Im Jahr 1980 hat das Bundesverfassungsgericht eine Grundsatzentscheidung getroffen, an der seither keine Reform der Rentenversicherung vorbeikommt: Die höchsten Richter stellten die Rentenanwartschaften unter den Eigentumsschutz des Grundgesetzes. Damit erhielten die eingezahlten Rentenversicherungsbeiträge den gleichen Status wie etwa der persönliche Besitz von Grund und Boden. Wer allerdings auf die Entwicklung der letzten 26 Jahre zurückblickt, stellt fest, dass der tatsächliche Wert der erworbenen Rentenansprüche deutlich gesunken ist. Nach zahlreichen Reformen ist die Rente immer weniger in der Lage, im Alter den Lebensstandard zu sichern, und in Zukunft wird es nur noch für eine Grundsicherung reichen. - Ist dies nicht klar verfassungswidrig? Die Darmstädter Professorin Anne Lenze gibt in ihrem wissenschaftlich fundierten Buch "Staatsbürgerversicherung und Verfassung" eine klare Antwort:
" Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Eigentumsschutz hat im Wesentlichen dazu geführt, dass die Ansprüche der durchgängig versicherungspflichtig Beschäftigten in ihrem Bestand relativ geschützt sind. Ansonsten kann mit der Begründung, die Sozialversicherung zu konsolidieren, unter Einhaltung gewisser Übergangsregelungen alles gekürzt werden. Im Extremfall ließe sich der eigentumsrechtlich geschützte Kern der Rente so weit entwerten, dass die Mehrheit der Versicherten Renten kurz über der Sozialhilfegrenze erhält. "
Dieses Urteil ist für viele Bürger ernüchternd. In ihrer kürzlich vorgelegten Habilitationsschrift erörtert Lenze systematisch die verfassungsrechtlichen Möglichkeiten und Grenzen einer grundlegenden Rentenreform - und zwar der immer wieder ins Gespräch gebrachten Reform nach dem Vorbild der Schweiz. Dort zahlen alle Bürger in die Versicherung ein, ihr Beitrag erfasst alle Einkunftsarten und es gibt Mindest- und Höchstrenten, deren Abstand deutlich geringer als bei uns ist. In ihrem anspruchsvollen und doch verständlichen Buch kommt die Darmstädter Juristin zu dem Ergebnis, dass dieses Modell einer solidarischen Bürgerversicherung verfassungsrechtlichen Ansprüchen genügen kann, und zwar weil es dem Geist der Karlsruher Rechtsprechung in mehrfacher Hinsicht entspreche. Sie schreibt:
" Aus dem Wesen der Umlagefinanzierung ergibt sich die vorrangige staatliche Aufgabe, für eine funktionierende Solidargemeinschaft zu sorgen. Das bedeutet dass die Versicherungspflicht so ausgestaltet werden muss, dass alle aktiven und leistungsfähigen Mitglieder einer Gesellschaft ihren Beitrag zur Alterssicherung leisten, dass alle schutzbedürftigen Gruppen von ihr erfasst sind, dass die Entstehung von Arbeitsplätzen gefördert und dass Familiengründungen erleichtert werden müssen. Es ist klarzustellen, dass unabhängig von der grundgesetzlichen Eigentumsgarantie Leistungen an die Rentnergeneration nur in einer Höhe erfolgen können, in der sie den Beitragszahlern und dem Staatshaushalt nicht das "Wasser abgraben" und nicht ihrerseits sie die Vorraussetzungen einer funktionierenden Versichertengemeinschaft unterminieren. "
Auf den Punkt gebracht heißt das: Eine Bürgerversicherung kann zur Lösung gleich mehrerer Grundprobleme der aktuellen Alterssicherung beitragen: Sie löst das Problem der stetig wachsenden Beitragslast durch die Massenerwerbslosigkeit, sie regelt den notwendigen Ausgleich zwischen Starken und Schwachen, sie geht die unverzichtbare Umverteilung zwischen Kinderlosen und Familien an, sie sorgt für die Besserstellung von Frauen gegenüber Männern und eine gerechte Lastenverteilung zwischen der jungen und der alten Generation.
