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Lautstarker Auftakt

Das Theaterfestival Avignon hat bereits vor der Eröffnungspremiere mit Jan Fabres Tanztheater "L'Histoire des Larmes", "Die Geschichte der Tränen" für Aufsehen gesorgt. Festivalmitarbeiter protestierten lautstark gegen den anwesenden Kulturminister, das Publikum gegen die Demonstranten nieder gebuht, bis schließlich im ersten Bild Fabres Tänzer alle anderen nieder heulten. Ein Sieg der Kunst?

Von Eberhard Spreng |
    Nackte Leiber stehen verkrümmt auf der Bühne des Papstpalastes, Männer und Frauen, die zwischen die Schenkel, unter die Arme und unter das Kinn große Glasbehälter geklemmt halten, Amphoren, Phiolen, Flaschen und Schalen, Behältnisse für Flüssigkeiten. In diese Skulpturen aus Glas und Körper hat Jan Fabre - mit fast schon unverschämt nahe liegender Metaphorik den Körper der Menschen und die Grundsymbolik seines neuen Stückes zusammengespannt, zusammengekrampft: Der Mensch ist ein Flüssigkeitsbehälter und besteht zu 3/4 aus Wasser. Jan Fabre will auch dieses mal wieder für die wahre menschliche Materie ein richtiges Weltbild stiften und beauftragt einen "Ritter der Verzweiflung" mit dem einsamen Kampf für die Versöhnung von Mensch und Mythos. In einem gotischen Fenster hoch über der Bühne steht derweil reglos eine Frauengestalt. Es ist Niobé, die die Götter einst für ihren allzu großen Stolz bestraften, indem sie sie zu Fels erstarren ließen. Ihr, dem nunmehr starren Gegenbegriff für die Verflüssigung bleiben Tränen nur als Kultur der Trauer, als harfenbegleitete Lamentation.

    Wieder stehen bei Jan Fabre die Symbole und Allegorien wie unverletzliche Urwesen im szenischen Bild, markieren die Antipoden eines gewaltigen Spannungsfeldes. Aber schöner als im großen Format und mit großer Compagnie hat Fabre in seinem, in einer Ausstellung gezeigten neuen Film "Lancelot" von Fusionen und Körpertransformationen erzählt: Er wird zu einem seiner "Warriors of Beauty", einem Krieger der Schönheit.

    Das horizontal kriechende mit Außenpanzer geschützte Insekt und der aufrecht gehende, wirbelgestützte Mensch werden hier in diesem Ritter, der ständig gegen das Fallen ankämpft, zu eine hybriden Wesen.

    Dieser Film zeigt in der Figur des Lancelot auch die des Künstlers, der mit sich selbst im Kampf liegt. Er kämpft gegen einen unsichtbaren Friedhof. Aber auch mein Ritter der Verzweiflung aus der "Histoire des Larmes" ist eine Künstlerfigur. Als Künstler ist Verzweiflung das normale Lebensgefühl. Aber im tiefsten schwarz ist auch das schönste Rosa angelegt. In der Verzweiflung liegt auch das Prinzip Hoffnung. Es gibt eine Verbindung zwischen dem Scheitern und dem Hoffen, dass man für die äußere Welt eine Verbesserung stiften kann.

    Die Schöpfung bleibt ein Problem, der Mensch bleibt aufgefordert, seine wahre Gestalt zu erkennen, und der Künstler ist Vorreiter, Vordenker, Vormacher bei dieser Aufgabe. In Fabres hybriden Rittern sind natürlich immer auch Erlöserfiguren angelegt, eine Fusion aus Neuem Testament und Don Quichotte, also aus Politik für Massen und dem individuellen Bekenntnis zur Lächerlichkeit. Wo Fabres Materialismus den Körper befreit von falscher Fremdherrschaft, da geht Jacques Delcuvelleries "Anathème", nach den Erfahrungen der Genozide in Ruanda und anderen Orten der Erde, zum christlich-jüdischen Gründungstext zurück und spürt im alten Testament die zahllosen Passagen auf, in denen Massenmord entweder Gotteswerk ist, oder auf dessen ausdrücklichen Befehl hin vom erwählten Volk exekutiert wird.

    Jacques Delcuvellerie hatte betont, dass die Art und Weise, mit der in Ruanda der Völkermord an den Tutsis ausgeführt wurde, mit der intensiven Christianisierung des afrikanischen Landes zusammenhängt - Das alte Testament: eine Matrix für die Wiederkehr des Horrors? Im Zölestinerkloster lässt der Regisseur die alten Texte von eine Gruppe von Sprechern lesen, wie ein Oratorium, während Menschen von heute, jung und alt und einer nach dem anderen in eine Öffnung im Bühnenhintergrund treten, sich entkleiden und in Reihen in ein hell erleuchtetes Karree treten, mit dem stummen Blick ins Publikum. Hier will keiner mehr Richter sein, hier dröhnen nach mehr als zweieinhalb Stunden nur die Ohren von Worten wie durch das Schwert umkommen, verderben, vernichten. Jetzt, wo allenthalben und unter anderem durch die Wiederkehr des Katholiken Paul Claudel religiöse, christliche Motive eine Rückkehr auf Frankreichs Bühnen gefunden haben, zeigt uns Delcuvellerie, in einem eminent politischen Theater, noch einmal einen gerne verdrängten barbarischen Urstoff aus dem eigenen westlichen Bücherregal.

    Solchermaßen geläutert, schaut man in der "Chapelle des Penitents Blanc" gerne Jan Decorte bei einer ironischen Gottesaustreibung zu. In dieser kleinen, fensterlosen, finsteren, gotischen Kirche hat der in Frankreich und Deutschland weitgehend unbekannte Alt-Performer, der in der belgischen Szene seit den 80er Jahren zu einer Kulturfigur geworden ist, sein "Dieu et les Esprits Vivants" eingerichtet. Er steht nackt an einem Wasserbottich und wäscht sich ausführlich mit einem Waschlappen, bevor er sich einen grauen Mönchmantel überstreift. Er ist "Sangloupdiable" also "Blutwolfteufel" und stampft zu Rockklängen tumb über die Bühne, wenn nicht seine Lebenspartnerin Sigrid Vinks als "Souffle Souffleur", also "Hauch - Souffleuse" die lose verbundenen Texte des Altmeisters spricht. Ein dumpfes Ritual ist "Dieu et les esprit vivants", bis ein kleines Tanzsolo der Starchoreografin Anne Teresa de Keersmaeker der verfinsterten kleinen Aufführung einen leuchtenden Moment verleiht. In seinen Kirchen und Klöstern und in seinem Papstpalast wird dieses flämische "Festival d'Avignon" auch in den nächsten Tagen die Gültigkeit der abendländischer Metaphysik befragen.