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Lammert fordert mehr Rechte für die Opposition

Bundestagspräsident Norbert Lammert hat sich dafür ausgeprochen, die Rechte der Opposition im Parlament zu stärken. Es müsse sichergestellt werden, dass die Einberufung des Bundestages von der Opposition erzwungen werden könne, sagte Lammert.

Moderation: Jacqueline Boysen |
    Jacqueline Boysen: Herr Lammert, Sie haben uns am vergangenen Mittwoch, am 3. Oktober, auf der Feier in Schwerin die Erfolgsgeschichte der Einheit vor Augen geführt. Sie haben auch die Schattenseiten erwähnt. Sie haben den vormaligen Bundespräsidenten zitiert – Richard von Weizsäcker, der uns 1990 schon zum Teilenlernen aufforderte. Was ist das, was wir heute teilen sollen, um die sich zersplitternde Gesellschaft zusammenzuführen und um Gräben zuzuschütten?

    Norbert Lammert: Nach meiner Überzeugung muss diese Bereitschaft zwei ganz unterschiedliche Aspekte umfassen. Der eine ist ökonomisch, die Bereitschaft, bei unterschiedlicher Leistungsfähigkeit der Landesteile in den einen Bereichen erzielte Ergebnisse auch in anderen Teilen verfügbar zu machen, was ganz praktisch und banal bedeutet, dass wir jetzt seit der Wiederherstellung der deutschen Einheit und für weitere vereinbarte zwölf Jahre bis zum Jahr 2019 einen beachtlichen hohen Milliardentransfer von im Westen erwirtschafteten Mitteln in den Osten haben. Aber die Bereitschaft, durch Teilen Vereinigung möglich zu machen, muss auch jenseits aller ökonomischen Notwendigkeiten die Bereitschaft einbeziehen, sich aufeinander einzulassen, die unterschiedlichen Erfahrungen und Geschichten miteinander zu teilen. Ich habe in meiner Rede ja auch darauf hingewiesen, dass wir beispielsweise mit Blick auf statistische Daten heute immer häufiger sehr ähnliche Situationen, ähnliche Probleme und ähnliche Interessen zwischen ostdeutschen und westdeutschen Städten haben. Aber sie haben eine ganz unterschiedliche Geschichte. Und die Menschen, die dort leben, vor allen Dingen wenn sie dort aufgewachsen sind und geblieben sind, was ja keineswegs für alle zutrifft, haben sie insbesondere. Und dieser, jenseits aller Ökonomie für die mentale Befindlichkeit eines Landes ganz wichtige Vorgang, der ist vielleicht ein bisschen unterbelichtet geblieben.

    Boysen: Psychologen stellen heute immer noch fest, dass es sozusagen keine deutsch-deutsche Harmonie gibt. Wir sind jetzt auch nicht für Streitsucht bekannt in diesem Land, aber dieses, was Sie Verständnis füreinander nennen, ist nicht eben hoch entwickelt. Was kann der Beitrag der Politik dazu sein, da verbindend zu wirken? Oder ist das vielleicht gar keine politische Aufgabe?

    Lammert: Sicher nicht nur, aber gewiss auch. Man sollte solche Befunde allerdings auch nicht dramatisieren. Ich habe mich aus gutem Grunde ja auch gegen die Neigung gewandt, Einheit mit Einheitlichkeit zu verwechseln. Und die Vorstellung, man könne und müsse die innere Einheit Deutschlands vollenden, halte ich aus vielerlei Gründen für geradezu monströs, offenkundig wirklichkeitsfremd. Und wenn Sie von nicht völliger Harmonie gesprochen haben, dann erlaube ich mir den Hinweis, dass es völlige Harmonie zwischen Rheinländern und Westfalen, zwischen Franken und Schwaben und vielen anderen Landsmannschaften in Deutschland auch nicht gibt. Und von der sozusagen manchmal auch "gepflegten" Rivalität lebt auch ein Teil der Lebendigkeit und manchmal auch der Dynamik der Beziehungen.

