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Krippenspiel mit Abstraktionsgrad

Bereits einmal hat der Choreograf John Neumeier ein Werk von Johann Sebastian Bach inszeniert: Mit der Matthäuspassion feierte er vor mehr als einem viertel Jahrhundert Triumphe. Nun kehrt Neumeier mit dem Weihnachtsoratorium zu Bach zurück. Bei der Uraufführung im Theater an der Wien stellte er die spirituelle Dimension des Werkes in den Vordergrund.

Von Dorothea Frank |
    John Neumeiers Choreografie des "Weihnachtsoratoriums" beginnt vielversprechend. Minuten bevor die Pauken des Eingangschors "Jauchzet, frohlocket" einsetzen ertönen ein paar Mundharmonika-Akkorde, dann Stille. In der Mitte der Bühne ein rechteckiger Turm aus gerilltem, transparentem Kunststoff, sieht aus wie ein verkleideter Liftschacht. Darin sieht man schemenhaft Gestalten.

    Als sich die Abschirmung hebt, erkennt man eine zusammengedrängte Gruppe von Männern und Frauen in dunkelgrauen Mänteln mit weißlichen Koffern, wie auf einem überfüllten Bahnsteig. Aus ihrer Mitte versucht sich ein Mann mit einem Weihnachtsbäumchen zu lösen; die anderen weichen jedoch grob und unwillig nicht vom Fleck, so dass er stolpert und aus seiner Schachtel mit Christbaumkugeln eine verliert. Die zerplatzt am Boden in die Stille hinein. Der Mann tritt auf ein Karree, das vor der Rampe über den Orchestergraben ragt. Er stellt sein Bäumchen auf und entzündet darauf ein Licht.

    Die Erwartungen, die diese ersten Minuten wecken, werden in den restlichen zwei Stunden nicht wirklich eingelöst. Zwar mangelt es der Choreografie nicht an Verständlichkeit bei gleichzeitiger Vieldeutigkeit. John Neumeier hat vor ein paar Tagen seine Auseinandersetzung mit dem Weihnachtsoratorium und mit geistlicher Musik überhaupt folgendermaßen beschrieben:

    "Ich denke, dass ich als Choreograf als ganzer Mensch sprechen muss. Das heißt, ich kann über meine emotionale Seite, über meine intellektuelle Seite, über meine erotische Seite sprechen, aber auch über die spirituelle Seite muss ich die Möglichkeit haben zu sprechen. Das darf für mich kein Tabu sein, die Auseinandersetzung mit einem Gott, die Auseinandersetzung mit etwas, das nicht beweisbar ist; das bedeutet, indem ich diese Art von Frage stelle."

    Was Neumeier hier darlegt, findet auf der Bühne grundsätzlich auch statt. Die Erbauungslyrik, die Bach vertonte, formuliert die Hoffnung und den Optimismus des christlichen Heilsversprechens. In der Choreografie bleibt über diesem Heilsversprechen ein leises Fragezeichen der Skepsis stehen. Die koffertragenden Figuren stehen wohl auch für existentielle Unbehaustheit.

    Individuelle Einsamkeit wird nicht zuletzt über die Figur des Josef erfahrbar, dessen beschützender Zuneigung Maria nicht gerecht werden kann, denn die zwiespältige Mutterrolle, die ihr zugedacht ist, fordert ihre ganze Persönlichkeit: Weil sie einen Sohn empfängt, der per Vorsehung verloren ist, bettet sie ein zusammengefaltetes leeres Hemd auf ihren Armen. Tragen wir einen spirituellen Sinn unseres begrenzten Lebens in Händen, oder sind unsere Hände leer? Auf diese ungreifbare, undurchdringliche Kernfrage verweist der Tanz.

    Zu dem ohnehin erzählenden Oratorium ein Handlungsballett zu kreieren, muss auch kein Fehler sein. Ein Krippenspiel mit einem gewissen Abstraktionsgrad - warum nicht? Nicht das Was, das Wie ist das Problem. Wenn sich das Vokabular eines Künstlers über Jahre wenig wandelt, kann es zur schönen, aber ein wenig manierierten Oberfläche werden, die nicht mehr die Spannung und Flexibilität hat, den Tiefenstrukturen des Hier und Jetzt Gestalt zu geben.

    Die wirklichen Längen des Abends finden sich aber dort, wo der treibende Puls der Musik zu verebben droht. Das passiert nicht oft - die Wiener Symphoniker, der Arnold Schönberg Chor und Solisten wie Christoph Prégardien bewegen sich die meiste Zeit auf dem State of the Art der Bach-Interpretation nach Jahrzehnten Originalklangbewegung. Aber bei einigen Arien legt der Dirigent Alessandro de Marchi ein derart breites Tempo vor, dass man das Gefühl hat, die Instrumentalisten würden ihm am liebsten durchgehen wie ungeduldige Pferde.

    Ein herzlich bejubelter Publikumserfolg war die Premiere nichtsdestoweniger, und ohnedies sind alle Wiener Vorstellungen ausverkauft.