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Kunst von Marc-Antoine Mathieu
Comics wie David-Lynch-Filme

Kafkaesk – so lassen sich die abgründigen Comics von Marc-Antoine Mathieu aus Angers beschreiben. Eine Ausstellung in Frankfurt macht nun seine Werke aus 30 Jahren für Besucher tatsächlich begehbar - ein fantastisches, unendlich belesen und reflektiert wirkendes Universum.

Von Peter Backof | 02.06.2017
    Eine Comic-Installation des französischen Comic-Künstlers Marc-Antoine Mathieu aus seinem ersten Werk "Der Ursprung (1990)" im Museum für Angewandte Kunst (MAK) in Frankfurt am Main
    Eine Comic-Installation des französischen Comic-Künstlers Marc-Antoine Mathieu aus seinem ersten Werk "Der Ursprung (1990)" im Museum für Angewandte Kunst (MAK) in Frankfurt am Main (dpa/picture alliance/Arne Dedert)
    Schwarzweiß, mit extremen Kontrasten wie auf einem Schachbrett, zeichnet Marc-Antoine Mathieu aus Angers an der französischen Westküste, gar nicht so weit weg von Klassisch-Hinkelsteinland. Was er, seit 30 Jahren mittlerweile, ins Werk setzt, dreht das Genre – Comic – komplett über Kreuz. David Beikirch, Kurator des Museums für Angewandte Kunst in Frankfurt macht es buchstäblich plastisch, als Comic, den man betreten kann:
    "Wenn man sich jetzt für wissenschaftliche Fragen interessiert, zum Beispiel für Kybernetik oder Quantenphysik – ist man ganz schnell dabei. Das steckt natürlich drin."
    So eine typische Zeichnung von Marc-Antoine Mathieu besteht aus lauter Pfeilen, Verkehrsschildern ohne Beschriftung – wie man auch überhaupt für diese Ausstellung nicht unbedingt Französischkenntnisse braucht. Die Pfeile zeigen in alle Richtungen. Man ist in einem Milieu wie bei einem Experiment in der Atomphysik: Die Materie wird unscharf. Kein Elektron, keine gezeichnete Figur und auch kein Ausstellungsbesucher erfährt, wo es lang geht.
    "Wir sehen diese Durchgänge um uns herum. Wenn wir jetzt im Innenraum sind, den wir dem Comic 'Sens' gewidmet haben, erscheinen die Durchgänge in den äußeren Ringen wie Eingänge in diese von hier aus dunkler erscheinenden Bereiche."
    Sämtliche Perspektiven werden durchexerziert
    Die brutalistische Innenarchitektur ist wie gemacht für die Schau - aus Pfeilen, anonymen Endlos-Architekturen und ratlosen Menschen, mal 2-D, mal 3-D. Mathieus Zeichnungen sind als Labyrinth inszeniert, zu Skulpturen ausgeformt und in Videoanimationen verarbeitet. Sämtliche Perspektiven werden durchexerziert. Vom Strip wie aus dem gedruckten Heft, über die Zeichnung, die man mit 3-D-Brille erlebt, bis hin zur Geschichte, die - zur Endlosschleife gefaltet - als Mobile im Raum hängt "Die Verschiebung" heißt einer der Plots. David Beikirch liest vor:
    "Den Protagonisten hat es auf einem rasenden Bett aus der Geschichte herauskatapultiert. Und die Nebenfiguren stehen jetzt da und fragen sich: Wohin ist er entschwunden? - Durch die Zeitmauer? - Hmmh – dann werden wir ihn nicht wiedersehen."
    Diese Buchstaben regnet es, hinein in die Sprechblasen. Schatten werfen Menschen – und nicht andersherum. Menschengroße Comicbücher sind aufgeklappt, haben spiral-förmige Löcher, die auf andere Löcher blicken lassen, die wiederum Löcher haben. Es ist kompliziert!
    "Und würde außerhalb der Zeit die Zeit stehenbleiben? - Oh, um diese Frage zu beantworten, bräuchte es Zeit! - Alles schön und gut. Aber das verrät uns nicht, wo wir sind. Wir sind vermutlich im Hypernichts. Eine Art Nichts hoch nichts.
    Keine linearen Bildgeschichten
    "Hyperraum und Infrawirklichkeit" heißt dieses Kapitel der Schau, die in enger Zusammenarbeit mit Marc-Antoine Mathieu entstanden ist. 1959 geboren, erinnert er äußerlich an Pierre Brice, kommt - wahrscheinlich - zur Eröffnung der Schau und lässt sein Werk ohne Vorab-Interview für deutsche Journalisten für sich selbst stehen. Nur konsequent, in einer Ausstellung, die keine Richtung anzeigt und in der er ohnehin nicht jeden Tag den Lotsen geben kann. Umso mehr fragt man sich: Wie kam er zu seinem fantastischen, unendlich belesen und reflektiert wirkenden Universum in der Nussschale?
    "Ich denke, Philosoph ist ein Begriff, den man für Mathieu nur von sehr weit außen anwenden kann, wenn das ein produktiver Begriff sein soll. Er versteht sich gar nicht als Philosoph. Ich habe mehrfach mit ihm gesprochen und da hat er immer bestätigt, dass es ihm vor allem darum geht, zu spielen, zu experimentieren. Und dass er die größte Angst davor hat, sich zu langweilen." (schmunzelt)
    Mit Bildgeschichten, die linear und Kästchen für Kästchen einen Plot abhandeln, hat das gar nichts mehr zu tun. Eher schon mit verschachteltem Storytelling vom historischen "Tristram Shandy" bis zu "House of Leaves" von Mark Z. Danielewski aus dem 21. Jahrhundert: Meta-Literatur - wird in dieser Schau zu: Meta-Comic.
    "Die Filme von David Lynch, die sind schon mal in Zusammenhang mit seinem Werk genannt worden; die kann man anführen. Es ist grandios, zu schauen, wie sich Medientheoretiker verbiegen müssen, Modelle zu entwickeln, die diese Comics gut beschreiben."
    Na, wenn das kein Argument ist, sie zu entdecken!