    Boysen: Es kommt ja auch nicht von ungefähr, dass wir in einem föderalen Staat leben, wir haben vielleicht auch einen mentalen Föderalismus zu ertragen oder mit dem zu leben. Ich würde auf etwas eingehen wollen, was Sie eben kurz angetippt haben und was sowohl den Bundespräsidenten wie auch die Kanzlerin in der vergangenen Woche explizit beschäftigt hat, nämlich die wachsenden Einkommensunterschiede – auch zwischen Ost und West, aber nicht alleine zwischen Ost und West – und der Verbindung, die es dann gibt zu den Bildungschancen, die abnehmen mit geringem Einkommen …

    Lammert: … da sehe ich übrigens, mit Verlaub, keine Ost-West-Problematik. Wir haben nach wie vor nicht identische Einkommens- und Gehaltsniveaus zwischen Ost und West, das ist wahr, aber dass die Einkommensdifferenzen größer würden, dafür ist mir ein statistischer Beleg nicht bekannt. Wir haben heute etwa eine durchschnittliche wirtschaftliche Leistungsfähigkeit gewissermaßen quer durch die Regionen und quer durch alle Branchen, die bei ungefähr drei Viertel der Westdeutschen liegt, und das Einkommens- und Gehaltsniveau liegt tendenziell über als unter dieser Relation.

    Boysen: Die Verbindung zwischen dem Einkommen der Eltern und den Bildungschancen der Kinder. Darauf würde ich gerne kommen.

    Lammert: Das ist wahr, was wiederum kein Ost-West-Problem ist …

    Boysen: … was kein Ost-West-Problem ist, auch die Befunde des Bildungssystems zeigen eher ein Nord-Süd- beziehungsweise ein Süd-Nord-Gefälle, um es präzise zu sagen. Das ist Befund, den wir seit langem kennen und Jahr für Jahr eigentlich immer wieder bestätigt bekommen. Sehen Sie da ausreichend Engagement, dagegen anzukämpfen, um diese Korrelation zwischen dem Bildungsstand der Eltern und dem Bildungsstand der Kinder aufzuknacken und eben auch Kindern, die benachteiligt sind, mehr Bildungschancen, größere Bildungschancen einzuräumen?

    Lammert: Da Sie mit Ihrem Hinweis leider recht haben, dass dieses Thema nicht neu ist, beantwortet sich die Frage, ob wir genug getan haben, leider von selbst. Wir haben offenkundig nicht genug getan. Und dass wir als eines der nicht nur technisch hoch entwickelten, sondern auch reichsten Länder dieser Welt gerade an dieser Stelle eine so erschreckend negative Korrelation haben zwischen Einkommensverhältnissen und Bildungschancen, das ist ein Zustand, den niemand auf sich beruhen lassen darf und bei dem die Bildungspolitik, aber auch alle Verantwortlichen im Bildungssystem, insbesondere aber auch die Elternhäuser selber gefordert sind. Ich kann Ihnen auch jetzt nicht mit einem Patentrezept dienen, aber ich erlaube mir den Hinweis, dass man sich manchmal vielleicht von den Ländern, die ja eine originäre Zuständigkeit für dieses Thema haben, einen ähnlichen Ehrgeiz in der Entwicklung innovativer Ansätze zur Behebung dieses Problems wünschen würde, wie sie ihn bei der Abgrenzung ihrer Zuständigkeiten gegenüber jeglichem, regelmäßig für unerwünscht gehaltenen Bundeseinfluss immer wieder an den Tag gelegt haben.

    Boysen: Herr Lammert, ich würde gerne den Blick noch einmal werfen auf unser Verhältnis zu unserer eigenen – bisweilen schwierigen – Geschichte. Sie haben in Ihrer Rede am 3. Oktober noch einmal die Trias "Einigkeit und Recht und Freiheit" in Erinnerung gerufen. Dieses Trio politisch-ethischer Ziele, das ist heute sicherlich so weit verwirklicht, wie nie zuvor in der deutschen Geschichte. Woran liegt es denn aber, dass diese Freiheit von so vielen Menschen in unserem Land offenbar gar nicht als solche empfunden wird, nicht als Freiheit zu gestalten, nicht beim Schopf gepackt wird, und die Teilhabe an politischen Prozessen dann auch gering ist – bis hin zu einer bisweilen ja beklagenswert niedrigen Wahlbeteiligung?

