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Künstliches Leben

Biologie. - Die Frage nach dem Beginn des Lebens gehört zu den interessantesten Problemen der Biologie. Tatsächlich weiß niemand, wie der Übergang von organischer, aber unbelebter Chemie zur Biologie gelang. Biologen aus Kalifornien haben nun eine künstliche RNA geschaffen, die sich tatsächlich selbst vermehrt. Sie glauben: So oder so ähnlich könnte das Leben auf der Erde begonnen haben.

Von Michael Lange |
    Seit acht Jahren erforscht Gerald Joyce in seinem Labor am Scripps-Forschungsinstitut in La Jolla, Kalifornien, RNA-Moleküle. Diese Biomoleküle sind ein wichtiger Bestandteil aller biologischen Zellen. Sie sind gleichzeitig Träger oder Überträger von Erbinformationen, wie die DNA, und einige von ihnen können außerdem wie Enzyme arbeiten, genau wie Proteine.

    "RNA-Moleküle sind in der Biologie allgemein verbreitet. Sie unterscheiden sich nur geringfügig vom Erbmolekül DNA und übernehmen in biologischen Zellen unterschiedliche Aufgaben. Viele Wissenschaftler glauben, dass sie zu Beginn des Lebens auf der Erde eine eigene Biologie schufen, noch bevor DNA und Proteine entstanden. Wissenschaftler nennen das: die RNA-Welt."

    Wie diese RNA-Welt ausgesehen haben könnte, wissen die Forscher nicht. Deshalb hat Gerald Joyce begonnen, im Labor eine künstliche RNA-Welt zu schaffen. Moleküle, die sich selbst vermehren, ohne DNA und ohne Proteine. In der Natur gibt es das nicht. Hier müssen verschiedene Biomoleküle in komplexer Weise zusammenarbeiten, damit Vermehrung stattfindet. Die neue künstliche RNA kann das allein. Sie ist gewissermaßen Erbgut und Enzym in einem, Henne und Ei zugleich.

    "Es ist möglich, dass vor knapp vier Millionen Jahren in der Natur etwas ähnliches stattgefunden hat. Aber in der heutigen Natur gibt es keine RNA-Moleküle, die sich selbst vermehren. Um solche RNA-Moleküle zu erzeugen, brauchten wir die Werkzeugkiste des Chemikers. Nur so konnten diese Fähigkeiten entstehen."

    Gerald Joyce musste allerdings feststellen, dass eine einzige Form von RNA nicht ausreicht, um sich zu vervielfältigen. Die Forscher brauchten letztlich doch wieder zwei Moleküle, um Leben im Labor entstehen zu lassen. Zwei RNA-Moleküle, die wie Enzyme arbeiten. Joyce:

    "Wir haben zwei verschiedene RNA-Enzyme: eine Plus-RNA und eine Minus-RNA. Die Plus-RNA baut die Minus-RNA und die Minus-RNA baut die Plus-RNA. Minus macht plus, plus macht minus und so weiter. In der natürlichen Biologie ist das nicht anders. Beim Erbmolekül DNA, der Doppelhelix, gibt es einen minus und einen plus-Strang. Die Information wird immer wieder von Strang zu Strang übertragen."

    Wie ein Lebewesen sieht die RNA im Reagenzglas natürlich nicht aus. Aber sie besitzt eine biologische Information und pflanzt sich fort, wie richtiges Leben. Joyce:

    "Das Molekül besteht auch sechzig Bauteilen. Wir liefern diese Bauteile, und die RNA-Moleküle bauen sich selbst zusammen. Dann produziert jedes Moleküle etwa 100 Kopien von sich selbst in fünf Stunden. Und jede Kopie erzeugt ihrerseits 100 Kopien in fünf Stunden, und so weiter und so weiter."

    Ob die künstliche RNA tatsächlich "lebt" oder nur ein chemisches Konstrukt ist, hängt davon ab, welche Definition von Leben man verwendet. Die künstliche RNA aus Kalifornien vermehrt sich selbstständig und durchläuft sogar eine Art Evolution. Durch kleine zufällige Änderungen verbessert oder verschlechtert sich ihre Vermehrungsfähigkeit. Und es dauert nicht lange, bis sich die verbesserten RNA-Moleküle durchgesetzt haben. Nach den Gesetzen der Biologie sind die RNA-Moleküle aus La Jolla, Kalifornien, somit künstliches Leben.