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Garielle Lutz: "Geschichten der übelsten Sorte"
Krise um Krise, Satz und Satz

Eine Entdeckung, eine Herausforderung: Mehr als 25 Jahre nach der Erstveröffentlichung erscheinen die frühen stilprägenden Erzählungen der US-amerikanischen Autorin Garielle Lutz endlich auf Deutsch.

Von Samuel Hamen | 20.06.2022
Gabrielle Lutz: "Geschichten der Übelsten Sorte"
In den USA hat sich Garielle Lutz längst einen Namen als außergewöhnliche Stilistin gemacht. Klassische Handlung enthält ihr Debüterzählband "Geschichten der übelsten Sorte" kaum. (Foto: privat / Buchcover: Weissbooks Verlag)
2008 hält der US-amerikanische Autor Gary Lutz einen Vortrag vor Studierenden eines Schreibseminars; der Titel lautet "Der Satz ist ein einsamer Ort". Er selbst sei, sagt Lutz, von jener Prosa fasziniert, in der "quasi jeder Satz die Kraft und die Griffigkeit eines Höhepunkts" habe, in der "fast jeder Satz ein lebhafter Endpunkt der Sprache, ein Abbruch, eine endgültige Beunruhigung" sei. Denn der Satz ist für ihn "der eine wahrhaftige Schauplatz aller Bestrebung", der Ort, "an dem das Schreiben an einen Kipppunkt" gelange und "seine Endgültigkeit" erreiche.
Wahrscheinlich wäre es vor dem Hintergrund ratsamer, den aufsehenerregenden Band "Geschichten der übelsten Sorte" von Lutz nicht Erzählung für Erzählung, sondern Satz für Satz vorzustellen. Er setzt sich zusammen aus 46 Geschichten und ist im englischen Original bereits 1996 erschienen; nun erscheint im Berliner Verlag "Weissbooks" die deutsche Erstübersetzung, besorgt von Christophe Fricker.

Menschen in desolaten, erratischen Umgebungen

Von klassischen Handlungen kann bei Lutz, die 2021 ihre Transition vom Mann zur Frau, von Gary zu Garielle bekanntgab, kaum die Rede sein. Es geht in den Prosastücken, die man auch als einen einzigen fragmentierten Roman lesen kann, um den immergleichen Typus Mensch in typisch desolaten oder erratischen Umgebungen, um Menschen in Büros, Diners und Discountern, bei Gebrauchtwagenhändlern, in Blutabnahme-Zentren und Kantinen von Berufsschulen. Das Nicht-Ereignis regiert die Plots. Die Erzähler und Figuren sind durchgängig eingerastet in Gesten und Gedanken der Überforderung, Demütigung und Zerstreuung.
"Wir waren warmarmige, heißhändige Girls. Unsere Handflächen brannten. Wir ballten um Eiswürfel und alle möglichen Gefriergüter die Faust – Gemüsepakete, eingeschweißte Fleischstücke. Wenn sie aufgetaut waren, verbannten wir sie wieder ins Gefrierfach und griffen nach dem, was eine neue Frostkruste angesetzt hatte."
So weit, so üblich, so postmodern. Was die Erzählungen so vertrackt und gleichzeitig elegant macht, das ist die Art und Weise, wie sie sich die Welt in den Text holen. Melancholie und Überdruss, Lakonie und Weltschmerz sind für Lutz keine Fragen der Motivik, der Psychologie oder der Dialoge; dann müsste ihre Prosa in der Tat dem Genre der existenziell larmoyanten Literatur zugeschlagen werden, das sich längst totgelaufen hat.

Alles eine Frage der sprachlichen Gestalt

Nein, bei dieser Autorin ist alles eine Frage der sprachlichen Gestalt. Welche Syntax hat ein Satz, der vom Elend einer halbtoten, zombiegleichen Paarbeziehung berichtet? Welche abseitigen Vokabeln sind vonnöten, um die Misanthropie eines durchfallgeplagten College-Professors zu fassen zu kriegen? Und welchen Rhythmus hat ein Gedanke, in dem der Erzähler die Trägheit des eigenen Lebens begutachtet?
"Nach allem, was ich weiß, muss ich früher oder später so schlau gewesen sein, aufzustehen und mir anzusehen, welche Umrisse mein Körper, während ich schlief, in den Teppich gedrückt hatte, also in die Lichtung, die ich angelegt hatte, indem ich Kleider und Essensverpackungen und Zeitungen und so zur Seite geschoben hatte, wobei es sich um keine der üblichen Genesungsposen gehandelt haben konnte, denn ich weiß noch, wie ich dachte, dass es immer noch ein paar Leute gab, zwei oder drei, je nachdem, wie ich sie gerade zusammenzählte, die, wenn man sie zur rechten Zeit erreichte, ganz verlässlich sagten, dass sie 'gerade an dich gedacht' haben, und genau die gedachte ich nicht anzurufen."
Natürlich lassen sich Themen destillieren; in der Hinsicht ist "Geschichten der übelsten Sorte" nicht besonders variantenreich. Es geht um erschlaffte Ehen, um den Ennui der Teenager-Jahre und den Ruin eines bürgerlichen Arbeits- und Familienlebens. In etlichen Texten ist das Geschlecht der erzählenden Instanz unklar, und eine gehemmte Sexualität, versunken zwischen Begierden und Tabus, durchzieht die Miniaturen.

In Deutschland als Autorin kaum bekannt

Insgesamt besticht der Erzählband aber dadurch, dass die Tristesse unserer Zeit formalisiert wird, sie zu stilistischen Ereignissen inmitten einer allumfassenden Monotonie wird.
"Das Problem mit dem Kommen war, dass ich tatsächlich irgendwo ankam. Nämlich an dem Ort, den mein Körper schon verlassen hatte. Ich kam gerade rechtzeitig, um zu sehen, was vorgefallen war, wo es passierte. Ich betrachtete diejenige, deren Passagier ich gewesen war – jedes Mal meine Schwester. Ich sah also diese Frau an, die ein Verkehrsmittel war, eine Zustellungsart."
In Deutschland ist Garielle Lutz, die 2021 ihren bisher letzten Erzählband veröffentlicht hat, kaum bekannt. "Geschichten der übelsten Sorte" bietet eine willkommene, wenn auch verspätete Gelegenheit, die Autorin zu entdecken, die mit ihrer eigenwilligen Sprachkunst im englischsprachigen Raum längst Schule gemacht hat.
Garielle Lutz: „Geschichten der übelsten Sorte“
Aus dem Englischen von Christophe Fricker
Weissbooks Verlag, Berlin, 288 Seiten, 22 Euro.