lehrern zu verdanken, man müsste ihnen ein Denkmal setzten. Jetzt aber herrschen andere Werte: Geld, Politik und Macht."
Nicht jeder Beruf ist eine Berufung. Doch jeder Beruf ist Teil der eigenen Identität – mit seinen spezifischen Werten und Prinzipien, mit seinem Lebensstil, Ansehen und gesellschaftlichem Gewicht. Er ist oft Sinn und Lebensinhalt. Er prägt das Denken, Fühlen, den gesamten Lebensrhythmus: ein ganzes Arbeitsleben lang. "Lebenswelten" – das ist der Titel unserer Sendereihe, mit der wir den Programmschwerpunkt "Werkstatt Europa" des Deutschlandfunk begleiten. Mit grenzüberschreitenden Alltagsszenen aus verschiedenen Berufen. Heute eben: Lehrer in Europa – wie sehen sie sich, wie werden sie gesehen? Und was es heißt es heute: Wissen zu vermitteln? Wo das alte humanistische Ideal – non scholae sed vitae discimus: nicht für die Schule lernen wir, sondern fürs Leben – nur noch ein Nachhall aus fernen Zeiten zu sein scheint. Und vielen dennoch pädagogisches Leitbild geblieben ist.
Vor der Veranstaltung machte mich der Schuldirektor darauf aufmerksam, dass es schwierig werden könnte mit seinen Schülern, sie brächten die Geduld für Literatur kaum mehr auf. Und dann sagte er etwas, das mich beeindruckte. "Wir Lehrer," sagte er, " sind zu langsam." Und dann erzählte er von einem Experiment, das er kürzlich mit Schülern und Lehrern zusammen gemacht habe. Sie hätten gemeinsam verschiedene Videoclips angeschaut und hinterher aufgeschrieben, was sie gesehen hätten. Die Schüler hätten das mühelos auflisten können. Die Erwachsenen aber hätten sich kaum noch erinnern können, hätten eigentlich kaum etwas gesehen, es sei ihnen alles zu schnell gewesen.
Der Schuldirektor zog daraus den Schluss, dass man diese Aufnahmekapazität der Schüler ausnützen müsste, und er machte sich seine Überlegungen dazu.
(Peter Bichsel: Zeit zum Lesen, aus: Doktor Schleyers isabellenfarbige Winterschule, Suhrkamp 2003)
Der Schweizer Schriftsteller Peter Bichsel, in den 50er Jahren selbst einmal Volksschullehrer, hat bei Lesungen seine ganz eigenen Erfahrungen gemacht mit dem Lehr- und Lernverhalten von Lehrern und Schülern. Die Kinder hören kaum zu. Und: sie lesen nicht mehr – dafür, sagt nicht nur Bichsel: braucht man vor allem eins: Zeit. Zeit zum Lesen. Und zum Lesenlernen.
Den Grundstock dafür soll schon von Kindesbeinen an in Frankreich die école maternelle legen – die Vorschule für die Kleinsten ist zum Nationalsymbol für den umfassenden Bildungsanspruch des französischen Staates geworden. Eingerichtet von der französischen Regierung, die bereits Ende des 19. Jahrhunderts beschlossen hatte, die Weichen für Bildung und Wissen sehr früh zu stellen: der Besuch der école maternelle ist zwar nicht obligatorisch, doch heute besuchen etwa 30 Prozent der Zwei- und fast alle Dreijährigen die Vorschule. Und besonders für Kinder aus Immigrantenfamilien und sozial benachteiligten Schichten erweist sich die "maternelle" mehr denn je als wirksames Instrument für Chancengleichheit und Integration. Davon ist nicht nur der französische Staat überzeugt. Sondern jeder, der hier arbeitet.
Bettina Kaps berichtet aus einem Vorort von Paris.
Frühförderung in Frankreich
Von Bettina Kaps
Julie Colmard hat sich auf einen Kinderstuhl gehockt, die langen Beine angewinkelt. Bequem ist das nicht, aber so sitzt sie in Augenhöhe mit den Kindern. Die Zwei- und Dreijährigen sind im Halbkreis um die Lehrerin geschart. Die junge Frau nimmt ein Bilderbuch. Sie liest den Text vor, dann zeigt sie das Bild herum.
"Wer spricht in der Geschichte? Wer erzählt sie? Wer hat einen grünen Frosch? Der Clown. Und wer hat einen braunen Bären? Der Clown. Es ist der Clown, der seine Geschichte erzählt."
Zwei Knirpse zappeln, ein schwarzlockiges Mädchen schubst seinen Nachbarn, ein paar Kinder schauen verträumt ins Leere, aber die meisten hören aufmerksam zu. Und das, obwohl sie schon seit drei Stunden in der Ecole Maternelle sind. Die Vorschule beginnt um 8 Uhr 30, und jetzt ist gleich Essenszeit. Julie mahnt zur Ruhe. Die dunkelbraunen Haare umrahmen ihr frisches Gesicht, Mit ihrem schlichten braunen Wollpullover, dem goldenen Anhänger aus Ägypten, Jeans und derben Lederschuhen sieht sie aus wie eine Studentin. Dabei ist die 26-Jährige seit drei Jahren berufstätig.
"Was ist das, Kinder? Ein Speiseplan. Und was ist ein Speiseplan? Richtig, das ist ein Blatt Papier. Auf dem etwas ganz Wichtiges geschrieben steht. Wenn man den Speiseplan liest, dann weiß man, was es in der Kantine zu essen gibt. Ich lese euch jetzt den Speiseplan von Freitag vor, heute ist nämlich Freitag."
Kürbissuppe, Lachs und Brokkoli geben neuen Stoff ab. Was ist ein Kürbis? Wo lebt ein Lachs? Zwei, drei Finger schnellen in die Höhe.
"Die Kleinen sind natürlich aufgeweckter als die ganz Kleinen. Die Dreijährigen sind selbstständiger, körperlich weiter und sprachlich. Die Zweijährigen hören, wie die Älteren singen und sprechen, mit einem vollständigeren Satzbau. Wenn wir die beiden Altersstufen mischen, werden die ganz Kleinen mitgezogen und machen Fortschritte, davon bin ich überzeugt."
Julie Colmard unterrichtet die Dreijährigen in einer Schule an der "Porte de Montreuil", am östlichen Stadtrand von Paris. Die Gegend ist schäbig, die Bevölkerung hier ist arm, viele Einwandererfamilien leben hier. Das Ministerium hat das Viertel zur vordringlichen Bildungszone erklärt. Deshalb ist die Klassenstärke niedriger als an anderen Schulen. Julie unterrichtet nur 22 Kinder. Außerdem – und das ist selten in Frankreich - gibt es in ihrer Schule schon eine Gruppe mit Zweijährigen. Die lädt sie regelmäßig in ihre Klasse ein.