Jeden dieser Problembereiche analysiert Anna Lenze in ihrem 500-Seiten Werk zunächst akribisch. Anschließend bewertet sie bereits praktizierte und dann mögliche Lösungen anhand der von ihr herausdestillierten verfassungsrechtlichen Kriterien. Beispielsweise den politisch betriebenen Ausbau der privaten Altersvorsorge auf Kosten der bestehenden Sozialversicherung. Nüchtern stellt sie klar, dass in einem Privatsystem die sozialstaatlichen Verfassungsprinzipien "Gleichheit" und "Gerechtigkeit" keinen Platz mehr haben. Damit würde eine wachsende Ungleichheit der Bürger im Alter billigend in Kauf genommen. Darüber hinaus weist die Juristin noch auf ein nicht diskutiertes Risiko der Kapitalrenten hin:
" Zwar kann es im Rahmen der kapitalfundierten Alterssicherung nicht mehr zu einem nationalen Generationenkonflikt kommen, jedoch sehr wohl zu ernsthaften Konflikten zwischen den mächtigen Pensionsfonds der ersten Welt und den Beschäftigten der zweiten und dritten Welt. Obwohl einerseits bezweifelt wird, dass die jungen Menschen in den westlichen Gesellschaften bereit sein werden, die wachsende Gruppe der alten Menschen zu alimentieren, wird andererseits wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass die bevölkerungsstarken Gesellschaften der unterentwickelten Länder für die Sicherung der überalterten Staaten des Westens einstehen werden. "
Nicht weniger bedenkenswert ist Anne Lenzens umsichtige Aufarbeitung einer gesellschaftspolitisch hochbrisanten Streitfrage - der Frage nach der "Gerechtigkeit zwischen Eltern und Kinderlosen". Zunächst geht sie den vielfältigen Ursachen dafür nach, warum Kinder hierzulande zum Armutsrisiko Nummer eins für ihre Eltern geworden sind. Danach stellt sie die familienspezifische Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes seit den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts dar. Sie zeigt auf, dass die Richter mit zunehmender Entschiedenheit und wachsender Ungeduld auf durchgreifende Verbesserungen für Familien dringen. Vorläufiger Höhepunkt sei das "Familien"-Pflegeurteil aus dem Jahr 2001. In ihm formulieren die Richter erstmals den Grundsatz der Gleichwertigkeit von Kindererziehungsleistung und eingezahlten Beiträgen für das Funktionieren aller sozialen Alterssicherungssysteme. Bislang, so die Richter, würde dieser Grundsatz im Sozialversicherungsrecht missachtet. Daraus ergebe sich eine systematische Bevorzugung kinderloser Beitragszahler. Anne Lenze weist nach, dass sowohl die maßgeblichen Fachleute als auch die Regierung die unmissverständlichen höchstrichterlichen Vorgaben bisher faktisch boykottieren - gerade im Rentenrecht. Damit würden große Teile der Bevölkerung - auch zu ihrem eigenen Schaden - in einer krassen Fehleinschätzung bestärkt:
" Da davon auszugehen ist, dass jeder Erwachsene den Zusammenhang zwischen seinem eigenen reproduktiven Verhalten und der Sicherheit der künftigen Renten herstellen kann, können sich kinderlose oder kinderarme Versicherte nicht auf einen Vertrauensschutz aufgrund generativen Irrtums berufen. Die demographisch bedingten Rentenkürzungen sind zu einem großen Teil bei ihnen zu realisieren, ohne dass sie sich auf eine vertrauensgeschützte Kontinuität des tradierten Rentenversicherungssystems berufen können. Es kann keinen Vertrauensschutz für das geben, was man nicht erwarten kann. "
Fazit: Das fundierte Buch von Anne Lenze ist nicht nur Pflichtlektüre für Juristen. Es ist jedem dringend zu empfehlen, der die komplexen Ursachen der sich stetig verschärfenden Rentenkrise wirklich verstehen will und der nach umfassenden Lösungen sucht. Und zwar nach Lösungen, die unseren Sozialstaat - das Fundament unserer Demokratie - tatsächlich stärken und nicht bloß durch den sozialdarwinistischen Kapitalmarkt ersetzen sollen.