    Lammert: Ich habe am Mittwoch in meiner Rede darauf hingewiesen, dass es vielleicht eine besondere Begabung der Deutschen ist, Entwicklungen, Ereignisse, Sachverhalte, die man jahrzehntelang für nahezu ausgeschlossen gehalten hat, von dem Augenblick an, wo sie dennoch Wirklichkeit geworden sind, für eine schiere Selbstverständlichkeit zu halten. Und für die Freiheit gilt das ganz gewiss. Das, was wir haben und was wir täglich zur Verfügung haben, kommt uns im Laufe der Zeit, gerade wenn es nicht, und weil es nicht gefährdet ist, als schiere Selbstverständlichkeit vor. Von Henry Kissinger gibt es den schönen Satz: Von Zeit zu Zeit sollte man Dinge einmal unter dem Gesichtspunkt betrachten, wie viel sie einem wohl wert wären, wenn man sie nicht mehr hätte. Ich finde außerordentlich unerfreulich, dass sich in den vergangenen Jahren die Anstrengungen innerhalb des Bildungssystems aus guten Gründen auf die Verbesserung von technischen Kompetenzen konzentriert haben, dass aber geisteswissenschaftliche Unterrichtungen, kulturelle, doch in einem erstaunlichen, gelegentlich auch in einem erschreckenden Maße notleidend geworden sind. Wenn etwa Geschichtsunterricht nicht erteilt wird, Kunst- oder Musikunterricht manchmal jahrelang nicht erteilt wird, regt das fast niemanden auf, übrigens auch Elternversammlungen regelmäßig nicht.

    Boysen: Was kann man denn tun, um da die Defizite zu beheben, nicht allein vielleicht den Unterrichtsausfall zu bekämpfen?

    Lammert: Das beginnt natürlich schon mit diesen ganz praktischen und handfesten Dingen. Davon hängen für ganz konkrete junge Leute nachhaltige Folgen für ihr Welt- und Geschichtsbild zusammen. Und deswegen sind es eben diese Punkte, die wir stärker in den Blick nehmen müssen und nicht nur die ganz großen symbolischen Gesten, die auch ihre Bedeutung haben. Ich selber habe ja den Vorschlag bekräftigt, dass wir in der Hauptstadt auch in einer geeigneten Weise an die Einheits- und Freiheitsgeschichte der Deutschen erinnern sollten und nicht nur an die leider auch zahlreichen schrecklichen Ereignisse der deutschen Geschichte. Aber auch das ist schon eine Frage gewissermaßen des Selbstverständnisses und des Selbstbewusstseins einer Nation, ob man die Geschichte des eigenen Landes auf die Fehlentwicklungen reduziert oder reduzieren lässt oder ob man die Balance findet in der Vermittlung des einen wie des anderen.

    Boysen: Wir haben ja in Berlin eine Art Denkmalinflation. Und wir streiten auch gern über diese Monumente, die diversen Erinnerungsorte oder Kunstwerke. Wir errichten die Hülle des Stadtschlosses der Hohenzollern wieder, wir haben andererseits gerade in der historischen Mitte Berlins die Mauer so weit geschliffen, dass Touristen einen da fragen: "Wo war sie denn nun eigentlich?" Was kann denn da ein Einheitsdenkmal wirklich konkret leisten? Kann es unserem angekränkelten National- oder Geschichtsbewusstsein wirklich auf die Sprünge helfen?