"In den vordringlichen Bildungszonen versucht man bewusst, die Kinder früh aufzunehmen. Sie können die Vorschule dann vier Jahre lang besuchen. Für Kinder, bei denen im Elternhaus nicht oder nur schlecht Französisch gesprochen wird, ist das eine echte Hilfe."
Kurze Pause vor dem Mittagessen. Joseph, Zinedine, Anais und die übrigen ziehen ihre Mäntel an. Die Lehrerin kontrolliert, ob alle Reißverschlüsse geschlossen sind. Über den Kleiderhaken stehen die Vornamen der Kinder und auch neben der Tafel mit den Zahlen von eins bis fünf. Die Namen sind in Druckschrift geschrieben. Auf die Rückseite hat die Lehrerin das jeweilige Foto geklebt. Jeden Morgen suchen die Kinder ihr Etikett und heften es an die Wand.
"Ziel ist es, dass sie ihren Namen erkennen, ohne auf das Foto zu schauen. Sie sind erst drei Jahre alt, das heißt aber nicht, dass man mit ihnen nur ganz simple Dinge machen kann. Einige können schon sehr viel. Ich passe mich den unterschiedlichen Niveaus der Kinder an."
Wenn die Aufmerksamkeit nachlässt, dürfen die Kinder in der Puppenküche spielen. Oder im Sandkasten, der neben der Bücherecke aufgestellt ist. Eine Wand des Klassenzimmers ist mit schrägen Brettern verkleidet, darauf wird gemalt. Im Regal stapeln sich Schachteln mit Farben, Pinseln, Knetmasse und Bastelmaterialien. Alle Fächer sind mit Druckbuchstaben beschriftet.
"Die Sprache ist für mich das Allerwichtigste. Es ist bekannt, dass viele Jugendliche Schulversager sind, dass sie nicht lesen können, oder nicht verstehen, was sie lesen. Deshalb ist die Vorschule so wichtig. Wir müssen die Grundlagen legen, damit die Kinder später Erfolg haben. Das ist unsere Aufgabe als Vorschullehrer, und zwar von der ersten Klasse an."
Julie begleitet die Kinder in den Hof. Die junge Frau hat drei Jahre Englisch studiert, ein Jahr in Großbritannien gelebt, und dann, mit 23 Jahren, die Aufnahmeprüfung für den Lehrerberuf gemacht. An ihrer Akademie gab es 10.000 Bewerber für das Lehramt, aber nur 400 Plätze. Julie hat das Auswahlverfahren im ersten Anlauf bestanden. Die Ausbildung zum Grund- und Vorschullehrer dauert danach nur noch ein Jahr.
"Ich liebe es, mit ganz jungen Kindern zu arbeiten. Meine Aufgabe ist es, sie so weit zu bringen, dass sie ihre Schullaufbahn unter den besten Bedingungen absolvieren können. Die Kinder in meiner Klasse haben die nötigen Voraussetzungen. Ich weiß, dass sie es alle schaffen werden!"
Mit ihrem Diplom kann Julie Colmard jederzeit auch in der Grundschule unterrichten. Das macht ihren Beruf so abwechslungsreich. Später wird sie vielleicht mal die 10-Jährigen auf die weiterführende Schule vorbereiten. Doch heute fühlt sie sich bei den Dreijährigen genau am richtigen Platz.
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Die Ansprüche an die Lehrer sind enorm gewachsen. Die Schulen sollen heute innovativ sein und zukunftsorientiert. Das fordert die Gesellschaft, die sich in den letzten 15 Jahren rasant verändert hat, politisch, wirtschaftlich und technologisch. Das fordern die Politiker, die Bildung wieder groß schreiben und die Wissensgesellschaft proklamieren. Und das fordern nicht zuletzt die Eltern, die selbst in der Informationsflut den Überblick verloren haben und hoffen, dass zumindest ihre Kinder lernen, wo es langgeht. All dies soll die Schule stemmen – genauer: die Lehrerinnen und Lehrer sollen es tun. Dabei sind sie mit Sparzwängen gleichermaßen konfrontiert wie mit immer neuen Reformanstrengungen. Und sollen ganz nebenbei auch noch die sozialen Fehlentwicklungen korrigieren, die sie als gesellschaftliche Frühsensoren als erste erkennen und zu spüren bekommen.
Davon zeugen die Pisa-Studien, die im Ländervergleich die bildungspolitischen Defizite schonungslos aufdeckten und damit Bildungspolitik wieder ins öffentliche Bewusstsein rückten. Seither ist wieder viel von Frühförderung die Rede – und vom Schlagwort der Chancengleichheit. Die Kombination aus beidem hat Finnland mehrmals zum Testsieger gemacht: anders als in Frankreich, wo trotz des frühen Lesenlernens nur eine kleine Elite den Weg durch das begehrte Nadelöhr in die Ecole Normale Superieure findet, setzt Finnland auf Förderung für alle. Ein derart kleines Land darf keine Auslese betreiben – diese simple wie einleuchtende Devise steckt hinter der Idee, möglichst viele Schüler zum Abitur zu führen. Und damit keiner auf der Strecke bleibt, wird den Schwächeren geholfen – der Förderunterricht durch sogenannte Speziallehrer ist Teil des finnischen Schulsystems. Stefan Tschirpke war an einer Schule in Helsinki.
Frühförderung in Finnland
Von Stefan Tschirpke
Drei Schulanfänger sprechen Worte nach, rhythmisch in Silben. Taulu, Tafel. Und weil das so flott ging, das Gleiche noch einmal mit dem schwierigeren Wort ikkuna, also Fenster.
"Seuraavaksi kirjoita sana ikkuna"
Die Dirigentin des kleinen Silbensprechorchesters ist Päivi Kalliomaa. Anfang 40, zierlich, blonde schulterlange Haare, Jeanskombination aus Jacke und Hose, unkonventionell, sympathisch. Speziallehrerin an der Pakilan Ala-aste, einer Grundschule im Stadtteil Pakila in Helsinki.
Max, Pia und Antti haben Schwierigkeiten Wörter zu bilden. Weil die Erstklässler immer noch nicht richtig lesen können, sind sie zwei Stunden pro Woche bei ihrer Speziallehrerin.
"Meine erste Aufgabe ist es, Schülern, die Lernschwierigkeiten haben, zu helfen. Meine zweite Aufgabe besteht darin, den Klassenlehrer zu entlasten. Bei 25 bis 30 Schülern kann sich der Klassenlehrer um den Einzelnen kaum kümmern. Diejenigen, die besondere Aufmerksamkeit brauchen, erhalten diese vom Speziallehrer."
Förderunterricht ist nichts Besonderes an finnischen Grundschulen. In Päivis Schule sind es durchschnittlich drei Schüler pro Klasse. Mit 24 Förderstunden pro Woche sind die zwei Speziallehrer voll ausgelastet.
