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Lernen durch Beobachtung

Chefarzt Dr. Christian Dettmers führt den speziell für die neue Therapie gedrehten Videofilm vor: Was dort gezeigt wird, hat aber weder mit Unterhaltung noch mit Hypnose oder dergleichen zu tun. Der Stummfilm besteht eher aus eintönigen und immer wieder kehrenden Sequenzen mit banalen Situationen aus dem Alltag:

Michael Wieczorek |
    Das ist eine Alltagstätigkeit, die hier isoliert durchgeführt wird. Der Patient muss den Hörer vom Telefon abheben und neben das Telefon legen, guckt sich dies zuerst konzentriert 4 Minuten lang an und muss es anschließend üben und wiederholen.

    In der nächsten Sequenz legt der Patient wiederholt seine Hand auf eine Türklinke oder greift nach einem Glas. Allesamt einfache Tätigkeiten aus dem Leben, die geübt werden sollen, damit ein schneller Widereinstieg in den Alltag möglich wird. In einem Zeitraum von zwei Jahren werden 50 behandelt – eine Studie für Betroffene, die an chronischen Schlaganfällen leiden. Es geht insbesondere um Patienten, deren letzter Schlaganfall mindestens sechs Monate zurückliegt. Also in einem Stadium, in dem konventionelle Behandlungsmethoden wie Ergo- oder Physiotherapie und elektrische Stimulationen zwar einiges erreicht haben, aber keine weitere Besserung mehr zeigen. Ferdinand Binkofski von der Lübecker Universitätsklinik für Neurologie erklärt die Mechanismen, die diese optischen Reize beim Menschen auslösen:

    Es ist weniger ein Bild, das im Hirn festgehalten werden soll, sondern eher die Bewegung selber, also der ganze Bewegungsablauf. Und das wird eben als eine Abbildung der Bewegung im Hirn gespeichert und kann durch die anschließende Übung und Wiederholung durch den Patienten verfestigt werden.

    Beobachtet man aufmerksam bestimmte Bewegungen des Anderen, so werden im selben Augenblick gezielt die Bereiche des Gehirns angesprochen, die eben für diese Bewegungen zuständig sind. Die Therapeuten machen sich dabei einen natürlichen Mechanismus zunutze, bei dem ganz besondere Nervenzellen aktiv werden – die sog. Spiegelneuronen. Sie kommen im gesamten Tierreich vor, so z.B. auch bei Affen:

    Spiegelneurone sind eine bestimmte Art von Neuronen, die vor ungefähr 10 Jahren entdeckt worden ist, und diese Spiegelneurone werden aktiv, wenn ein Affe eine Bewegung ausführt, aber auch gleichzeitig, wenn der Affe beobachtet, wie eine vergleichbare Bewegung von einem anderen Affen oder einem Menschen ausgeführt wird. Also die auszuführende Aktivität wird durch die beobachtete Aktivität gespiegelt, beide Funktionen werden von den gleichen Neuronen kodiert.

    Spiegelneurone werden früh aktiv. Kleinkinder imitieren oft Mimik und Gestik ihrer Eltern. Blinzeln, Grimassen schneiden, Zunge herausstrecken – das Gesicht von Vater oder Mutter ist wie ein Spiegel für die Verhaltensweise des Kindes. So gesehen dürfte auch die Behandlung von Lähmungserscheinungen nach einem Schlaganfall buchstäblich ein Kinderspiel sein. Dann wären theoretisch auch keine Therapiefilme auf VHS nötig, da man sich die gewünschte Bewegung einfach vormachen lassen könnte. Doch die Praxis sieht bekanntlich anders aus. Bevor die Nerven in geschädigten Hirnregionen neu geknüpft werden, ist hier ein intensives Training nötig. Mindestens vier Minuten lang muss der Patient die vorgespielte Bewegung konzentriert verfolgen, bevor er sie selbst nachzuahmen versucht. Außerdem muss der Film den richtigen Anspruch zum richtigen Zeitpunkt haben:

    Wichtig ist bei diesen Bewegungen, dass die Komplexität dieser Bewegungen langsam gesteigert wird. Jedes Video beinhaltet eine bestimmte Bewegungskomplexität; man fängt bei einfacheren Bewegungen an, wie hier z.B. man führt die Hand zu der Klinke hin, fasst die Klinke an, die nächste Stufe ist dann auch die Klinke umzudrehen und die Tür zu öffnen.