Anne Lenze: Staatsbürgerversicherung und Verfassung
Mohr Siebeck, Tübingen, 2005
570 Seiten, € 114,-
" Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Eigentumsschutz hat im Wesentlichen dazu geführt, dass die Ansprüche der durchgängig versicherungspflichtig Beschäftigten in ihrem Bestand relativ geschützt sind. Ansonsten kann mit der Begründung, die Sozialversicherung zu konsolidieren, unter Einhaltung gewisser Übergangsregelungen alles gekürzt werden. Im Extremfall ließe sich der eigentumsrechtlich geschützte Kern der Rente so weit entwerten, dass die Mehrheit der Versicherten Renten kurz über der Sozialhilfegrenze erhält. "
Dieses Urteil ist für viele Bürger ernüchternd. In ihrer kürzlich vorgelegten Habilitationsschrift erörtert Lenze systematisch die verfassungsrechtlichen Möglichkeiten und Grenzen einer grundlegenden Rentenreform - und zwar der immer wieder ins Gespräch gebrachten Reform nach dem Vorbild der Schweiz. Dort zahlen alle Bürger in die Versicherung ein, ihr Beitrag erfasst alle Einkunftsarten und es gibt Mindest- und Höchstrenten, deren Abstand deutlich geringer als bei uns ist. In ihrem anspruchsvollen und doch verständlichen Buch kommt die Darmstädter Juristin zu dem Ergebnis, dass dieses Modell einer solidarischen Bürgerversicherung verfassungsrechtlichen Ansprüchen genügen kann, und zwar weil es dem Geist der Karlsruher Rechtsprechung in mehrfacher Hinsicht entspreche. Sie schreibt:
" Aus dem Wesen der Umlagefinanzierung ergibt sich die vorrangige staatliche Aufgabe, für eine funktionierende Solidargemeinschaft zu sorgen. Das bedeutet dass die Versicherungspflicht so ausgestaltet werden muss, dass alle aktiven und leistungsfähigen Mitglieder einer Gesellschaft ihren Beitrag zur Alterssicherung leisten, dass alle schutzbedürftigen Gruppen von ihr erfasst sind, dass die Entstehung von Arbeitsplätzen gefördert und dass Familiengründungen erleichtert werden müssen. Es ist klarzustellen, dass unabhängig von der grundgesetzlichen Eigentumsgarantie Leistungen an die Rentnergeneration nur in einer Höhe erfolgen können, in der sie den Beitragszahlern und dem Staatshaushalt nicht das "Wasser abgraben" und nicht ihrerseits sie die Vorraussetzungen einer funktionierenden Versichertengemeinschaft unterminieren. "
Auf den Punkt gebracht heißt das: Eine Bürgerversicherung kann zur Lösung gleich mehrerer Grundprobleme der aktuellen Alterssicherung beitragen: Sie löst das Problem der stetig wachsenden Beitragslast durch die Massenerwerbslosigkeit, sie regelt den notwendigen Ausgleich zwischen Starken und Schwachen, sie geht die unverzichtbare Umverteilung zwischen Kinderlosen und Familien an, sie sorgt für die Besserstellung von Frauen gegenüber Männern und eine gerechte Lastenverteilung zwischen der jungen und der alten Generation.