Entschieden wird über den Förderbedarf von der Oppilashuolto, der Schülerfürsorge. Jeden Freitag trifft man sich, ein Team aus Klassenlehrer Schulpsychologe, Krankenschwester, Kurator und Speziallehrer.
"Wichtig ist das Gespräch mit dem Klassenlehrer. Er weiss, welcher Schüler nicht mitzieht oder sich nicht konzentrieren kann. Wichtig ist auch, dass in den Klassen getestet wird. Wir wollen verhindern, dass das Kind den Anschluss verliert und ausgegrenzt wird."
Selbständiges Lernen im zweiten Teil der Unterrichtsstunde. Max und Pia schreiben Wortsilben, während Antti am Computer sitzt. Klick, klick, ein Bild mit einem hevonen, also Pferd, erscheint, darunter die Silben des Wortes, durcheinander gewürfelt. Antti fügt die Silben schnell zusammen. Kalliomaa pendelt zwischen ihren Schützlingen hin und her, gibt Hilfe, lobt kleine Fortschritte. Für Pia gibt es nach der Stunde noch ein Extralob.
"Sie liest schon so gut, dass sie bald am Förderunterricht nicht mehr teilzunehmen braucht."
Elf Uhr, Hofpause. Im Lehrerzimmer streift sich Päivi noch schnell eine grell-grüne Signalweste über. Sie ist für die Hofaufsicht eingeteilt.
"Anfangs fanden wir die Weste schrecklich. Aber sie ist recht nützlich, denn falls etwas passiert, ist der Lehrer gleich zu erkennen."
Diesmal passiert nichts. Kinder tollen auf einem Schneehügel, jagen einem Ball hinterher. Das Berufsbild des Lehrers hat sich deutlich verändert, erzählt Päivi beim Spazieren über den Hof. Früher ging es um das Unterrichten. Heute erlebt eine Grundschullehrerin wie sie immer öfter, dass den Kindern auch vermittelt werden muss, wie man mit Messer und Gabel isst und wie man sich korrekt benimmt. Die Verantwortung des Lehrers ist größer geworden, aber Päivi empfindet auch, dass die Arbeit des Lehrers allgemein anerkannt wird. Nur mit der Bezahlung ist sie unzufrieden.
"Die gesellschaftliche Wertschätzung ist nicht im Gehalt zu spüren: 2500 Euro brutto! Das ist nicht besonders viel, gemessen an der Verantwortung des Lehrers und der Länge der Ausbildung."
Letzte Unterrichtsstunde. Sechs Schüler der fünften Klasse. Übungen in Bruchrechnung. Die Atmosphäre ist aufmerksam, aber locker, auch deshalb, weil sich Lehrerin und Schüler – wie in Finnland fast immer üblich - duzen. An der Tafel gelbe Magnetscheiben, die eine runde Pizza darstellen. Wie nennt man die Ziffer über dem Bruchstrich, fragt Päivi. Und welche Zahl steht im Zähler, wenn ich ein Pizzastück wegnehme? Fragende Blicke, unruhiges Herumrutschen. Die Spannung wächst. Bis endlich ein Mädchen die richtige Lösung nennt. So ganz zufrieden ist Päivi mit dem Verlauf dieser Stunde trotzdem nicht, vor allem weil sie sich nicht jedem Schüler ausreichend widmen konnte.
"Wenn im Förderunterricht Mathe behandelt wird, sind sechs Schüler bereits zu viel. Fünf sind das Maximum."
Früher Nachmittag. Kalliomaa eilt mit Notenblättern über den Flur. Die Lehrerband probt noch für das Schulfest, am Klavier Päivi Kalliomaa. An der Tür zum Musikraum wird sie von einer Schülerin abgefangen. Die Kleine möchte wissen, wann sie wieder in den Förderunterricht kommen kann.
"Wir haben viel dafür getan, dass die Kinder gern in den Förderunterricht kommen und um bei den Eltern falsche Vorstellungen abzubauen. Es gibt viele Wege des Lernens. Förderunterricht ist weder Nachhilfe noch Nachsitzen, sondern eine Form des Unterrichts an der Grundschule."
Der Schuldirektor hatte erst einmal recht. Die Aufmerksamkeit bei der Lesung war zum mindesten geteilt. Hinterher kam die Diskussion. Und er hatte noch einmal recht: die Fragen kamen schnell und frech und unzensuriert. Die Schüler versuchten, mich auf Trab zu bringen, aus dem Gleichgewicht zu bringen, vom Seil stürzen zu lassen. Mir blieb als Mittel dagegen nur die Langsamkeit.
Ich beantwortete die Fragen zögernd. Oft hatte ich mit der Beantwortung der einen Frage noch nicht begonnen, als schon die nächste kam – und plötzlich hatte ich ein aufmerksames Publikum. Die Fragen wurden länger, die Schüler begannen zu erzählen. Die Veranstaltung dauerte eine Stunde länger als geplant.
Da fiel mir plötzlich ein Satz ein, der neulich in einer Fernsehsendung fiel: "Vielleicht werden die heutigen Jungen das gehetzte Leben wieder langsamer machen". Das erinnerte mich an jenen Schuldirektor. Darauf ist er in seinen Überlegungen nicht gekommen: dass nämlich nicht etwa die Jungen das Leben schnell gemacht haben, sondern die Alten. Die Jungen können es nur besser und sind noch schneller. Und die Lehrer wollen schnell werden und rasen ihnen hinterher.
(Peter Bichsel: Zeit zum Lesen, aus: Doktor Schleyers isabellenfarbige Winterschule, Suhrkamp 2003)
Bildung ist in Europa Ländersache – es gibt keinen gemeinsamen europäischen Lehrplan oder Bildungskatalog. Geht es um Schulen und Universitäten, hat die Europäische Union kein direktes Wort mitzureden. Deutschland treibt dieses Prinzip der Kompetenzverteilung auf die Spitze: jedes Bundesland setzt Lerninhalte und Bildungsstandards selber fest.
Dabei gibt es durchaus gemeinsame europäische Wurzeln - ganz gleich, ob ecole, schola oder school: in fast allen europäischen Sprachen geht das Wort für Schule auf das Griechische zurück: scholé. Was so viel bedeutet wie Lehranstalt. Aber auch: Ort der Muße. Und: Muße an sich im Gegensatz zur körperlichen Tätigkeit. Platons Erziehungsideal ist bis heute einer der Grundsteine für Bildung, nicht nur in Europa.
Doch im Schulalltag ist von diesem gemeinsamen Erbe des Humanismus und der Aufklärung wenig zu spüren: Zwar gibt es in allen europäischen Ländern längst eine Schul- oder zumindest eine Bildungspflicht für Kinder zwischen 6 und 16 – die Lerninhalte klaffen jedoch weit auseinander. Überall unterschiedliche Ansprüche, Traditionen, Wertigkeiten. Überall hat die Geschichte der Nationen ihre Spuren hinterlassen. In Westeuropa gleichermaßen wie in Osteuropa. Zum Beispiel auch in Estland.
