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Kritisches Wörterbuch der Französischen Revolution

Am Ende des 18. Jahrhunderts ist die Aufklärung ihrer selbst nicht mehr sicher. Die höchste Epoche der Vernunft werde immer diejenige sein, "worin alle Arten von Spekulation, Wahnsinn und praktischer Schwärmerei am stärksten im Schwange" sind, liest man damals bei ihren avanciertesten Autoren.

Harro Zimmermann |
    Und dennoch schien die Zukunft der Aufklärung gerade deshalb gesichert, weil die Chance ihrer Verwirklichung von unaufhebbar utopischen Maßen war. Keine andere Epoche vor ihr hat den eigenen Erfahrungsraum in einen welt- und zeitumspannenden Erwartungshorizont gedehnt wie sie. Was geschichtliche Kontingenz war, mußte Potential der Hoffnung auf die "Erziehung des Menschengeschlechts" werden. Wo nichts mehr Bestand oder Geltung beanspruchen konnte außer dem "Vernünftigen", wo alles in strömende Bewegung durch entwertete Vergangenheiten und flüchtige Gegenwarten in eine sogartige Zukunft hinein geraten schien, konnten nur "Revolution", "Fortschritt", "Emanzipation", "Krise" und "Zeitgeist" den rasenden Welt- und Wertwandel noch beschreiben. Jene Bewegungsbegriffe der Hegelschen Philosophie, die ihre Wirklichkeit in Gedanken entfalten wollte, interpretierten eine "neuzeitliche" Moderne, die aus ihrer "Entzweiung" (Selbst-) Definitionsenergien von wahrhaft über-säkularer Kraft zu gewinnen vermochte. Aufklärung als "Aktions-, Programm- und Epochenbegriff" ist seither, ungeachtet schärfster Einsprüche, Verdammnisse und Toterklärungen, von ungebrochener Virulenz.

    Was aber bedeutet die Französische Revolution für die Aufklärung? Oder umgekehrt, ist jener "vernünftige" Kulturalisierungsprozeß des 18. Jahrhunderts verantwortlich zu machen für den Umbruch von 1789? Und darf man den geschichtlichen Weg von dort in die zur Zukunft drängende Gegenwart des Jahres 1996 womöglich als fortzusetzendes und wiederzubelebendes Erbe auffassen? Fragen an ein grundgelehrtes Werk, das seiner "Passion des Eingedenkens" auf mustergültigem Kenntnis- und Reflexionsniveau gerecht zu werden versucht. Mit reichhaltig instrumentiertem Fernblick möchte dieses Buch, gruppiert um Ereignisse, Akteure, Institutionen und Neuerungen, Ideen und Deutungen der Revolution, die Tiefen einer Gegenwart ausmessen, die immer noch von jenem Anspruch auf die Universalität des Menschen in der Welt inspiriert wird. Weil die Philosophie der Menschenrechte heute - zumindest in der westlichen Welt - keine ernstzunehmenden Gegner mehr besitzt, so die Herausgeber, hätten wir die Schwierigkeiten vergessen, die von 1789 bis in die Gegenwart hinein mit der "subjektiven Begründung des Sozialen untrennbar verbunden" gewesen sind. Wie kaum eines sonst mache das Studium der Französischen Revolution jene Verhaltenslogiken, die kollektiv-egoistischen Selbstbestimmungskämpfe und Befriedungssehnsüchte dieser so unbändigen wie hoffnungsträchtigen Moderne wieder sichtbar. Wenn also die "alten Fragen" sich derzeit in "neuer Nähe" zeigen, wenn man den "eventuellen despotischen Potentialen" moderner Herrschaft widerstehen, gegen jede "Konfiszierung" von gesellschaftlicher Souveränität obsiegen will, dann zu allererst im Blick zurück auf die früh-demokratische Inspiration Europas im 18. Jahrhundert!

