Dienstag, 07. Mai 2024

Archiv


Lexikon der russischen Kultur

Der Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahr 1991 markiert nicht nur das Ende der kommunistischen Utopie und den Bankrott eines politischen Systems. Er kennzeichnet darüber hinaus einen tiefreichenden Bruch im ideologischen und kulturellen Gefüge des Landes, der die bis dahin gängigen Perspektiven und Wertungen grundsätzlich in Frage stellt. War doch die Sicht auf die Kultur und Geschichte Russlands, auf das russische Denken, seine Literatur und Kunst jahrzehntelang geprägt von der Konfrontation des kalten Krieges: auf der einen Seite die ideologisch einseitige sowjetische, marxistisch klassenkämpferische Sicht, auf der anderen Seite die oppositionelle Sicht der Emigranten und Dissidenten, die natürlich in ihrer Gegenposition eine wirklich objekte Wahrnehmung ebenfalls kaum möglich machte.

Karla Hielscher | 24.01.2003
    In Russland selbst ist seit der Perestrojka ein stürmischer Umwertungs- und Neudeutungsprozess der eigenen Geschichte und Kulturgeschichte in Gang gekommen, der in seiner Radikalität kaum Grenzen kennt. Fieberhaft wird an neuen Geschichtsbüchern, Literaturgeschichten und Lehrbüchern der sog. "Kulturologie" gearbeitet , die - je nach weltanschaulicher Ausrichtung - wiederum oft genug wissenschaftliche Objektivität vermissen lassen.

    Auch die in Deutschland vorliegenden Bücher zur russischen Kultur- und Literaturgeschichte sind von der ideologischen Ost-West-Konfrontation des 20. Jahrhunderts geprägt oder inzwischen veraltet. Ein Großteil der in der DDR entstandenen Werke - man denke nur etwa an die zweibändige Geschichte der Sowjetliteratur - ist durch die ideologisch verengte Sicht heute nicht mehr zu gebrauchen. Kein Wunder also, dass auch die deutschen Slawisten und Kulturwissenschaftler, die sich mit Russland beschäftigen, emsig am Werk sind.

    Nachdem schon vor zwei Jahren die dickleibige Literaturgeschichte von Reinhard Lauer erschienen ist, sind nun gerade wieder zwei gewichtige Bücher auf den Markt gekommen, die dem postsowjetischen vorurteilsfreien Umgang mit der Kultur- und Geistesgeschichte Russlands Rechnung tragen: das von Norbert Franz herausgegebene "Lexikon der russischen Kultur" und die "Russische Literaturgeschichte" von Klaus Städtke. Beide Werke richten sich bewusst nicht an enge slawistische Fachkreise, sondern an ein breites interessiertes Laienpublikum. Zunächst zum Lexikon. Der Herausgeber Norbert Franz von der Universität Potsdam:

    Der Adressat des Lexikons sind alle diejenigen, die sich auf wissenschaftlich fundierte Weise, allerdings ohne den eigentlichen wissenschaftlichen Jargon, (..) ohne zuviele gelehrte Fußnoten und ähnlichem mehr, sich ein Bild von Erscheinungen der russischen Kultur machen möchte. Das können Studierende sein, das können aber auch solche sein, die aus irgendwelchen beruflichen Gründen heraus mit Russland und seiner Kultur zu tun haben und auch noch mal eine speziellere Gruppe: wir haben hier in Ostdeutschland es mit einer Menge von Personen zu tun, die durch den Schulunterricht das Russische kennen, die vielleicht auch durch Auslandsaufenthalte die Sowjetunion damals kennen gelernt haben und allerdings dem sowjetisch vermittelten Kanon dann auch nicht so sehr trauen und jetzt nach einer anderen Art des Zugangs zu Russland suchen.

    Mehr als 50 der bekanntesten Slawisten, Osthistoriker und Kulturwissenschaftler aus Deutschland, Russland und Polen stellen in 240 Beiträgen die unterschiedlichsten Aspekte der russischen Kultur vor. Das Sachlexikon bietet Artikel zu Geschichte und Ideengeschichte, zu Religion und Kirche, zu Kunst und Literatur. Ausgewählt wurden Stichwörter zur Hochkultur, also zu Theater, Film, Musik und die wichtigsten Schlüsselbegriffe der großen Debatten der russischen Geistesgeschichte wie "Westler"/Slawophilen usw.. Aber auch die Alltagskultur erhält mit Stichwörtern wie "Sauna" ( also die berühmte russ. "banja") oder "Samowar "breiten Raum. Außerdem hat man auch an den kulturell interessierten Touristen gedacht, wenn Begriffe wie "Matrjoschka" für die berühmte Puppe in der Puppe, "Kreml" oder "Gastfreundschaft" mit einbezogen wurden.