Nach dem Zusammenbruch des Sowjetreiches und der Unabhängigkeit musste das Land an der nördlichen Ostsee auch sein Schulsystem neu erfinden. Und tat es – nicht nebenbei, sondern mit höchster Priorität. "Erziehung ist eine Investition in die Zukunft" war das Schlagwort Anfang der 90er Jahre. Der baltische Tiger erwies sich auch auf bildungspolitischer Ebene als sprunggewaltig: Lernen sollten alle Esten, junge wie alte. Wie kaum ein anderes Land hat Estland von Anfang an auf Computertechnologie gesetzt. Im Alltag. Und auf Fremdsprachen - in den Schulen. Und manche der jungen erfolgreichen Bankiers investieren Unsummen in das Bildungswesen, etwa in die privat finanzierte Musterschule Rocca al Mare, die möglichst vielen estnischen Schülern die Chance eröffnen soll, zur europäischen Elite aufzusteigen. Alexander Budde hat eine Lehrerin in ihrer "kool" begleitet.
Neue Bildungseliten in Estland
Von Alexander Budde
An diesem Wintermorgen ist Janika Kärk in aller Frühe aus den Federn gesprungen. Ein hastiges Frühstück, dann werden die Töchter Mirjam und Merili, drei und sieben Jahre alt, warm eingepackt.
Janika und ihr Mann Viljar liefern die Kleine im Kindergarten, die große Tochter in der Schule ab. Viljar verabschiedet sich hastig von seiner Frau: Er arbeitet beim Grenzschutz. Auch Janika muss sich sputen: Sie fährt mit dem Auto weiter ins Stadtviertel Rocca al Mare im Nordwesten Tallins, wo sie als Deutschlehrerin an der gleichnamigen Privatschule unterrichtet.
Die zierliche Estin Anfang 30 bahnt sich ihren Weg ins Lehrerzimmer.
Durch breite Panoramafenster schweift der Blick über die Bucht und die dunklen Wasser der Ostsee. Skandinavisches Design prägt die hellen, freundlichen Räumlichkeiten. Auch in den Klassenräumen stehen überall Computer mit modernen Flachbildschirmen. Die so genannte "E-Schule" ist ein virtuelles Klassenbuch für Schüler, Eltern und Lehrer. Per Mausklick lassen sich nicht nur Studieninhalte und Hausaufgaben, sondern auch Noten und Fehlstunden ablesen. So kann Janika auch die eigenen Sprösslinge jederzeit im Blick behalten:
"Das ist mein Kind, meine Tochter Merili. Sie ist jetzt in der ersten Klasse, das ist Estnisch. Und hier kann ich alles sehen: Was die in der Stunde gemacht haben. Und hier die Hausaufgabe. Steht alles drin – und die Noten natürlich auch. Wenn jemand gefehlt hat, kann er jederzeit nachschauen. Oder wenn man krank ist eine Woche lang, kann man zuhause alles nachmachen."
Die Esten sind stolz auf ihre technischen Innovationen: Im Lande gibt es mehr Handys als Einwohner. Bankgeschäfte und Steuererklärungen werden über das Internet abgewickelt. Selbst bei den bevorstehenden Parlamentswahlen Anfang März können die Bürger im Netz abstimmen.
9 Uhr 15: Im Deutschkurs der Klasse Zehn übt sich der estnische Nachwuchs im richtigen Gebrauch des Konjunktivs. Auf die Vermittlung von Fremdsprachen wird in der kleinen Baltenrepublik mit ihren gerade einmal 1,3 Millionen Bewohnern größte Sorgfalt gelegt. Karl-Heinz hofft auf einen Studienplatz im Land seiner Vorfahren:
"Wir können verschieden Sprache lernen: Spanisch, Schwedisch, Französisch. Ich glaube, dass Russisch mehr populär als Deutsch ist, aber es interessiert mich und meine Urgroßmutter war auch aus Deutschland. Wenn ich klein war, konnte ich es ziemlich gut sprechen."
Wie alle Staaten Osteuropas machte auch Estland nach der Unabhängigkeit einen brutalen Wandel durch: Die Regierung setzte nach der Abnabelung von Russland auf streng marktliberale Prinzipien. Arbeitslosigkeit und Zukunftsangst machten sich breit, die Emigration nahm erschreckende Ausmaße an. Gewinner des Wandels war die junge, urbane Elite, die im Finanzsektor, als Unternehmer oder in der Telekom-Branche gutes Geld verdient. Janika, die selbst noch in der Sowjetzeit die Schulbank drückte, bewundert den Tatendrang der jungen Esten:
"Mir gefällt der Ideenreichtum. Mir gefällt der Mut, auch was ganz anderes zu machen. Das ist natürlich damit verbunden, dass man vor 15 Jahren, als Estland frei wurde, einfach niemanden hatte, der soviel Mut gehabt hätte. Und dadurch ist es auch gekommen, dass wir Leute auf den ganz hohen Posten hatten, die 23 oder 25 Jahre alt waren. Die sind jetzt 30 und bekommen Herzinfarkte, weil sie soviel gearbeitet haben."
Aus dem sagenhaften Vermögen junger Bankiers speist sich auch das Gründungskapitel der privaten Rocca al Mare-Schule. Ein Stipendium ermöglicht auch solchen Kindern eine Ausbildung, deren Familien sich das teure Schulgeld nicht leisten können. Lange Jahre waren geringe Steuern und der schlanke Staat das Leitbild. So wurden Kinder zum Armutsrisiko. Das kleine Volk wird immer kleiner.
Unterdessen wurden schon die ersten Schulen geschlossen und auch in Rocca al Mare leiden sie unter dramatisch sinkenden Schülerzahlen aus den geburtenschwachen Jahrgängen. Um ihren Arbeitsplatz muss Janika dennoch nicht fürchten. Im Gegenteil: kompetente Lehrer werden in Estland händeringend gesucht:
"Der Beruf von Lehrern ist nicht besonders hoch angesehen. Er ist auch schlecht bezahlt. Junge Leute kommen nicht in die Schule, sondern machen, was finanziell viel mehr einbringt, gehen in die Wirtschaft. Und natürlich ist der Beruf nicht der einfachste."
