Archiv


Krieg mit Kinderaugen gesehen

In seinem Buch "Maikäfer flieg!" hat der Historiker Nicholas Stargardt authentische Kinderstimmen aus der Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges gesammelt. Stargardt stammt aus einer jüdischen Familie, die 1939 nach Australien flüchtete. Er wurde 1962 in Melbourne geboren und lehrt heute Europäische Geschichte in Oxford. Andreas Beckmann hat sein Buch gelesen.

    "Diese Jugend, die lernt ja nichts anderes als deutsch denken und deutsch handeln. Und wenn nun dieser Knabe oder dieses Mädchen mit zehn Jahren in unsere Organisationen hinein kommen und dort nun zum ersten Mal überhaupt eine frische Luft bekommen und fühlen, dann kommen sie vier Jahre später vom Jungvolk in die Hitlerjugend, und dort behalten wir sie wieder vier Jahre, und sie werden nicht mehr frei ihr ganzes Leben."

    Adolf Hitler auf einer Partei-Kundgebung im Dezember 1938. Hitler war sich sicher, dass er gerade die Generation der Jüngsten in seinem Reich emotional an sich gebunden hatte. Auch wenn Hitler häufig Wunschdenken und Realität verwechselte, in diesem Punkt behielt er weitgehend recht, so die zentrale These des britischen Historikers Nicholas Stargardt:

    ""Die Kinder und Jugendlichen waren die Generation, die am tiefsten vom Dritten Reich geprägt worden war. Die Frauen und Männer, die die Hakenkreuze quer durch Europa getragen hatten, konnten häufig auf Kindheitserinnerungen zurückblicken, die von nationalsozialistischen Emblemen und Parolen unberührt waren. Die Kinder hingegen hatten in ihren prägenden Jahren nichts anderes gekannt und oft nationalsozialistische Parolen verinnerlicht.""

    Diese These stützt Stargardt auf die Auswertung zahlreicher Tagebücher und Briefe, die Kinder und Jugendliche während des Krieges geschrieben haben und auf Schulaufsätze, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit entstanden sind. Stargardt hat sie in jahrelanger Recherche aufgespürt und in ihnen Quellen gefunden, die Gedanken und Gefühle der damals jungen Leute authentisch widerspiegeln, nicht gefiltert durch spätere Einsichten und Erkenntnisse. Für Nicholas Stargardt wird darin besonders der ungeheure Enthusiasmus deutlich, mit dem viele Kinder und Jugendliche an einen Sieg des Dritten Reiches geglaubt haben, bis zur bedingungslosen Kapitulation.

    Nicholas Stargardt: "Was mit dem Untergang des Dritten Reichs verloren ging, war die Zukunft. Niemand konnte mehr glauben, was sie vor ein paar Monaten oder ein paar Jahren als Zukunft vor den Augen hatten. Bei Kindern mit 14 bis 16 oder 17 Jahren sieht man überall in den Tagebüchern diese völlige Niederlage, dass sie bis zum letzten gehofft haben, dass etwas anderes aus dem Weltkrieg kam als eine Niederlage."

    Viele Jungen meldeten sich etwa voller Begeisterung zum so genannten Volkssturm, den Hitler Ende 1944 als letztes Aufgebot an die Front schickte. Von den Mädchen wurden sie dafür oft bewundert. Stargardt zitiert eine damals 17-jährige Liselotte, die aus einem regimekritischen Elternhaus stammte, aber dennoch bis zuletzt auf den so genannten Endsieg hoffte.

    "Ich bin so stolz auf unsere Jungs, die sich noch jetzt den Panzern entgegenwerfen, wenn der Befehl kommt. Für (meinen Bruder) Bertel fürchte ich nur, weil es für Mutti so schrecklich wäre. Ich selbst würde bereit sein, ihn zu opfern.""

    Auf 600 Seiten zeichnet Stargardt ein umfassendes Bild von Kindheit und Jugend unter dem Hakenkreuz. Dabei teilt er seinen Text in vier Abschnitte. Der erste handelt von der Heimatfront, der zweite berichtet vom Vorrücken der Deutschen in den besetzten Ländern. Im dritten und bewegendsten Teil schildert der Historiker, wie der Krieg nach Deutschland zurückkehrt und gleichzeitig die Nazis ihre Vernichtungspolitik intensivieren. In dieser Zeit müssen Kinder schier unerträgliches Leid aushalten, die einen mit ihren Eltern im Bombenkeller, andere auf den Flüchtlingstrecks und vor allem die jüdischen Mädchen und Jungen in den Gettos und Konzentrationslagern. Selbst von Hunger und Kälte gepeinigt bewahren sich Jugendliche wie die 18-jährige Miriam sogar hier ihr Mitgefühl für die noch Schwächeren.