    Lammert: Die Frage kann man später sicher besser beantworten als vorher. Aber ich will den Zusammenhang gerne herstellen zu der Inflation von Denkmälern, die Sie gerade registriert haben. Im Übrigen: Ich bin nicht sicher, ob wir in Deutschland stärker dazu neigen als andere Länder, wichtige oder für wichtig gehaltene historische Ereignisse auch in Form von Denkmälern oder Erinnerungsstätten zum Ausdruck zu bringen. Wenn ich durch Paris gehe oder im Übrigen auch durch Washington, um zwei ganz unterschiedliche wichtige Hauptstädte von wichtigen Partnerländern zu nennen, dann stoße ich auch an jeder zweiten Ecke auf teilweise monumentale Verdeutlichungen für wichtig gehaltene historische Ereignisse. Wir haben offenkundig doch mit guten Gründen gerade auch in den letzten Jahrzehnten nicht nur in Berlin, aber insbesondere in Berlin, an wichtige Etappen der jüngeren deutschen Geschichte in Form von Mahnmalen, von Denkmälern, von Erinnerungsstätten, von Museen, von Geschichtsmuseen, von Häusern erinnert. Und wir würden es doch nicht tun, wenn wir nicht davon überzeugt wären, dass durch diese Art von Einrichtungen sowohl ein äußerer Eindruck unseres Bewusstseins der Bedeutung dieser Ereignisse gesetzt wird und gleichzeitig auch ein Beitrag zur Vermittlung der damals stattgefundenen Ereignisse geleistet werden kann. Wenn dies aber richtig und notwendig ist mit Blick auf die Verbrechen, die es in der deutschen Geschichte gegeben hat und insbesondere auch mit Blick auf die entsetzlichen Fehlentwicklungen, die mit zwei deutschen Diktaturen im 20. Jahrhundert verbunden gewesen sind, dann möchte ich mal einen einzigen vernünftigen Grund hören – und ich habe bisher keinen gehört –, warum es mit Blick auf solche Fehlentwicklungen solcher äußerer Zeichen bedarf und mit Blick auf gelungene Entwicklungen nicht.

    Boysen: Können Sie Ihre Phantasie spielen lassen und es sich ausmalen?

    Lammert: Das könnte ich vielleicht, will es aber bewusst nicht tun. Ich glaube, dass ein solcher Gedanke, wenn man sich auf ihn dem Grunde nach verständigt hat, reifen muss. Und das ist ja auch der Hintergrund offenkundig Ihrer Frage. Man muss sehr gründlich darüber nachdenken, wie man das zum Ausdruck bringen will. Und dazu ist sicher die Phantasie vieler Experten gefragt. Da sollte man sowohl im eigenen Land wie außerhalb des eigenen Landes Einfälle und Hinweise und Überlegungen einsammeln. Und dann muss am Ende in einem geordneten Verfahren eine Vereinbarung auf ein Konzept stattfinden, das dann anschließend auch einen architektonisch-künstlerischen Ausdruck finden muss.

    Boysen: Dann warten wir da ab. Herr Lammert, wir können eine Halbzeitbilanz der Legislaturperiode ziehen. Wir haben der Regierung nach der Hälfte der Legislaturperiode auf den Zahn gefühlt und nicht ganz so deutlich dem Bundestag. Sind Sie zufrieden mit Stil und Umgang im Parlament, haben Sie Veränderungen registriert und empfinden Sie einen gebührenden Respekt, der dem Bundestag gezollt wird?

    Lammert: Das waren jetzt sehr viele, sehr unterschiedliche Fragen, die man natürlich nicht pauschal beantworten kann. Was Stil und Umgangsformen angeht, habe ich keinen Anlass jedenfalls für ernstere Klagen. Es geht im Deutschen Bundestag in der Regel ernsthaft, gelegentlich etwas ruppig, manchmal auch durchaus locker zu. Aber ich kann nicht erkennen, dass es entweder eine dauerhafte Verbiesterung gäbe, die eine ordentliche Zusammenarbeit auch über die jeweiligen politischen Gruppierungen hinaus ausschlösse – übrigens sehr im Unterschied zu manchen anderen Parlamenten innerhalb und außerhalb Europas –, noch kann ich umgekehrt Anlass für Befürchtungen erkennen, es gäbe nicht hinreichenden Wettbewerb, nicht das notwendige Maß an konstruktiver Rivalität, das ein lebendiges demokratisches System braucht. Was im Übrigen im wörtlichen Sinne die Umgangsformen betrifft, kann ich mich als einer derjenigen, die ja jetzt besonders lange schon dem Bundestag angehören, an ganz andere Zeiten erinnern, bei denen es sehr viel lebhafter, lautstärker, auch ruppiger zugegangen ist, als das in den letzten Jahren zu beobachten war.