Mit ihrem Gehalt von rund 600 Euro monatlich verdient Janika Kärk in etwa doppelt soviel wie ihre Kollegen an den staatlichen Schulen. Dennoch kommt die Familie mit beiden Gehältern gerade so über die Runden. Die Zwei-Zimmer-Wohnung im Plattenbau ist eigentlich viel zu klein, doch etwas Größeres können sich Janika und Viljar bei steigenden Mieten und Heizkosten nicht leisten. So sitzt Janika spätabends noch am Küchentisch. Wenn die Kinder schlafen schreibt sie mit eisernem Willen an ihrer Doktorarbeit über deutsche Modalverben:
"Ich hatte so das Gefühl, mir wird langweilig. Oder meinem Kopf wird langweilig. Es ist zwar sehr viel Arbeit in der Schule, aber ich möchte viel mehr denken, sage ich mal so. Ich will noch soviel tun in meinem Leben, habe so viel Ideen, dass ich vielleicht ein Bruchteil von den Ideen verwirklichen kann, die in meinem Kopf jetzt da sind."
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Überall ist der Druck auf die Lehrer gewachsen, überall sind die Erwartungen und die Ansprüche gestiegen. Nur an den Negativ-Klischees hat sich nicht viel geändert – ein Lehrer hat den halben Tag recht und die andere Hälfte frei. Sätze wie diese sind zwar weit verbreitet, sprechen aber der gesellschaftlichen Bedeutung dieses Berufsstandes Hohn: und sie sind dem Selbstbewusstsein der Lehrer nicht gerade förderlich. Viele sehen sich als Opfer eines umfassenden Bildungsnotstandes – die Schule ist längst zu einem Spiegelbild der gesellschaftlichen Polarisierung im Zeichen des wachsenden Wohlstandsgefälles geworden: Hektische, halbgare Bildungsreformen, zu wenig Geld, schlechte Ausstattung, zu große Klassen, zu viele Spannungen und Problemgruppen – kein Wunder, dass viele Lehrer angesichts dieser Defizite in den staatlichen Bildungseinrichtungen resignieren. Und immer mehr Eltern, die es sich leisten können, ihre Kinder lieber Privatschulen schicken.
In Großbritannien haben die Public Schools – die privaten Colleges also, eine lange Tradition für die Bildung der Oberschicht. Die Nachfrage wächst – denn alle Versuche der Regierung, die staatlichen Schulen zu reformieren und das öffentliche Bildungssystem wieder aufzuwerten, sind gescheitert. So hat die Öffentlichkeit das Vertrauen in das staatliche Schulsystem verloren – und die privaten Institute boomen. Längst können auch die teuersten Internate nicht mehr jeden Bewerber aufnehmen. Eigentlich paradox: an den exklusiven Colleges verdienen die Lehrer deutlich weniger als an staatlichen Schulen. Trotzdem geht - wer es sich leisten kann – an eine sogenannte Public school.
Alte Bildungseliten in Großbritannien
Von Ruth Rach
Mit einem Seufzer der Erlösung manövriert Ken Kimber seinen weißen Skoda durch ein enges Steinportal, weg von der verstopften Landstraße, vom allmorgendlichen Verkehrschaos. Lauschige Gärten, diskrete Villen, ein stiller Golfplatz. Im Landschaftspark ehrwürdige Zedern, und auf lieblicher Anhöhe ein Landschloss aus dem 18. Jahrhundert, mit weißem Säulenportal: Claremont Fan Court, eine Privatschule in der südenglischen Grafschaft Surrey.
"Bei diesem Anblick geht mir jeden Tag die Seele auf."
Ken Kimber, Anfang 50, blaue Augen, blauer Pulli, dunkelblaue Hose, Stachelhaarschnitt, Krawatte. Ken Kimber unterricht Englisch und Drama. Seit 7 Jahren. Davor war er an einer staatlichen Gemeinschaftsschule. Claremont Fan Court hat 650 Schüler und Schülerinnen zwischen 6 und 18 Jahren. Sie kommen mit dem Schulbus – oder werden von den Eltern hergefahren. Es ist 8 Uhr 25.
Ken Kimbers Büro: Stapelweise Bücher und Videos, König Lear, Charlie Chaplin, Pygmaelion. Eine Kaffeemaschine. Ein Staubsauger, ein Bügelbrett. Exotische Masken, Musikinstrumente. Ken Kimber hat ein neues Theaterstück laufen. Die Bühne ist gleich nebenan.
Ken Kimber loggt sich in den PC ein. Jeder Schüler hat einen Laptop. Wer fehlt, entschuldigt sich virtuell. Normalerweise wäre jetzt Lehrer- und Schülerversammlung. Aber letzte Woche war Inspektion. Die Schule schnitt gut ab. Jetzt erholt man sich erst einmal von der Aufregung. Ken Kimber sortiert die Theaterkasse, organisiert Kulissen für die Abendvorführung.. Ein langer Tag.
Neun Uhr. Ken Kimber besucht seine Tutorengruppe – 6 Studenten, die er persönlich betreut. Die Abiturienten haben ihr eigenes Häuschen - komplett mit Küche: das weiße cottage aus dem 18. Jahrhundert,. Heute besprechen sie ihre Präsentation für die Schulversammlung. Thema: labels – zum Beispiel Prolos, Snobs, Streber. "In manchen Gegenden würden wir zusammengeschlagen, wenn wir uns in unserer Schuluniform zeigen würden", sagt ein Mädchen. Sie diskutieren. Vorurteile, Klassenunterschiede, Klischees
Ein ziemlich gemischtes Grüppchen : sie wollen Business studieren, aber auch Medien, Mathematik, Kunst. Die Eltern sind Geschäftsleute, Sportler, Künstler. Manche wohnen gleich um die Ecke, andere weiter weg.
In der Marmorhalle wartet Tiffany, eine Praktikantin. Sie hat letzte Woche in einer Staatschule gearbeitet. Kurzführung durch den Drawing Room. Grüne Seidentapete, Mamorkamin, alte Stiche. Hier entstand ein Portrait der französischen Königsfamilie im Exil. Als kleines Mädchen verbrachte Königin Victoria ihre Ferien in Claremont. Die Schule wurde erst in den 1930er Jahren gegründet.
Die nächste Klasse. Blaue Faltenröcke. Weiße Söckchen. Blazer mit Schulwappen. Dunkle Anzüge. Schulkrawatten. Polierte Lederschuhe. 17 Schüler und Schülerinnen im Alter von 14. Stimmübungen, Gedichte, Kurzdialoge, Ken Kimber ist superhöflich. Sie gehorchen aufs Wort. Machen begeistert mit.
Was ist falsch daran, wenn sie Spaß in der Schule haben. Vor allem wenn sie gleichzeitig lernen viel selbstbewusster aufzutreten, kreativ zu sein, im Team zu arbeiten, und besser zu kommunizieren. All das ist in der modernen Welt lebenswichtig.
Auch staatliche Schulen unterrichten Drama. "Aber die Klassen sind viel größer, der Lehrer muss sich 15 Mal wiederholen, bis er überhaupt gehört wird", sagt Tiffany während der Kaffeepause. Ken Kimber nickt:
"Meine schlimmste Erfahrung war in einer Inner City Schule: der Drama-Unterricht fand in einer verdunkelten Halle statt. Die Klasse kam rein, rannte weg und versteckte sich."