    Daß die Revolution von 1789 dem "Block" eines geschlossenen Begriffsdenkens erschließbar sei, bestreiten Furet und Ozouf vehement. Von mehr als einer regulativen Idee könne bei der Frage der Einheit dieses monströsen Prozesses nicht die Rede sein; zu vielschichtig, widersprüchlich und unvereinbar seien zahllose seiner Einzelverläufe gewesen. Vor allem das ehedem so routinierte Erklärungsmuster vom Erscheinen der Bourgeoisie auf der historischen Bühne, das Theoriekorsett von den progredierenden Klassenkampfverhältnissen also, besitze heute nur noch einen begrenzten Beschreibungswert. In diesem großen Geschichtsbuch wird auch deutlich, warum. Zwischen 1787 und 1800 wankte nicht die "Substanz der Gesellschaft, sondern es wankten lediglich ihre Grundsätze und ihre Regierung", schreiben die Herausgeber. Mit Entschiedenheit müsse daher der "kulturelle und politische Charakter dieses Erdbebens" hervorgehoben werden. Es ist im Jahre 1789 demnach keine grundstürzende Welt-Neu-Geburt in die Geschichte eingetreten, sondern diese Revolution hat etwas ganz eigentümliches hervorgebracht: "einen modernen politischen Raum in einer kulturell überwiegend traditionell geprägten Umgebung". Keineswegs ist diese Revolution also mit der Verwirklichung jener "vernünftigen" Philosophie gleichzusetzen, wie es die Zeitgenossen und zahllose nachfolgende Historikergenerationen gesehen haben. Vielmehr wurde die Aufklärung von den Exekutoren der revolutionären Gewalt benutzt, wo und wie immer sie ihrer reizbaren Energie und ihrer utopischen Beseelung bedurften. Oft genug rationalierte man mit ihren Ideen die schlechte Praxis des politischen Interessenkampfes. So wie die Revolutionäre unversehens ins Geschäft dieser despotischen Praxis "hineingeschlittert" waren, hatten auch die Voltaires und Rousseaus nolens volens ihre Formulierungsdienste anbieten müssen. Diese Aufklärung gab eine zusätzliche Legitimation her für eine Revolution, welche aus der grundlegenden Finanz- und Institutionenkrise des französischen Absolutismus hervorgebrochen war. Erst im Licht solch "vernünftigen" Idealismus gewann der Umwälzungsprozeß von 1789 seine besondere raum- und zeit-entgrenzte, humanitäre Inspirationskraft. Die moralisch erregte Politik schien allmächtig und kontrollierbar gleichermaßen. Deshalb konnte diese Revolution beanspruchen, die nationale Geschichte der Franzosen zu ihren freiheitlichen Ursprüngen zurückzuführen und ineins damit den Anbruch einer glücklichen Zukunft auf ihren Eid nehmen. Freiheit und Recht, jene kosmopolitischen Verheißungen, sollten den politischen Raum mit neuen Sinnversprechen und Hoffnungen aufladen. Doch definierte sich die Staatsnation bald schon und immer entschiedener als Erziehungsstaat: jeder sollte in sich selber die Revolution vollziehen. Die Französische Revolution ging deshalb, und auch weil sie über die Aufklärung als bloß auszubeutendes Erbe verfügte, zunehmend in Mythologie über: "der Kosmopolitismus verwandelte sich zu einem nach Eroberung strebenden Nationalismus, der Pazifismus wurde zum Militarismus, die Toleranz zum Fanatismus und die Freiheit zur Schreckensherrschaft". Also hatten die kritischen Denkmittel der Aufklärung nicht zuletzt als Verschleierungsinstrumente der Revolution selber herzuhalten. Daß die einer universellen Umwälzung aller "Seelen und Geister" gleichkomme, ohne Vorbild und von ordnungschaffender Urgewalt sei, ließ sich als geschichtliche Projektion wie als reales Politikum nicht lange aufrechterhalten. Das Glücksversprechen dieser Revolution gebiert schließlich jene notorischen Ungeheuer der Vernunft. Kein humanitärer Geist ist noch ernsthaft zu behaupten, wo es nicht mehr um die Revolution geht, die sich selber zu kontrollieren vermag, sondern nur noch um ein Moment deplorabler politischer Instabilität schlechthin.

    Der Verlauf dieser Revolution sei verheerend, ihr Projekt dagegen ein "glückliches" gewesen, schrieb #Benjamin Constant# dereinst. Eben das ist auch die Überzeugung der Autoren und Herausgeber dieses Kritischen Wörterbuchs. Das Projekt der Französischen Revolution bleibe nachgerade ein "Ziel der Menschheit". Und vor allem: sie sei etwas "anderes als das von ihr der Geschichte hinterlassene Erbe, auf das sie nicht zu reduzieren ist". Noch in ihrer gewaltigen säkularen Religionsanstrengung hat diese Revolution versucht, einer in ihren sozialen Bindungen immer schwächer werdenden, sich atomisierenden modernen Gesellschaft, kollektive geschichtliche Kraft und Zuversicht zu vermitteln. In Wahrheit jedoch verwandelte sie den usurpierten Universalismus der Menschenrechte in krudes Herrschaftskalkül, ließ sie aus dem Gedanken des Allgemeinwillens die mörderische Wut der Volksermächtigung werden. Auch die Protagonisten der Französischen Revolution haben nicht so sehr die überkommenen feudalen Gewalten, sondern deren Personen angegriffen. Nur ein wahnhaftes Regime konnte nach deren Sturz glauben, daß ein Flächenstaat des späten 18. Jahrhunderts mittels politischer Erziehung jene Souveränität wiederzuerlangen vermöchte, welche die antiken Gesellschaften ihr eigen genannt hatten. Der Schrecken sei der konsequente "Ausdruck der Tugend", hatte Robespierre formuliert. Sein Gewährsmann #Jean-Jacques Rousseau# lag derweil schon auf dem Helikon der Edelsten, im Panthéon zu Paris. Keiner hätte jenem Tugend-Terroristen aus Arras damals heftiger widersprochen.

    Am Ende dieses über 1700seitigen Lektüre-Marathons weiß man in der Tat wieder um die "Fremdartigkeit und Irritationskraft" jenes grundlegenden Ereignisses Revolution. Gerade weil in diesen beiden Büchern nichts weniger als historische Mythen, Legendenbildungen und landläufige wissenschaftliche Standards fortgeschrieben, sondern sich im weiten Forschungskontext selbst reflektierende Materialstudien von hoher Differenziertheit vorgelegt werden, darf man von einem im überzeugendsten Sinn "kritischen" Unternehmen sprechen. Allerdings, der eilige Benutzer, so er sich mit knappen Stichwort-Kondensaten zufriedengeben möchte, dürfte enttäuscht sein. Aufklärung braucht auch hier einen langen (Lese-)Atem.