    ""Sie ging zu einem (...) kleinen Mädchen, das weinend in der Ecke saß, und strich über sein zerzaustes blondes Haar. Als das Kind zu Miriam aufschaute und sagte 'Ich bin hungrig', vermochte Miriam ihm nicht in seine blauen Augen zu schauen und wandte sich beschämt ab. Sie hatte ihre Brotration schon aufgegessen und konnte dem Mädchen nichts mehr geben.""

    Der letzte Abschnitt des Buches, in dem es um die Zeit unmittelbar nach Kriegsende geht, ist unterteilt in Kapitel über "die Besiegten" und "die Befreiten". Während die meisten der Besiegten sich bald nicht mehr an ihre kindliche Begeisterung für den Nationalsozialismus erinnern wollten, brannte es vielen Überlebenden der Vernichtungslager zunächst auf der Seele, von ihren Erlebnissen zu berichten. Charlotte Grunow, die im April 1945 von britischen Soldaten in Bergen-Belsen befreit worden war, sagte damals in der BBC:

    ""Wir wissen nur, wenn wir rauskommen, dass wir das alles, was wir hier erlebt haben, in die Welt hinaus schreien müssen, denn anders kann man nicht leben. (...)Wenn wir heute die Sonne untergehen sehen, denken wir an den Kamin in Auschwitz, der Tausende von Menschen hingerafft hat, und man musste zusehen, man war so verzweifelt."

    Bald mussten die meisten Überlebenden jedoch feststellen, dass ihnen kaum jemand zuhören wollte. Außerdem waren die Erinnerungen an die Lager für viele doch zu schmerzhaft, um darüber sprechen zu können. Und gerade die Kinder hatten dort oft eine Rolle gespielt, derer sie sich später schämten.

    ""Während die Erwachsenen (...) die Kamine des Krematoriums zu ignorieren versuchten, schauten (sie) auf die Farbe des Rauchs und witzelten darüber, ob die Leute, die verbrannten, dick oder dünn gewesen seien. (...) Kinder fürchteten und hassten (...) ihre Feinde, aber sie beneideten sie auch zutiefst. Polnische Kinder spielten 'Gestapo' und Kinder im Wilnaer Ghetto und in den Lagern von Birkenau hatten auf der Suche nach Schmugglern, bei Razzien und bei Selektionen SS gespielt.""

    Nach dem Ende des Krieges haben dann viele Kinder in Deutschland versucht, ihre Ohnmachtserfahrungen mit den Besatzungssoldaten in ähnlichen Spielen zu verarbeiten, schreibt Stargardt.

    Nicholas Stargardt: "Kinder können immer ein Spiel kontrollieren, sie können nicht nur die Rollen aussuchen, sondern auch, wie lang sie spielen und wie weit sie gehen. Ich habe kein deutsches Kind gefunden, das Vergewaltigung gespielt hat zum Beispiel. Das wäre zu viel, das ging dann zu weit. Plünderung ist eine Sache, aber wenn man immer noch in einer intakten Kleinfamilie lebt, die Vergewaltigung von Schwestern oder sogar Müttern, das wäre zu viel."

    Nicholas Stargardt montiert seinen Text zu einem großen Teil aus Erzählungen von Kindern, aus Beobachtungen von Eltern und Lehrern, Fürsorgern oder Mitgefangenen. Zwar sind manche davon schon früher veröffentlicht worden und daher bekannt. Aber mit der Fülle seines Materials liefert Stargardt einen einzigartigen Überblick über die Kriegserlebnisse einer ganzen Generation, deutscher und polnischer, jüdischer wie nichtjüdischer Kinder. Weil der Autor sehr plastisch erzählt, kann der Leser nachempfinden, wie die Gewalt in das Leben und die Seelen der Kinder eindringt. Den Krieg mit Kinderaugen sehen - Nicholas Stargardt hat eine Geschichte des Zweiten Weltkriegs geschrieben, wie man sie bisher noch nicht gelesen hat und die auch für ein breites Publikum spannend ist. Der umfangreiche Apparat von Anmerkungen und Nachweisen, der mit fast 150 Seiten nahezu ein Viertel des Werkes umfasst, dürfte allerdings nur die Fachwelt interessieren.

    Nicholas Stargardt: "Maikäfer flieg!" Hitlers Krieg und die Kinder.
    DVA. München 2006.
    590 Seiten. 34,90 Euro.