Die nächste Mini-Klasse ist verschollen. Ken Kimber hat Verständnis: alle drei spielen Hauptrollen im Schultheater. Schließlich kommt Michael, ein eleganter junger Mann. Vor kurzem hätte er in einem Spielfilm fast die Hauptrolle bekommen.
Ein Stück von Pinter. Konzentrierte Textanalyse. 30 Minuten Einzelunterricht auf hohem Niveau. In Privatschulen sind die Semester kürzer – gleichzeitig werde mehr Lehrstoff vermittelt, und mehr geleistet, sagt Ken Kimber.
Zum MIttagessen treffen sich Schüler und Lehrer in der Cafeteria. Es gibt Salate, vegetarische Burger, Chili con Carne.
"Als ich hier in Claremont anfing, dachte ich jeden Morgen, ich bin im Himmel gelandet."
Dennoch sei Claremont keine Eliteschule.
"Die Unterschiede? Erst einmal die Gebühren. Wir verlangen 12.000 Pfund im Jahr - Eton, Harrow oder Winchester wollen mindestens 20.000. Außerdem sind wir nicht so selektiv. Wir haben durchaus auch Kinder, die mehr Hilfe benötigen. Eliteschulen stehen zunehmend unter Druck, sich zu öffnen. Wer die akademischen Voraussetzungen mitbringt – und die dazugehörigen Finanzen, hat gute Aussichten. Aber nur eines davon– Intellekt oder Geld, garantiert dir inzwischen keinen Platz mehr."
Ken und Tiffany klagen: Lehrer wurden von der britischen Gesellschaft seit jeher verachtet. Lediglich Journalisten, Makler und Politiker hätten einen noch schlechteren Ruf.
Die Nachmittagsklasse, zehn aufmerksame 12-jährige, die ein Stück für Ihr Examen einproben. Wieder das Thema : Klassenunterschiede. Die verschiedenen Register. Verhaltensweisen. Dann eine Pause – bis zum Abend.
Um halb acht geht der Vorhang auf. Ken Kimber ist wieder im Einsatz, aber diesmal hinter den Kulissen.
Es war einmal vor langer, langer Zeit ein Briefkastenonkel im Radio. Dem schrieb man, wenn es Unstimmigkeiten gab über die Höhe eines Berges oder die Tiefe eines Sees, ein Briefchen und wartete dann wochenlang, bis im Radio die Antwort kam. "Liebe Nichten und Neffen", begann dann der Briefkastenonkel, und er gab nicht nur eine Antwort, sondern erzählte vorerst über Berge und Seen, über die Probleme der Vermessung, über die Weltmeere, über Längen- und Breitengrade. Er hatte Zeit. Und sollte der Streit am Stammtisch über die Tiefe des tiefsten Binnensees ein heftiger gewesen sein, der Briefkastenonkel schlichtete ihn gemütlich.
Niemand wünscht ihn sich zurück. Er wäre nicht mehr auszuhalten, und auf Information wartet niemand mehr wochenlang. Die ruft man heute ab, und niemand mehr möchte sie erzählt haben. Da gibt es kein zurück, die Langsamkeit ist verloren.
Die Langsamkeit des Briefeschreibens, die Langsamkeit des Briefelesens, die Langsamkeit der Zeitung, mit der man gemütlich neben dem Kaffee den Tag begann.
Die Welt rast, und wer nicht mitrast, ist verloren. Und so rasen wir halt – die Jungen etwas schneller und die Alten hinterher.
Und mitten in die Raserei hinein platzt kurz die Pisastudie, die feststellt, dass es schlecht steht um die Lesefähigkeit der Jungen. Und selbstverständlich kann das nur die Schule sein, die versagt hat.
Der Schuldirektor wird sich wohl wieder Gedanken machen müssen. Und er wird wohl wieder feststellen, dass die Schule zu langsam ist.
(Peter Bichsel: Zeit zum Lesen, aus: Doktor Schleyers isabellenfarbige Winterschule, Suhrkamp 2003)
Wenn von der Bildungsmisere in Europa die Rede ist, darf der Blick in Richtung Süden nicht fehlen: Italien hat schlecht, sehr schlecht abgeschnitten bei den Pisastudien – auch dort ist die Debatte nun von hektischen Reformbemühungen geprägt. Doch die düstere Bilanz gilt nicht fürs ganze Land: Beim Binnenvergleich 2003 belegten die Regionen Trentino und Südtirol sogar Plätze an der Weltspitze. Ein Prädikat, mit dem besonders die dreisprachige Region in den Dolomiten für sich wirbt. Ist die Auszeichnung doch die offizielle Bestätigung für eine konsequente Schulreform und für den Erfolg des Autonomiestatuts, das auch und gerade den deutschsprachigen Schulen zugute kommt.
Der Traum der dreifachen Muttersprachler in Südtirol allerdings hat sich nicht erfüllt – die Unterrichtssprache ist, bis auf wenige Ausnahmen, entweder deutsch. Oder italienisch. Doch nicht nur die Lehrer, auch die Schüler haben ein Wörtchen mitzureden, und sie tun es – jedenfalls in Bruneck. Von dort berichtet Karl Hoffmann:
Völkerverständigung in Südtirol
Helene Dorner kommt an der neuen Sporthalle vorbei, dem Kernstück des neuen Schulzentrums von Bruneck, in der die Arbeiter noch fleißig am Werk sind. 11 Millionen Euro kostet sie, wenn sie im Herbst fertig wird, dann werden Helenes Kollegen 400 Wochenstunden Sport für die Schüler aus dem gesamten Pusztertal dort unterrichten können, aber auch für Konzerte und Theaterveranstaltungen ist die neue Halle geeignet.
Helene Dorner eilt die Treppe zu den Schulräumen im daneben liegenden Realgymnasium hinauf. Am Dienstagnachmittag treffen sich alle 40 Lehrer zu ihrer wöchentlichen Besprechung. Da geht es um Lehr- und Stundenpläne, um Fortbildung und immer wieder um das leidige Problem Südtirols: die Zweisprachigkeit.
"Rein rechtlich ist alles klar abgesichert. Die Kinder bekommen von der 2. Klasse Volksschule weg Unterricht in der so genannten "Zweiten Landessprache", also die deutschen Kinder in Italienisch und die italienischen Kinder in Deutsch. Das ist alles garantiert und schriftlich festgehalten, Nur die Realität sieht dann einfach anders aus, weil es da emotionale Widerstände gibt gegen das Erlernen der zweiten Sprache.
Plus Eltern, die dann sagen: ‚Es ist nicht so wichtig dass du in Italienisch gut bist an der Schule, ich schick dich ein Jahr nach Amerika, das ist egal, aber Italienisch brauchst du nicht."
