Karin Fischer: In Genf unter der Erde steht die größte Maschine der Welt, der Teilchenbeschleuniger, der als Meilenstein der modernen Physik gilt, als Labor, das unser Weltbild revolutionieren könnte. Und auch wenn das Großexperiment schon beim Hochfahren im Oktober vor den Augen Hunderter geladener Gäste kollabierte und jetzt erst mal ebenso groß dimensionierte Reparaturen zu leisten sind, ist die Euphorie noch nicht ganz verflogen. Zum Beispiel will man in dem Ringtunnel nach den sogenannten Higgs-Teilchen suchen. Wenn man die fände, wäre endlich geklärt, warum Materie eine Masse besitzt und sich gegenseitig anzieht. Vielleicht kann man im Teilchenbeschleuniger aber auch nachweisen, dass das Universum mehr Raumdimensionen besitzt, als uns bekannt sind. Was davon hier interessiert, ist der philosophische Teil dieser Experimente, den die Kulturwissenschaftlerin Lydia Haustein eine "Ikonographie des Unsichtbaren" nennt. Frau Haustein, was genau bedeutet das?
Lydia Haustein: Also wenn wir den Terminus "Ikonographie des Unsichtbaren" aufgreifen, so könnte man sagen, dass es bisher doch immer eher des Postulat des Sichtbaren gab und dass CERN sich in einen Bereich, in eine Materie begibt, die sich dem Unsichtbaren widmet. Das heißt, Sie haben einen riesigen Bereich von Imagination, philosophischen Vorstellungen und die Herausforderung, für etwas ein Bild zu finden, was sich per se eigentlich nicht als Abbild oder Bild verstehen lässt. Und damit berühren wir eine ungeheure Herausforderung für die Philosophie und die Geisteswissenschaften insgesamt, nämlich den Teil, den sie allzu lange ausgeklammert hat, nämlich in einen intensiven Dialog mit der Naturwissenschaft einzutreten. Und ich glaube, das ist an CERN das Herausragende, wie können wir gemeinsam das Neue denken, wie kommt etwas Neues in die Welt.
Fischer: Also wenn es darum geht, das Unsichtbare sichtbar zu machen bzw. eigentlich nicht erklärbare Phänomene zu erklären, dann wäre meine nächste Frage: Auf welchem Weg organisiert CERN solche neue Erkenntnis?
Haustein: CERN organisiert vor allen Dingen über Gruppen und über Zusammenarbeit in einer großen Transdisziplinarität solcher Erkenntnisse, wie sie, ich glaube, auf so eine Art und Weise und in einer solchen umfassenden Idee noch nie stattgefunden hat. Also die Organisation erfolgt über etwas, was sich Atlas nennt, wo Tausende von Wissenschaftlern zusammenkommen und ihre kreativen Impulse zusammengefasst werden. Und ich denke, was ja schon irgendwie außergewöhnlich ist, ist diese Herausforderung, mit einem Riesenapparat einer Laboranlage zu operieren, und man weiß, dass man etwas sucht, aber man weiß nicht genau, was man sucht. Und wir haben eine solche Vielzahl von Messdaten und Messresultaten, dass wir sie nicht ohne Weiteres unter einen Hut bringen können. Wir haben Millionen Daten, die wir durch ein Raster filtern müssen. Das heißt, die große Frage stellt sich bei CERN, was haben wir gesehen, wenn wir etwas gesehen haben, und hat es tatsächlich noch mit unserem Bildbegriff zu tun.
Fischer: Und was davon ist bedeutsam für die Philosophie? Lässt sich, wenn man die Arbeit der Physiker oder der Naturwissenschaften überhaupt beobachtet, denn so was wie ein neues Denken auch in anderen Bereichen etablieren?
Haustein: Ja, es stellt sich die grundlegende Frage, wie sich Möglichkeiten des Menschen, sich zu verändern, stellen, und ich denke, über das Neue, und zwar das Neue, in Bereiche der Spekulation zu gehen, wie wir noch nie zuvor gedacht haben. Wenn wir zum Beispiel an Leute wie Richard Feynmann denken mit seinen weltberühmten Feynmann-Diagrammen, so war es ihm immer ein ungeheures Anliegen, über die Transdisziplinarität und über das Zusammenprallen der verschiedenen Wissenskulturen neue Energie zu schaffen. Also es geht um Prognostik, also wie bestimmte Resultate vorausgedacht werden können, und diese Idee der Prognostik, also einer neuen habituellen Prognostik, die können wir tatsächlich aus diesen physikalischen Experimenten lernen.
Fischer: Stichwort Transkulturalität, lässt sich so ein neues transkulturelles Denken auf unseren philosophischen oder auch anderen Alltag übertragen und was wären da Beispiele dafür?