    Boysen: Wir hatten schon mal eine Große Koalition, und einer Ihrer Vorgänger im Amt des Bundestagspräsidenten, Eugen Gerstenmaier, der auch eben während dieser Großen Koalition amtierte, der hat seinerzeit die Große Anfrage und die Aktuelle Stunde eingeführt und damit allen im Parlament vertretenen Gruppen mehr Stimme geben wollen sozusagen und eben nicht nur den großen. Heute die Situation ist nicht ganz vergleichbar, und auch die Medienwelt ist heute natürlich eine ganz andere, aber sehen Sie die Notwendigkeit oder auch die Möglichkeit, die Opposition heute im parlamentarischen Leben zu stärken oder stärken zu müssen?

    Lammert: Ich persönlich bin der Meinung, dass unser System von Regelungen im Großen und Ganzen sehr gut gelungen ist und auch für sehr unterschiedliche politische Konstellationen seine Tauglichkeit bewiesen hat. Es wird im Übrigen international mit einer bemerkenswerten Regelmäßigkeit als Modell für eine scheinbar perfekte Geschäftsordnung, gerade auch mit Blick auf das Verhältnis von Mehrheitsrechten und Minderheitsrechten betrachtet. Dennoch sehe ich an drei Punkten Anlass, in Ruhe darüber nachzudenken, ob man hier nicht einen Beitrag zur Stärkung der Opposition leisten müsste. Das betrifft zum einen die Einberufung von Sitzungen des Deutschen Bundestages. Nach meinem Verständnis von Parlamentarismus muss sichergestellt sein, dass die Einberufung des Bundestages von der Opposition erzwungen werden kann, und zwar völlig gleichgültig, wie klein die Opposition oder wie groß die Koalitionsfraktionen sind. Es kann nicht richtig sein, dass im Extremfall das Bedürfnis der Opposition, ein von ihr für wichtig gehaltenes Thema öffentlich in dem dafür zuständigen Verfassungsorgan, nämlich dem Deutschen Bundestag, zu erörtern, von einer Regierung oder den sie tragenden Koalitionsfraktionen blockiert werden könnte. Wir haben den Fall bisher übrigens in dieser Legislaturperiode nicht gehabt, aber er ist ja denkbar. Und für einen solchen Fall, finde ich, sollte es eine Regelung geben, die der Opposition ein solches "Erzwingungsrecht" – nenne ich es jetzt mal in Anführungszeichen – gibt. Ein zweiter Punkt, über den es sicher nachzudenken lohnt, betrifft die sogenannten Normenkontrollverfahren beim Bundesverfassungsgericht. Da geht es um die Frage, wer eigentlich die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes überprüfen lassen darf, das formal korrekt in Bundestag und Bundesrat zustande gekommen ist. Da haben wir heute zahlenmäßig relativ hohe Hürden, die in der konkreten Situation, die wir jetzt haben, dazu führt, dass eigentlich am Ende nur noch der Bundespräsident faktisch eigene Zweifel in der Weise zur Geltung bringen kann, dass dies zu einer Überprüfung oder zu einem Nichtinkrafttreten des Gesetzes führt. Diesen Zustand findet aber nun wiederum niemand außerordentlich gelungen. Also gibt es hier Anlass, darüber nachzudenken, ob man das nicht ebenfalls etwas eleganter regeln könnte.