Nach langen Auseinandersetzungen, gegenseitigen Verletzungen und endlosen Verhandlungen seit dem zweiten Weltkrieg herrscht Frieden zwischen der deutschsprachigen Mehrheit und der italienischen Minderheit in Italiens nördlichster Provinz Bozen. Im hochmodernen Schulzentrum von Bruneck finden die jungen Südtiroler Lernmöglichkeiten vor, wie sie in ganz Italien wohl einmalig sind. Da gibt es nicht nur moderne Turnhallen und Schulräumen, sondern auch kleine Klassen und hoch motivierte Lehrer wie Helene Dorn. Die allerdings immer wieder an der Sprachbarriere scheitert, auch bei italienischen Schülern:
"Wir hatten eine Zusammenarbeit mit einer italienischen Schule, die unmittelbar in der Nachbarschaft liegt. Und dort wurden Klassen gebildet: also die Hälfte bestand aus Schülern unserer Schule. Die zweite Hälfte waren Schüler der italienischen Schule. Die wurden gemeinsam unterrichtet. Ein Teil hier, ein teil an der italienischen Schule. Und nach einem Halbjahr wurde dann gewechselt. Und es hat Probleme gegeben. Und irgendwann wurde die Frage gestellt: ‚Ja wollt ihr überhaupt Deutsch lernen?’. Und da kam die Antwort ziemlich klar und auch auf Plakat festgehalten: ‚Wir wollen das eigentlich gar nicht!’"
Eigentlich bräuchte doch jeder Südtiroler in seinem Leben mal beide Sprachen, meint die Deutschlehrerin Helene Dorner. Viele Eltern auch aus zweisprachigen Familien verzichten jedoch freiwillig auf eine zweite Muttersprache für ihre Kinder. Und gegen diese tief verwurzelte sprachliche Abneigung ist die Schule machtlos, sagt Helene Dorner.
"Das ist ein Problem, das emotional verankert ist, und das kann man bekanntlich nicht über rationale Wege lösen. Die Kultur muss geschützt werden und zwar indem man sie möglichst abschottet gegen zu frühe Einflüsse aus der Nachbarkultur. Für bestimmte Politiker. Ich glaub da sind auch Machtspiele dahinter. Da sind Interessen, die gewahrt werden müssen. Das sind alte Strukturen, da geht es auch um Parteipolitik, das ist ein heikles Thema."
Helene Dorner will nicht ins Detail gehen, das Thema Landessprache ist ein allzu heißes Eisen. Denn die vorherrschenden Parteien und das deutschsprachige Medienmonopol schüren nach wie vor die Existenzängste der Urbevölkerung. Jeder allzu starke Einfluss von außen wird als Bedrohung der eigenen Tiroler Identität empfunden. Im zusammenwachsenden Europa ist ausgerechnet das vorbildliche Modell Südtirol an seine multikulturellen Grenzen gestoßen, und auch noch gänzlich unvorbereitet auf neue Immigranten aus anderen Ländern, die das Verhältnis der Volksgruppen erneut belasten.
"Die Stimmung zwischen den Volksgruppen war schon besser, die hat sich wieder verschärft mit bestimmten wirtschaftlichen Bedingungen und unter anderem glaube ich auch mit einer Zunahme der Auswanderer aus so genannten Nicht-EU-Ländern. Da sind wieder verstärkt Ängste aufgetaucht. Es geht im Grunde auch um Arbeitsplätze. Es geht um Einkünfte, es gut um Wohnungsplätze. Es geht um das so genannte Fressen, das vor der Moral kommt."
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Bildung als Friedensaufgabe – die Schulen im Dienst der Versöhnung und der Verständigung. Das war nicht sofort das erklärte Ziel deutscher Bildungspolitik in der Nachkriegszeit. Aber es müsste nun auch zum Ziel in den Bürgerkriegsländern des ehemaligen Jugoslawien werden: Dort haben sich die unterschiedlichen Volksgruppen noch längst nicht arrangiert – die Wunden, die der Krieg geschlagen hat, sind allerorts zu spüren. Abzulesen nicht nur in der oft mangelhaften materiellen Ausstattung, sondern auch im Unterricht selbst.
In Bosnien-Herzegowina etwa wird jedes Thema vermieden, das die Spannungen zwischen den Ethnien verstärken könnte: in Fächern wie Erdkunde oder Geschichte wird eine Art Stillhaltetaktik betrieben: die Landkarten sind veraltet, die jüngere Geschichte wird komplett ausgeklammert. Die meisten Schulen sind – entsprechend ihrem Einzugsgebiet – entweder bosnisch oder kroatisch, so dass es weder einen Raum für Dialog gibt noch die Chance auf Verständigung mit den Nachbarn. Und daran wird sich in nächster Zeit wohl kaum etwas ändern: Die Bildungsausgaben belaufen sich auf weniger als 6 Prozent des Staatshaushalts. Die Schulreform 2005 beschränkte sich auf Äußerlichkeiten: 9 Jahre Schulpflicht für alle, keine Zeugnisse bis zur 3. Klasse. Nur wenige Lehrer sind nach dem Krieg zurückgekehrt – sie werden mehr oder minder alleingelassen mit der schwierigen Situation: keiner will zurück, aber niemand weiß wohin. Gerwald Herter hat einen Geschichtslehrer an einer technischen Oberschule in Sarajevo besucht.
Völkerverständigung in Bosnien
Schulgebäude, Klingel, Stimmen von Schülern, dann Blende in den Klassenraum, Lehrer klopft mit Lineal auf den Tisch.
Kemal Mahic hat sich rasch ein paar Notizen gemacht, dann schlägt er das Klassenbuch zu und klopft mit dem Lineal auf das Pult, um sich Gehör zu verschaffen: Schüler blicken nach vorn - wenigstens ein paar Minuten lang. Wenn es dann wieder zu laut wird, nimmt Mahic sein Lineal zur Hand. Fünf oder vielleicht sechs Mal wird sich das in dieser Schulstunde wiederholen.
Es geht um Nationalsozialismus, um die Hyperinflation in Deutschland Anfang der 20er Jahre und die Weltwirtschaftskrise - Faktoren, die zum Zweiten Weltkrieg führten, so erklärt es Mahic den Schülern.
Seit drei Jahrzehnten unterrichtet der 59-jährige Bosniake das Fach Geschichte, den Stoff kennt er auswendig, kein einziges Mal muss er ins Buch blicken.
Sein Auftreten verleiht ihm eine gewisse Autorität: Der Lehrer ist nicht besonders groß, er trägt einen gepflegten Oberlippenbart und hat wache Augen. An diesem Tag hat er einen Anzug an, er trägt ein frisch gebügeltes Hemd und eine Krawatte.