Haustein: Also Beispiele sind, dass wir plötzlich auch Bereiche einbeziehen wie japanische Raumbegriffe, Raumvorstellungen, also wo das Selbst ja schon immer viel stärker in einem Kontinuum gedacht wurde, als das in der westlichen Kultur ist, und wo wir plötzlich meinetwegen vom Hilbert-Raum über die Riemannschen Räume auch zu Ideen von zen-buddhistischen Vorstellungen kommen, also wo man durchaus religiöse Bereiche und Metaphern verwendet. Und gleichzeitig diese Idee des Atlas', also dass wir Multipolarität in das Denken bringen, ist etwas, was wir von CERN lernen können. Die Geisteswissenschaften, zumal die westlichen, tendieren immer noch dazu, in einer evolutionären Idee die Eindimensionalität zu unterstreichen, und multipolares Denken ist eher ungewöhnlich. Das heißt, wir können im Prinzip nicht aushalten, in Gruppen zusammenzuarbeiten, ohne dass der eine von dem anderen weiß, sondern es geht immer darum, einen Überblick zu behalten, und man mag sich nicht darauf einlassen, sich mit dem völlig Fremden zu konfrontieren.
Fischer: Sie müssen verzeihen, Lydia Haustein, dass ich noch mal sozusagen auf die Alltagspraxis komme. Wie wäre solch neues Denken vorstellbar anhand welcher Beispiele?
Haustein: Sie wäre vorstellbar, indem wir meinetwegen schauen auf das, was sich im globalen Markt im Moment tut. Sie wäre vorstellbar, was sich im Zusammenprallen multipolarer und vieldimensionaler religiöser Strukturen bewegt und tut, also dass wir plötzlich konfrontiert sind mit einer Entwicklungssituation, die wir so in dieser Intensität noch nie in einem Jahrhundert gekannt haben. Man könnte hier noch einmal die Floskel von der Globalisierung benennen, die alle möglichen Bereiche betrifft und die wir nicht mehr mit einer Haltung bewältigen können, die Multipolarität ausschließt. Und ich glaube, dass wir im Hinblick darauf von den Naturwissenschaften ungeheuer viel lernen können. Diese Zigtausende von Wissenschaftlern, die da zusammenarbeiten, die koordiniert werden müssen, die eine Wissenskoordination bewirken, das ist natürlich auch etwas, was wir auf globale Strukturen übertragen, dass wir endlich Zehntausende von Chinesen mit Zehntausenden von Indern und Zehntausenden Deutschen zusammenbringen und sagen, wir tauschen uns aus, und zwar auf eine Art und Weise, wo wir ein einziges Resultat haben. Und das ist die Faszination von CERN, dass wir im Grunde eine Versuchsanordnung haben, die nicht mehr überschaubar ist, aber die so angelegt ist, um ein einziges Resultat zu haben. Und um nicht missverstanden zu werden, es geht mir nicht um Analogien, sondern es geht mir tatsächlich um die Frage, wie können wir das Neue denken, also das Neue in einer Art und Weise, dass es Menschen tatsächlich verändert.
Lydia Haustein: Also wenn wir den Terminus "Ikonographie des Unsichtbaren" aufgreifen, so könnte man sagen, dass es bisher doch immer eher des Postulat des Sichtbaren gab und dass CERN sich in einen Bereich, in eine Materie begibt, die sich dem Unsichtbaren widmet. Das heißt, Sie haben einen riesigen Bereich von Imagination, philosophischen Vorstellungen und die Herausforderung, für etwas ein Bild zu finden, was sich per se eigentlich nicht als Abbild oder Bild verstehen lässt. Und damit berühren wir eine ungeheure Herausforderung für die Philosophie und die Geisteswissenschaften insgesamt, nämlich den Teil, den sie allzu lange ausgeklammert hat, nämlich in einen intensiven Dialog mit der Naturwissenschaft einzutreten. Und ich glaube, das ist an CERN das Herausragende, wie können wir gemeinsam das Neue denken, wie kommt etwas Neues in die Welt.
Fischer: Also wenn es darum geht, das Unsichtbare sichtbar zu machen bzw. eigentlich nicht erklärbare Phänomene zu erklären, dann wäre meine nächste Frage: Auf welchem Weg organisiert CERN solche neue Erkenntnis?
Haustein: CERN organisiert vor allen Dingen über Gruppen und über Zusammenarbeit in einer großen Transdisziplinarität solcher Erkenntnisse, wie sie, ich glaube, auf so eine Art und Weise und in einer solchen umfassenden Idee noch nie stattgefunden hat. Also die Organisation erfolgt über etwas, was sich Atlas nennt, wo Tausende von Wissenschaftlern zusammenkommen und ihre kreativen Impulse zusammengefasst werden. Und ich denke, was ja schon irgendwie außergewöhnlich ist, ist diese Herausforderung, mit einem Riesenapparat einer Laboranlage zu operieren, und man weiß, dass man etwas sucht, aber man weiß nicht genau, was man sucht. Und wir haben eine solche Vielzahl von Messdaten und Messresultaten, dass wir sie nicht ohne Weiteres unter einen Hut bringen können. Wir haben Millionen Daten, die wir durch ein Raster filtern müssen. Das heißt, die große Frage stellt sich bei CERN, was haben wir gesehen, wenn wir etwas gesehen haben, und hat es tatsächlich noch mit unserem Bildbegriff zu tun.