    Boysen: Sie sprechen über Regularien. Ich würde gerne von Ihnen wissen, ob Sie zufrieden sind mit der jetzt neu geregelten Veröffentlichung der Nebeneinkünfte der Bundestagsabgeordneten.

    Lammert: Die Aufregung, die es im Zusammenhang mit diesem Regelwerk gegeben hat, hat sich in den letzten Wochen doch sehr beruhigt. Offenkundig haben sich weder all die Hoffnungen bestätigt, die manche mit diesen Regelungen verbunden haben, noch all die Befürchtungen, die andere damit nun wiederum verbunden haben. Ich selber habe ja empfohlen, dass man nun auch mal ein bisschen gewissermaßen wechselseitig eine Ausnüchterung sich zubilligt und mit einem gewissen zeitlichen Abstand sich vielleicht dann noch mal mit einem ruhigen zweiten Blick über dieses Regelwerk beugt. Denn das da, was die Abgrenzung und die Zweckmäßigkeit von Auskünften und Festlegungen angeht, Verbesserungen möglich und vielleicht an manchen Stellen auch notwendig sind, darüber, scheint mir, gibt es eigentlich einen relativ breiten Konsens.

    Boysen: Wir haben noch die laufenden Ermittlungen gegen Journalisten wegen angeblicher Beihilfe zum Geheimnisverrat. Auch um diese Geschichte ist es etwas ruhiger geworden. Ich würde gerne Sie fragen, was für Konsequenzen man eigentlich aus einer solchen Geschichte ziehen kann. Soll das nicht bedeuten, dass man eigentlich die Kompetenzen langfristig gesehen des Untersuchungsausschusses stärken sollte, ihm vielleicht auch richterliche Kompetenzen zubilligen?

    Lammert: Ich persönlich kann aus den Abläufen der letzten Wochen und Monate und schon gar aus den Erfahrungen, die wir mit vergleichbaren Fällen auch in früheren Jahren gewonnen haben, nicht erkennen, dass wir veränderte rechtliche Rahmenbedingungen brauchten. Was die Möglichkeiten und Grenzen auch von journalistischer Recherche angeht, ist eigentlich spätestens durch das Cicero-Urteil des Bundesverfassungsgerichtes das, was es an vermeintlichen Unklarheiten in der Rechtslage gegeben haben mag, ausgeräumt. Den Untersuchungsausschüssen über die Kompetenzen hinaus, über die er ja bereits verfügt und die im Übrigen ja teilweise bereits in die Nähe von richterlichen Kompetenzen gehen, was etwa die Vereidigungsmöglichkeit von Zeugen angeht, die ja andere Fachausschüsse des Deutschen Bundestages nicht haben, auch dafür kann ich eigentlich keine Dringlichkeit erkennen.

    Boysen: Wir haben sehr oft in der Vergangenheit Gesetzgebungsverfahren, die sich gar nicht mehr im Parlament abspielen, wir haben ganz viele Entwürfe aus der Regierung, und wir haben ganz oft Entscheidungen vom Bundesverfassungsgericht, die in die Gesetzgebungsverfahren leitend eingreifen. Ist das eine wünschenswerte Entwicklung? Bräuchten wir nicht eigentlich viel mehr Mut zur Gesetzgebung im Parlament selbst?

    Lammert: Es liegt in der Logik eines parlamentarischen Regierungssystems, in dem eine Regierung vom Parlament bestellt und kontrolliert und notfalls auch abgewählt wird, dass es eine enge Verbindung zwischen einer die Regierung tragenden Mehrheit des Parlaments gibt und der damit dann verbundenen Gesetzgebungsarbeit des Parlaments, die wesentlich auf Initiativen der Bundesregierung beruht. Und ich kann überhaupt keine signifikanten Unterschied erkennen zwischen der Verteilung von Gesetzgebungsinitiativen, zwischen Regierung auf der einen Seite und rein parlamentarischen Initiativen auf der anderen Seite.

    Boysen: Wir haben natürlich noch einen Spieler vergessen, die EU. Natürlich kommen auch ganz viele Vorgaben inzwischen aus Brüssel.