    Für Dr. Christian Dettmers ist eine absolute Konzentration vor dem Bildschirm wichtig:

    Vergleichen lässt sich das möglicherweise mit dem Leistungssport, wo schon lange mentales Training als ein anerkanntes Verfahren in der Trainingstherapie ist. Man sieht es jetzt gerade bei der Weltmeisterschaft, dass Sportler vor dem Hochsprung sich sehr konzentrieren und den Bewegungsablauf mental noch mal durchgehen und auch dadurch versuchen, ihre Leistung zu verbessern.

    Günther Brühan hat vor 13 Monaten einen Schlaganfall erlitten, der die gesamte rechte Körperhälfte lahm legte:

    Das heißt die Sprache war betroffen, das rechte Bein war betroffen und vornehmlich der rechte Arm mit Fingerfunktionen und allem drum und dran. Die Sprache und das Bein kamen relativ schnell wieder, richtige Arbeit und richtige Probleme haben in der Therapie die Anbindung des Armes gemacht und die Feinmotorik der rechten Hand, wo ich heute noch dran am Arbeiten bin.

    Bisher durchlief Günther Brühan das gesamte Spektrum der herkömmlichen Behandlungsmethoden – mit gutem Erfolg. Doch mit Physiotherapie erreichen Betroffene nach einiger Zeit nur ein bestimmtes Niveau der Fähigkeiten, auf dem sie meistens stehen bleiben. Weitere Fortschritte gibt es dann nicht mehr. Doch genau dort soll die neue Studie ansetzen. Günter Brühan profitiert von den Videoverfahren nach eigener Meinung sehr:

    Also neben den hinlänglich bekannten Therapien, wie Ergo-, Physio- und Elektrostimulation und allem, was dazugehört, habe ich dann additiv noch diese Therapie für die Spiegelneuronen mitgemacht, die mir subjektiv den Eindruck vermittelt, dass es für mich – bei dem vorliegenden Betroffenheitsgrad – positive Auswirkungen hatte, hinsichtlich der Stabilisierung der Armfunktion und der Sicherheit, z.B. ein Glas, was auf dem Tisch steht, mit der rechten Hand greifen, zum Mund führen, trinken und in der gleichen Weise wieder absetzen.

    Damit die Mediziner hier die Fortschritte messen können, erstellt man vor Beginn der Studie verschiedene motorische Skalen. Man bietet dem Patienten Aufgaben, die mit bestimmten Noten bewertet werden. Dasselbe wird am Ende der Behandlung wiederholt. Noch verfügen die Neurologen über kein vorzeigbares Datenmaterial, schließlich beginnt die Studie erst. Auch ist damit zu rechnen, dass sich das theoretische Gedankenkonstrukt nicht immer 1:1 in die Praxis umsetzen lässt:

    Es ist vorstellbar, dass Patienten, bei denen, sagen wir alle Kompensationsmöglichkeiten ausgeschöpft sind – beispielsweise durch einen Schlaganfall kaputtgegangen sind, dass die auf diese Therapie weniger ansprechen. Patienten mit kleineren Läsionen von eben viel mehr Kortexareale und Hirnstrukturen stehen geblieben sind, werden möglicherweise besser auf diese Therapie ansprechen.

    Nicht alle Schlaganfallgeschädigten werden also dieselben Fortschritte machen. Dennoch sind die Therapiemöglichkeiten jetzt besser und die Heilungschancen größer denn je. Schon in 2 Jahren wird es erste greifbare Ergebnisse geben.