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Kreidekreis Krim
Referendum aus kultureller und historischer Sicht

Die Krim besitzt keine Eingeborenen, Menschen, die ein angestammtes Recht auf dieses Gebiet hätten. Wer auch immer hier ankam, andere waren schon vor ihm dort. Am Beispiel der Krim lässt sich verfolgen, wie schleichend das Gift historischer und kultureller Altlasten wirkt.

Von Mirko Schwanitz | 17.03.2014
    Die Krim ist wieder Russisch. Wie konnte es dazu kommen? Was wir hier erleben, ist nicht nur die Destabilisierung der seit dem Zweiten Weltkrieg geltenden Nachkriegsarchitektur Europas. Es ist auch ein Lehrbeispiel wie schleichend das Gift historischer und kultureller Altlasten wirkt.
    Jahrhunderte lang gehörte die Krim niemanden. Skythen siedelten hier. Die Griechen kamen im 8. Jahrhundert vor Christus, später Byzantiner und Römer. Hier überlebte das letzte gotische Königreich bis 1475. Die Goten lebten in Eintracht mit den Mongolen, die als Goldene Horde aus den Steppen Mittelasiens kamen und als Besiedlungserbe das sogenannte Krim-Khanat, eine Art Fürstentum der Krim-Tataren hinterließen. Ableger der Seidenstraße führten über die Krim ans Schwarze und von dort bis ins Mittelmeer.
    Der transkontinentale Handel endete 1453, als die Türken Konstantinopel einnahmen, die Reste des Byzantinischen Reiches rund ums Schwarze Meer zerstörten und es für Westeuropäer sperrten. Die meisten Küstenstädte verfielen, die Krim wurde weitgehend menschenleeres Gebiet. Neben dem Khanat der Krim-Tataren, die im 14. Jahrhundert zum Islam konvertiert waren, überdauerten auch Siedlungen der jüdischen Karäer die Zeiten bis zum 18. Jahrhundert, als das Russische Reich sich bis zum Schwarzen Meer ausdehnte und Katharina die Große, Chersoneus, das heutige Sewastopol, als Flottenstützpunkt einrichten ließ, Jalta zum Seebad machte und das alte venezianische Kaffa zum Weizenhafen Fedossija.
    Die Krim besitzt keine Eingeborenen, Menschen, die ein angestammtes Recht auf dieses Gebiet hätten. Wer auch immer hier ankam, andere waren schon vor ihm dort. Die Wahrheit der Krim, dass sie jedem und niemanden gehört, wurde erst durch zwei Autokraten verletzt, schreibt der namhafte Orientalist Neil Asherson: Durch Katharina die Große, die 1783 verkündete, dass die Halbinsel von nun an und für alle Zeiten russisch sei. Und vom Ukrainer Nikita Chrustschow, der im Zusammenhang mit einer Gebietsreform und Verbesserung der Wasserversorgung die Krim 1954 für alle Zeiten an die Ukraine übergab. Beide Verletzungen sind die Ursache für das Leiden der Krimbewohner bis heute.
    Die Unterdrückung der Tataren, die bis zur Besetzung der Halbinsel durch Russland die Mehrheit der Krim-Bewohner stellten, erreichte ihren Höhepunkt unter Stalin. Stalin ließ nicht nur hunderte Archäologen erschießen, um bei den Russen das Wissen um die Völkerwanderungen auf der Krim zu löschen. In den 30er Jahren ließ er auch mehr 150.000 Krim-Tataren ermorden. Das war der Grund, warum die deutschen Besatzer 1941 auf der Krim zwar freundlicher empfangen wurden, als in anderen Gebieten der Sowjetunion. Doch kollaborierten nur die wenigsten Krim-Tataren mit den Deutschen. Die überwiegende Mehrheit der krimtatarischen Männer kämpfte in der Roten Armee.
    Dennoch nahm Stalin die Kollaboration einiger weniger zum Anlass, in nur zwei Tagen im Mai 1944 189.000 Krim-Tataren zu deportieren. Fast die Hälfte der Krim-Tataren verlor bei der Deportation das Leben. In ihren Häusern und auf ihrem Land wurden Russen angesiedelt. Als die Krimtartaren als Letztes deportierte Volk Anfang der 90er Jahre in ihre frühere Heimat zurückkehren durften, wurden die Russen auf der Krim plötzlich daran erinnert, dass sie eigentlich auf geraubtem und blutverklebtem Boden lebten, in Häusern, die ihnen nicht gehörten, auf Land, das nicht sie, sondern anderen urbar gemacht hatten.
    Hinter den radikalen Forderungen der Russen auf der Krim nach Anschluss an Russland stecken auch die durch die Rückkehr der Krimtataren ausgelösten Besitzängste. In einer unabhängigen und nach Europa ausgerichteten Ukraine hätte sich die russische Mehrheit auf der Krim langfristig einer historischen Verantwortung stellen müssen. Doch genau das sollte mit dem gestrigen Referendum verhindert werden. Es ist nicht nur bedauerlich, sondern mehr als bedenklich, dass offenbar die Mehrheit der russischen Intellektuellen, dieses Vorgehen duldet. Oder mehr noch: tatkräftig unterstützt.