Jeden dieser Problembereiche analysiert Anna Lenze in ihrem 500-Seiten Werk zunächst akribisch. Anschließend bewertet sie bereits praktizierte und dann mögliche Lösungen anhand der von ihr herausdestillierten verfassungsrechtlichen Kriterien. Beispielsweise den politisch betriebenen Ausbau der privaten Altersvorsorge auf Kosten der bestehenden Sozialversicherung. Nüchtern stellt sie klar, dass in einem Privatsystem die sozialstaatlichen Verfassungsprinzipien "Gleichheit" und "Gerechtigkeit" keinen Platz mehr haben. Damit würde eine wachsende Ungleichheit der Bürger im Alter billigend in Kauf genommen. Darüber hinaus weist die Juristin noch auf ein nicht diskutiertes Risiko der Kapitalrenten hin:
" Zwar kann es im Rahmen der kapitalfundierten Alterssicherung nicht mehr zu einem nationalen Generationenkonflikt kommen, jedoch sehr wohl zu ernsthaften Konflikten zwischen den mächtigen Pensionsfonds der ersten Welt und den Beschäftigten der zweiten und dritten Welt. Obwohl einerseits bezweifelt wird, dass die jungen Menschen in den westlichen Gesellschaften bereit sein werden, die wachsende Gruppe der alten Menschen zu alimentieren, wird andererseits wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass die bevölkerungsstarken Gesellschaften der unterentwickelten Länder für die Sicherung der überalterten Staaten des Westens einstehen werden. "
Nicht weniger bedenkenswert ist Anne Lenzens umsichtige Aufarbeitung einer gesellschaftspolitisch hochbrisanten Streitfrage - der Frage nach der "Gerechtigkeit zwischen Eltern und Kinderlosen". Zunächst geht sie den vielfältigen Ursachen dafür nach, warum Kinder hierzulande zum Armutsrisiko Nummer eins für ihre Eltern geworden sind. Danach stellt sie die familienspezifische Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes seit den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts dar. Sie zeigt auf, dass die Richter mit zunehmender Entschiedenheit und wachsender Ungeduld auf durchgreifende Verbesserungen für Familien dringen. Vorläufiger Höhepunkt sei das "Familien"-Pflegeurteil aus dem Jahr 2001. In ihm formulieren die Richter erstmals den Grundsatz der Gleichwertigkeit von Kindererziehungsleistung und eingezahlten Beiträgen für das Funktionieren aller sozialen Alterssicherungssysteme. Bislang, so die Richter, würde dieser Grundsatz im Sozialversicherungsrecht missachtet. Daraus ergebe sich eine systematische Bevorzugung kinderloser Beitragszahler. Anne Lenze weist nach, dass sowohl die maßgeblichen Fachleute als auch die Regierung die unmissverständlichen höchstrichterlichen Vorgaben bisher faktisch boykottieren - gerade im Rentenrecht. Damit würden große Teile der Bevölkerung - auch zu ihrem eigenen Schaden - in einer krassen Fehleinschätzung bestärkt:
" Da davon auszugehen ist, dass jeder Erwachsene den Zusammenhang zwischen seinem eigenen reproduktiven Verhalten und der Sicherheit der künftigen Renten herstellen kann, können sich kinderlose oder kinderarme Versicherte nicht auf einen Vertrauensschutz aufgrund generativen Irrtums berufen. Die demographisch bedingten Rentenkürzungen sind zu einem großen Teil bei ihnen zu realisieren, ohne dass sie sich auf eine vertrauensgeschützte Kontinuität des tradierten Rentenversicherungssystems berufen können. Es kann keinen Vertrauensschutz für das geben, was man nicht erwarten kann. "
Fazit: Das fundierte Buch von Anne Lenze ist nicht nur Pflichtlektüre für Juristen. Es ist jedem dringend zu empfehlen, der die komplexen Ursachen der sich stetig verschärfenden Rentenkrise wirklich verstehen will und der nach umfassenden Lösungen sucht. Und zwar nach Lösungen, die unseren Sozialstaat - das Fundament unserer Demokratie - tatsächlich stärken und nicht bloß durch den sozialdarwinistischen Kapitalmarkt ersetzen sollen.
Anne Lenze: Staatsbürgerversicherung und Verfassung
Mohr Siebeck, Tübingen, 2005
570 Seiten, € 114,-