    Lammert: Das ist wahr. Also, das ist in der Tat eine Entwicklung, die Deutschland und alle anderen Mitgliedsstaaten betrifft, die im Übrigen aber nicht wie ein Naturereignis über uns gekommen ist, sondern die Folge unserer eigenen politischen Entscheidung, dass wir eine Reihe und im Ergebnis immer mehr Aufgaben nicht mehr national wahrnehmen wollen, sondern europäisch wahrnehmen wollen. Und daraus ergibt sich die Notwendigkeit, bei Abtretung von Zuständigkeiten an die Europäische Gemeinschaft dann dort zustande kommendes oder gekommenes Gemeinschaftsrecht auch national umzusetzen. Dazu haben wir im Übrigen ja in dem Verfassungsvertragswerk, das sich jetzt hoffentlich in seiner Endphase befindet . . .

    Boysen: Sie sagen noch Verfassung?

    Lammert: Na ja, dass es sich im Ergebnis um einen Verfassungsvertrag handelt, ist ja eigentlich nicht ernsthaft umstritten. Ob man den so nennt, ist vor und nach den Vereinbarungen von Berlin, glaube ich, eher zweitrangig. Jedenfalls in diesem Grundlagenvertrag, der da jetzt hoffentlich zustande kommt, wird aus guten Gründen die Rolle des europäischen Parlaments, aber auch die Rolle der nationalen Parlamente gegenüber dem Status quo gestärkt. Und das hat genau mit dem Aspekt zu tun, den Sie gerade angesprochen haben, dass der Anteil der europäischen Entscheidungen für die nationale Gesetzgebung gewachsen ist. Und dann muss man sicherstellen, dass Entscheidungen, die außerhalb der Nationalstaaten in der Gemeinschaft mit Wirkung für alle herbei geführt werden, der gleichen parlamentarischen Legitimation unterliegen, wie wir das für nationale Gesetzgebung für schlicht selbstverständlich halten.

    Boysen: Herr Lammert, wir haben geredet über verschiedene Gewalten und Mächte in diesem Land. Wir haben noch nicht richtig gesprochen über die vierte Gewalt. Sie sind Opfer einer Art Fehde mit der "Bild"-Zeitung. Die "Bild"-Zeitung kommt immer wieder mit Geschichten, bei denen man sich inzwischen schon fragt, ob sie gegen Ihre Person gerichtet sind. Was würden Sie sich wünschen für den Rest Ihrer Legislaturperiode im Umgang mit der Presse, wenn man bedenkt, dass dieses eigentlich die vierte Gewalt im Staat ist.

    Lammert: Wenn überhaupt würde ich mir wünschen, dass dies nicht als Zusatzfrage am Ende eines längeren Interviews behandelt werden müsste, wo wir erkennbar die Zeit nicht mehr haben, die für die notwendige Differenzierung gebraucht wird. Aber das, was ich in diesem Zusammenhang wirklich für dringend diskussionsbedürftig halte, und zwar auf Seiten der Medien mindestens so sehr wie auf Seiten der Politik, hat überhaupt nichts mit einer vermeintlichen Privatfehde zwischen bestimmten Leuten und bestimmten Zeitungen zu tun, sondern es hat etwas mit einer Entwicklung der Medien zu tun, die ich in der Tendenz eher besorgniserregend finde: Die zunehmende Verdrängung von Information durch Unterhaltung, die zunehmende Dominanz von Bildern gegenüber Texten, und im Übrigen aufgrund einer ganz offenkundig ja auch im Medienbereich gnadenlosen Wettbewerbslage den Vorrang der Schnelligkeit gegenüber der Gründlichkeit, was sich wiederum für Unterhaltungsbedürfnisse eher verkraften lässt als für die Informationsaufgaben, die die Medien eigentlich als ihre ureigene klassische, von niemandem sonst mit vergleichbarer Ernsthaftigkeit wahrzunehmende Aufgabe halten sollten.