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Kunst kontrovers

Die Sammlerdynastie Grässlin hat in Sankt Georgen ein Museum eröffnet. Wie in einem erzkonservativen Teil Deutschlands mit modernen künstlerischen Provokationen umgegangen wird, muss sich zeigen. Das Konzept sei gedacht als "ein Beitrag zur Stimmungsverbesserung in der Stadt", sagt Thomas Grässlin.

Von Christian Gampert | 10.06.2006
    Es gibt in Sankt Georgen allerdings etwas, auch im öffentlichen Raum, das in anderen Städten vergleichbarer Größe völlig fehlt: Kunst. Denn die hier beheimatete Sammlerfamilie Grässlin hat moderne Malerei nicht nur in ihre Privathäuser, in ihre Wohnzimmer gehängt und die Sankt Georger dann dorthin eingeladen, sondern sie hat auch die Schaufenster leerstehender Geschäfte gemietet und dort Kunstwerke platziert. Statt zugeklebter Metzger-, Bäcker-, Schuh- oder Eisenwaren-Läden: Kunst, ungefähr 20 Mal. Das "süße Eck", ein ehemaliger Süßwarenladen, zeigte fünf Jahre lang Arbeiten von Martin Kippenberger, dann zog dort sinnigerweise ein Laden mit Tauch-Artikeln ein, nun veranstaltet der Maler Werner Büttner ein "Heimspiel" mit Fußballer-Porträts in Mannschaftsaufstellung.

    Wenn die Familie Grässlin jetzt in Sankt Georgen ein kleines Sammlermuseum eröffnet und es bescheiden "Kunstraum Grässlin" nennt, dann setzt sich dieses Wohnzimmer- und Schaufenster-Konzept dort fort: der Kölner Architekt Lukas Baumewerd hat mit kubischen Bungalow-Formen gespielt und einen hohen, klaren Rechtecksaal gebaut, daneben ein großes Depot, von dem Werke der Grässlin-Sammlung in alle Welt verliehen werden können (und das werden sie oft), davor ein kleiner Platz, auf dem zur Zeit eine Martin Kippenberger-Skulptur, der "transportable Lüftungsschacht für ein weltweites U-Bahnsystem" steht, und als Zentrum für Austausch und Veranstaltungen ein italienisch klares Café-Restaurant, das ebenfalls nach Kippenberger "Kippys" heißt. Dort hängen unter dem feinsinnigen Titel "Zunächst nicht gekaufte Bilder" dessen Arbeiten an der Wand.

    Ende der 1960er Jahre begann der gelernte Uhrmacher Dieter Grässlin mit seiner Frau, die Werke des deutschen Informel zu sammeln. Das war seine Art, sich mit der Nazizeit auseinanderzusetzen, die Deutschland von der künstlerischen Moderne abgeschnitten hatte. Grässlin besaß damals schon eine florierende Firma für Zeitschaltuhren, seine vier Kinder machten daraus einen Handel mit technischen Kunststoffen - und begannen, Künstler ihrer eigenen Generation zu sammeln. Grässlin-Sohn Thomas, der heute den Gesamtbetrieb leitet, besuchte mit drei weiteren Kuratoren 1979 500 Künstler-Ateliers in ganz Europa – 120 Künstler wurden dann in Stuttgart ausgestellt.


    Wer einen solchen Überblick hat, der weiß dann auch, welches die lohnenden Handschriften sind. Die vier Geschwister sind ihre eigenen Kuratoren und sammeln wenige, aber eben wichtige Gegenwartskünstler - und sie begleiten sie dann auch. Der exzentrische Martin Kippenberger, fürwahr kein einfacher Mensch, fand bei ihnen im Schwarzwald Unterschlupf und Familienanschluss – zuerst 1981, als er von Berliner Punks verprügelt worden war und dann das Mullbinden-dominierte Selbstporträt "Dialog mit der Jugend" fertigte. In den 1990er Jahren arbeitete er noch mal drei Jahre in Sankt Georgen.

    Für die Eröffnungsausstellung haben die Grässlins nun wild gestische und zum Teil collagierte Großformate von Albert Oehlen aus allen Schaffensphasen, Kippenbergers "Fliegenden Tanga" und, als amerikanische Position, zwei Skulpturen von Mike Kelley gewählt. All diesen Werken gemeinsam ist die radikale Ironie, mit der hier auf Gesellschaft geblickt wird: bei Kippenberger und Oehlen sowieso, Kelley baute für die documenta 1972 einen reichianischen Orgon-Kasten, in dem die gestaute sexuelle Energie abfließen sollte, und füllte das Innere mit verschmuddelten Kleenex-Tüchern - jetzt zu sehen in Sankt Georgen.

    Wie hier, in einem erzkonservativen Teil Deutschlands, mit solchen künstlerischen Provokationen umgegangen wird, muss sich nun im Langzeitexperiment erweisen. Manche Bürger motzen, aber die Grässlins sind beliebt. Schüler des örtlichen Gymnasiums werden demnächst durch die Ausstellung führen. Das ganze Kunstkonzept sei, so sagt Thomas Grässlin, "ein Beitrag zur Stimmungsverbesserung in der Stadt". Zur Nachahmung empfohlen!