Fischer: Und was davon ist bedeutsam für die Philosophie? Lässt sich, wenn man die Arbeit der Physiker oder der Naturwissenschaften überhaupt beobachtet, denn so was wie ein neues Denken auch in anderen Bereichen etablieren?
Haustein: Ja, es stellt sich die grundlegende Frage, wie sich Möglichkeiten des Menschen, sich zu verändern, stellen, und ich denke, über das Neue, und zwar das Neue, in Bereiche der Spekulation zu gehen, wie wir noch nie zuvor gedacht haben. Wenn wir zum Beispiel an Leute wie Richard Feynmann denken mit seinen weltberühmten Feynmann-Diagrammen, so war es ihm immer ein ungeheures Anliegen, über die Transdisziplinarität und über das Zusammenprallen der verschiedenen Wissenskulturen neue Energie zu schaffen. Also es geht um Prognostik, also wie bestimmte Resultate vorausgedacht werden können, und diese Idee der Prognostik, also einer neuen habituellen Prognostik, die können wir tatsächlich aus diesen physikalischen Experimenten lernen.
Fischer: Stichwort Transkulturalität, lässt sich so ein neues transkulturelles Denken auf unseren philosophischen oder auch anderen Alltag übertragen und was wären da Beispiele dafür?
Haustein: Also Beispiele sind, dass wir plötzlich auch Bereiche einbeziehen wie japanische Raumbegriffe, Raumvorstellungen, also wo das Selbst ja schon immer viel stärker in einem Kontinuum gedacht wurde, als das in der westlichen Kultur ist, und wo wir plötzlich meinetwegen vom Hilbert-Raum über die Riemannschen Räume auch zu Ideen von zen-buddhistischen Vorstellungen kommen, also wo man durchaus religiöse Bereiche und Metaphern verwendet. Und gleichzeitig diese Idee des Atlas', also dass wir Multipolarität in das Denken bringen, ist etwas, was wir von CERN lernen können. Die Geisteswissenschaften, zumal die westlichen, tendieren immer noch dazu, in einer evolutionären Idee die Eindimensionalität zu unterstreichen, und multipolares Denken ist eher ungewöhnlich. Das heißt, wir können im Prinzip nicht aushalten, in Gruppen zusammenzuarbeiten, ohne dass der eine von dem anderen weiß, sondern es geht immer darum, einen Überblick zu behalten, und man mag sich nicht darauf einlassen, sich mit dem völlig Fremden zu konfrontieren.
Fischer: Sie müssen verzeihen, Lydia Haustein, dass ich noch mal sozusagen auf die Alltagspraxis komme. Wie wäre solch neues Denken vorstellbar anhand welcher Beispiele?
Haustein: Sie wäre vorstellbar, indem wir meinetwegen schauen auf das, was sich im globalen Markt im Moment tut. Sie wäre vorstellbar, was sich im Zusammenprallen multipolarer und vieldimensionaler religiöser Strukturen bewegt und tut, also dass wir plötzlich konfrontiert sind mit einer Entwicklungssituation, die wir so in dieser Intensität noch nie in einem Jahrhundert gekannt haben. Man könnte hier noch einmal die Floskel von der Globalisierung benennen, die alle möglichen Bereiche betrifft und die wir nicht mehr mit einer Haltung bewältigen können, die Multipolarität ausschließt. Und ich glaube, dass wir im Hinblick darauf von den Naturwissenschaften ungeheuer viel lernen können. Diese Zigtausende von Wissenschaftlern, die da zusammenarbeiten, die koordiniert werden müssen, die eine Wissenskoordination bewirken, das ist natürlich auch etwas, was wir auf globale Strukturen übertragen, dass wir endlich Zehntausende von Chinesen mit Zehntausenden von Indern und Zehntausenden Deutschen zusammenbringen und sagen, wir tauschen uns aus, und zwar auf eine Art und Weise, wo wir ein einziges Resultat haben. Und das ist die Faszination von CERN, dass wir im Grunde eine Versuchsanordnung haben, die nicht mehr überschaubar ist, aber die so angelegt ist, um ein einziges Resultat zu haben. Und um nicht missverstanden zu werden, es geht mir nicht um Analogien, sondern es geht mir tatsächlich um die Frage, wie können wir das Neue denken, also das Neue in einer Art und Weise, dass es Menschen tatsächlich verändert.