Mittwoch, 24. April 2024

Archiv


Kriegstrauma eines Algerienkämpfers

Viele französische Soldaten, die zwischen 1954 und 1962 zur Bekämpfung der Aufstände nach Algerien geschickt wurden, leben noch. In ihnen schwärt die Erinnerung an erlittene Wunden und solche, die sie anderen zugefügt haben. So auch bei der zentrale Figur in Laurent Mauvigniers Roman.

Von Sigrid Brinkmann | 24.11.2011
    Bernard, 63 Jahre alt, ist Trinker. Er riecht nicht gut. Frau und Kinder in Paris hat er schon vor vielen Jahren verlassen. Er haust in einer Baracke am Rand seines Heimatdorfes, irgendwo in Frankreich. Er ist die zentrale Figur in Laurent Mauvigniers Roman. Bernard war einer von zwei Millionen jungen Franzosen, die nach der Landung in Algerien eine Plakette um den Hals gehängt bekamen und zu Handlungen gezwungen wurden, die sie unweigerlich an das Verhalten der deutschen Besatzer im Zweiten Weltkrieg erinnern mussten. Viele empfanden Schuld für ihr Tun, doch als sie nach Frankreich zurückgekehrt waren, wollte niemand von ihren Skrupeln hören und erst recht nichts von den Gräueln, die Aufständische und Franzosen verübt hatten. Im Wirtshaus spielten die Alten wie eh und je Karten. Man sorgte sich um die Ernte, während die Jungen afrikanische Sandrosen aufs Wohnzimmerbuffet stellten und Fotos ihrer Kameraden rahmten.

    "Das Besondere dieses Krieges ist es, dass er psychologisch im Nicht-Gesagten fortwirkte. Erst 1999 wurde offiziell gestattet, die militärischen Aktionen in Algerien auch tatsächlich Krieg zu nennen. Man konnte vorher über das, was dort passierte, nicht sprechen oder schreiben, ohne die Unmöglichkeit zu thematisieren, die Dinge beim Namen zu nennen. Gleichzeitig waren die Leute nicht fähig, auf Dauer alles für sich allein zu behalten. Das Trauma, das der Algerienkrieg geschaffen hat, muss für mich in der Sprache sichtbar werden. Es geht dabei um eine doppelte Verletzung."

    Geradezu kalt beschreibt Laurent Mauvignier das Ereignis, das die Wunde seines Protagonisten aufbrechen lässt. Der bedürftige Außenseiter Bernard schenkt seiner Schwester, die ihren 60. Geburtstag mit vielen Gästen feiert, eine goldene Brosche. Die neidischen Geschwister unterstellen ihm, er habe das Geld dafür von ihrer gebrechlichen Mutter gestohlen. Als ein in Algerien geborener Gast den Raum betritt, nimmt das Drama seinen Lauf. Bernard beschneidet dem Mann das Recht, "hier" zu sein. Er nennt ihn "bougnoule" - Drecksaraber. Nachdem die Geburtstagsgesellschaft Bernard hinausgeworfen hat, dringt dieser in das Haus des Algeriers ein und tötet dessen Hund. Gendarmen sammeln Zeugnisse für eine Anklage. Mauvignier hat eine zweite Erzählebene eingeführt. Er lässt einen Cousin Bernards von der Polizei befragen. Beim Antworten verliert sich dieser mehr und mehr in Erinnerungen an die gemeinsame familiäre Herkunft und die Zeit als Soldaten in Algerien. Mauvignier findet zu einer tastenden Sprache, die manchmal ins Stocken gerät und Worte wie kleine Blasen in die Luft aufsteigen lässt; manchmal aber auch hetzt ein Gedanke den Erzähler derart, dass atemlos Worte gereiht und zu langen Satz- und Bildketten gefügt werden.

    "Bernards verrücktes, aggressives Handeln ist natürlich den Erlebnissen im Krieg geschuldet, aber ebenso seiner Kindheit, all den offenen Rechnungen, die er mit Eltern und Geschwistern hat. Seit seiner Jugend befindet er sich im Kriegszustand mit seiner Familie. Er fühlt sich betrogen. Ich wollte die beiden Ebenen – Herkunft und Krieg – eng miteinander verzahnen, damit man auf keinen Fall allzu einfache Schlüsse zieht und alles Scheitern aus dem Krieg herleitet."

    Mauvigniers Erzähler – und darin gleicht ihm der Autor - fühlt, dass er im Innersten nicht begreift, warum Bernard allein haust mit seinen "uralten Erinnerungen und seinem ebenso alten Hass". Dem Erzähler war es gelungen, in eine bürgerliche Welt zurückzufinden und zu ertragen, was im Grunde unerträglich ist. Also – folgert er – besitzt der zu Gewaltausbrüchen neigende Cousin mehr Menschlichkeit. Mauvignier hat seinem Roman ein Zitat aus Jean Genets Prosagedicht "Der Seiltänzer" vorangestellt. Genet spricht darin von einer Wunde, die jeder Mensch wie eine "geheime Stelle" in sich versteckt hält. Mauvignier gibt offen zu, dass sich seine Wunde im Unvermögen offenbarte, den eigenen Vater zu befragen. Ohne jeden Anflug von Parteinahme beugt er sich in seinem komplexen Roman über die Kränkungen und Nöte derer, die schweigen. Darin liegt keine Unentschiedenheit. Es ist sein Respekt vor den "geheimen Stellen". Als Romancier hat Laurent Mauvignier etwas gewagt und er hat gewonnen. Und es ist kein Rückzugsgefecht, wenn er ein Grundprinzip des Erzählens deutlich für sich beansprucht.

    "Ich will nichts sagen. Ich will verstehen, warum alle Welt redet. Erklären will ich das nicht. Im Gegenteil, ich muss kenntlich machen, dass ich nichts verstehe. Als Autor greife ich zurück auf Informationen, die jedem von uns zur Verfügung stehen, aber ich nutze sie, um dem Seltsamen und der Fremdheit eines Menschenlebens Tiefe und Kontur zu geben."

    Laurent Mauvignier: "Die Wunde". Roman. Aus dem Französischen von Annette Lallemand. 297 Seiten, 14,90 EUR, Dtv premium, 2011