Wie die meisten seiner Schüler, ist Mahic Moslem. Lange lebte er in der kroatisch dominierten Herzegowina, seit fast zehn Jahren arbeitet er hier, an der Technischen Mittelschule in Sarajevo. 1889 wurde sie gegründet:
"Diese Schule wurde noch unter österreich-ungarischer Herrschaft gebaut - die älteste technische Schule auf dem Balkan!"
Der großen Tradition scheinen sich die Schülerinnen und Schüler dieser Klasse nicht sehr bewusst zu sein. Sie sind 16 oder 17 Jahre alt. Geschichte ist aus Sicht ihres Lehrers wichtig, den jungen Bosnier kommt es wohl eher auf die richtige Kleidung an: Turnschuhe sind offenbar ein Muss. Im Unterricht frischen einige Mädchen ihr Make-Up auf und kontrollieren ihre Fingernägel, ein Junge spielt mit seinem Handy.
Mahic geht durch die Reihen und stellt gezielte Fragen, manchmal gehen auch die Finger hoch, vor allem wenn der Lehrer Bezüge zur jüngeren Vergangenheit entwickelt: Von der Inflation in den 20er Jahren hat kaum einer gehört, wohl aber von der Geldentwertung Anfang der 90er Jahre in Jugoslawien, dann kam in Bosnien der Krieg und für die Lehrpläne im Fach Geschichte heißt das "Stopp":
Bis zum Krieg, so Mahic, reiche der Geschichtsunterricht, und keinen Tag weiter. Das gilt in Bosnien als fortschrittlich, weil die Geschichte des Krieges natürlich so umstritten ist. Serben, Kroaten oder Bosniaken vertreten dabei ziemlich kompromisslos ihre Sicht der Dinge. Strittig ist vor allem die Schuldfrage: wer trägt die Verantwortung für den jahrelangen Krieg, für Massaker wie in Srebrenica und Hunderttausende Tote?
"Ich bin im öffentlichen Dienst. Früher, in Jugoslawien galt Princip als ein Kämpfer für die nationale Sache. Anders hätte ich das nicht formulieren können, ohne Schwierigkeiten zu bekommen.
Jetzt bin ich freier und es herrscht auch ein anderer Zugang zu historischen Ereignissen. Aber trotzdem bezeichne ich Princip nicht als einen Terroristen, denn es geht mir um Versöhnung und das ist ein kleiner Beitrag dazu."
Dass das einfach ausgeblendet wird, damit ist Mahic nicht einverstanden. Auch andere Ereignisse sind ja umstritten: die Herrschaft der kroatischen Faschisten, das Konzentrationslager Jasenovac und das Attentat von Sarajevo im Juni 1914. Gavrilo Princip hatte den österreichisch-ungarischen Thronfolger Franz-Ferdinand in Sarajevo erschossen. Für die meisten Serben war Princip ein Freiheitskämpfer - für die meisten Bosniaken ein Terrorist. Mahic sagt, dass sei auch seine Meinung, er lasse Begriffe, wie "Terrorist" aber beiseite. Er will zur Versöhnung beitragen. In den meisten Klassen unterrichtet er neben Bosniaken nämlich auch einige Kroaten oder Serben.
Warum er Schwache zu schützen versucht und Minderheiten achtet, erklärt uns Kemal Mahic zuhause:
"Jedes Kind, egal ob Serbe, Kroate oder Roma, behandle ich wie mein eigenes Kind. Weil ich weiß, wie es ist in der Minderheit zu sein. So habe ich 50 Jahre gelebt. Sie sollen nicht auch noch vernachlässigt werden. Aus diesem Grund werde ich von einigen Kollegen manchmal schief angeschaut."
Toleranz – andere Lehrer gehen anders mit ihren Erlebnissen um: Kemal Mahic wohnte bis zum Krieg in dem vorwiegend kroatischen Dorf Ljuboshki. Im Frühjahr 1993 floh seine Frau nach Deutschland, zusammen mit dem Sohn, weil ihm der Militärdienst drohte.
Doch schon bald sollte der Vater folgen: Kemal Mahic wurde von Kroaten angegriffen, weil er sich in der moslemischen Hilfsorganisation Merhamed engagierte. Einzelheiten schildert er nicht, das Erlebnis scheint ihn bis heute zu bewegen. Anders als seine Familie ist er bisher nicht nach Ljuboshki zurückgekehrt. Dennoch sehnt er sich nach den alten, jugoslawischen Zeiten. Da herrschte Toleranz und Respekt für die andere Religion oder die andere ethnische Gruppe und auch Lehrer zu sein, das war offenbar etwas ganz anderes:
"Bis zum Krieg waren die Lehrer ganz wichtige Kräfte der Gesellschaft. Erst die Schulbildung hat Jugoslawien zu dem gemacht, was es einst war. Jugoslawien hatte seinen Status den Lehrern zu verdanken, man müsste ihnen ein Denkmal setzten. Jetzt aber herrschen andere Werte: Geld, Politik und Macht."
Ja, darüber sind sich nun alle einig: die Schule muß verbessert werden, muß effektiver werden, muß mehr Leistung bringen.
Doch ich fürchte, die Schule hat nur insofern damit zu tun, dass sie eben ein Teil der Welt ist – jener Welt, die längst zu schnell geworden ist für das Lesen. Ich fürchte, wieder einmal wird hier etwas auf die Schule geschoben, was nicht die Schule angeht, sondern uns alle – und eine Pisastudie unter Erwachsenen hätte wohl noch viel erschreckendere Ergebnisse.
Das Verhältnis zur Schule ist verlogen. Eine Welt, die nicht mehr liest, möchte lesende Schüler. Eine Welt, der Gewaltigen und in der Gewalt Tätigen möchte eine Schule, die zur Gewaltfreiheit erzieht. Die erfolgreichen Einzelkämpfer möchten eine Schule, die das Sozialverständnis fördert.
Aber in Wirklichkeit möchten wir doch nur eine Schule für Erfolgreiche, für eine erfolgreiche Wirtschaft zum Beispiel. Und diese Schule haben wir doch – und diese Wirtschaft auch. Und nicht die Schule hat die Welt schnell gemacht, sondern wir.
(Peter Bichsel: Zeit zum Lesen, aus: Doktor Schleyers isabellenfarbige Winterschule, Suhrkamp 2003)
Das waren Gesichter Europas. In unserer Reihe "Lebenswelten": Kreidezeit – Lehreralltag in Europa. Mit Reportagen aus Frankreich, Finnland, Estland, Großbritannien, Italien und Bosnien. Hans Gerd Kilbinger las den Essay "Zeit zum Lesen" von Peter Bichsel, erschienen in dem Buch "Doktor Schleyers isabellenfarbige Winterschule" im Suhrkamp Verlag. Die Musik hat Sylvia Systermans ausgewählt – und am Mikrophon verabschiedet sich im Namen des ganzen Teams Simonetta Dibbern.