    Das Lexikonprojekt entstand aus der Kooperation der Potsdamer Universität mit den Universitäten von Petersburg und Opole/Oppeln in Polen. Die Zusammenarbeit von deutschen, russischen und polnischen Autoren erwies sich als fruchtbar aber auch konfliktträchtig. Norbert Franz erzählt:

    Das war auch eine hochspannende Angelegenheit, weil natürlich es jede Menge Begriffe gibt, die in Russland selbst und dann auch zwischen Russen und Nichtrussen sehr kontrovers diskutiert werden wie etwa die Armee. Eine Institution, die für die Welterfahrung der Russen immer eine große Rolle gespielt hat. Russland war immer, auch zur Zarenzeiten, ein Militärstaat. Und häufig tauchen dann eben auch die Figuren von Soldaten, von Soldatenfrauen u. ä .in den literarischen Werken auf und dann muß man auch erklären, was das ganz einfach für den Alltag bedeutete. Und dann kommt natürlich die Frage jetzt : hat man nun unter den Autoren jemand, der stark patriotisch gestimmt ist, dann fällt natürlich die Bewertung der Rolle der Armee in der Geschichte ganz anders aus, als wenn das ein Ausländer schreibt. Und so haben wir uns da in diesem Fall zu einer Kooperation entschlossen, was den Artikel angeht.

    Gerade weil das Buch so unterschiedliche Benutzer ansprechen will, entsteht durch die manchmal angreifbare Auswahl und Gewichtung der Stichworte ein ziemlich buntgewürfeltes, heterogenes Nebeneinander. Und auch die Qualität der einzelnen Beiträge ist überaus ungleich. Die weiterweisenden Literaturangaben erscheinen allzu knapp bemessen.

    Trotzdem ist dieses Lexikon ein nützliches, hilfreiches Buch, ein Buch, das gebraucht wird. Die von Klaus Städtke herausgegebene neue russische Literaturgeschichte stellt in acht überschaubaren Übersichtskapiteln auf nur 441 Seiten die russische Literaturgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart dar. Verfasser sind sechs renommierte deutschsprachige Slawisten und Slawistinnen, die alle hochkompetente Spezialisten für die von ihnen vorgestellten Epochen sind. Dem 20. Jahrhundert, für das sich ja nach dem Ende der Sowjetunion die Bewertungsmaßstäbe besonders radikal verändert, ja manchmal umgekehrt haben, ist besonders breiter Raum gewidmet. Es ist eine der schwierigen Herausforderungen, der sich die Literaturgeschichtsschreibung heute stellen muss, die russische Literatur des 20. Jahrhunderts, die ja nach der Oktoberrevolution in die offizielle Sowjetliteratur, den dissidentischen Samisdat und die im Ausland erscheinende Emigrantenliteratur gespalten war, in ihrer problematischen Einheit zu erfassen.

    Der Herausgeber des Bandes, der 1981 aus der DDR in den Westen gekommene, inzwischen emeritierte Bremer Slawist Klaus Städtke über das Konzept:

    Der Ansatz unseres Buches besteht in erster Linie darin, dass wir (gegenüber den anderen Literaturgeschichten, von denen vorhin schon die Rede war), nicht eine philologische Generaluntersuchung der russischen Literatur geplant und durchgeführt haben, sondern, dass wir eher von einer kulturgeschichtlichen Position aus versucht haben, die historischen Bedingungen für die Ermöglichung von Literatur in den einzelnen Etappen ihrer Entwicklung aufzuzeigen und die Autoren und Werke, die zweifellos vorkommen - das ist selbstverständlich - und auch analysiert werden, dass wir die Autoren und Werke und Details dieser Literaturentwicklung, immer einzubetten versucht haben in einen kulturgeschichtlichen Kontext oder mehrere kulturgeschichtliche Kontexte, um für den heutigen Leser die Möglichkeit zu geben, sie eher unter einem modernen, verknüpfenden Gesichtspunkt zu sehen...

    Diese Literaturgeschichte stellt sich also die Aufgabe, in kompakter, systematischer Weise den literarischen Prozess in die historisch gesellschaftliche Entwicklung einzuordnen, weshalb den Institutionen des literarischen Lebens, dem Buchmarkt, den Medien, der Zensur, der Rolle der Salons, der Literaturgesellschaften usw. besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird.

    Das Werk wurde konzipiert für die Literaturgeschichtsreihe des Metzlerverlages, in der schon mit ähnlichen Vorgaben - also keine spezialistische Vertiefung des Gegenstands, keine begriffliche Abstraktion, keine Fußnoten, keine Wissenschaftssprache - englische, französische, italienische u. a. Literaturgeschichten in ganz gleicher ansprechender Aufmachung erschienen sind. Dahinter steht die Absicht, die russische Literatur aus ihrer eigentümlichen Sonderstellung herauszuholen.

    Ich glaube, das ist ein wesentlicher Gesichtspunkt, weil wir von vornherein, auch durch den Einfluss und die Einwirkung des Verlages darauf bedacht waren, nicht die gängige Vorstellung des deutschen Lesers von der russischen Literatur, ihrer Exotik, ihrer Besonderheit, ihrer besonderen Spiritualität, ihrer Religiosität - alles Eigenschaften, die sie zweifellos hat - aber die nicht allein ihr Wesen ausmachen, dass wir gegen solche gängigen Vorstellungen über die russische Literatur eigentlich angeschrieben haben oder uns bemüht haben, nüchterner und europäischer diese Literatur einzubringen nicht nur formal in diese Reihe, sondern auch darüber hinaus inhaltlich an den europäischen Leser.

    Der Verlag hat ein schön gestaltetes Buch gemacht, äußerst leserfreundlich, mit vielen Illustrationen und einem breiten weißen Rand, auf dem Schlagwörter und kleine Abbildungen eine schnelle Orientierung ermöglichen und zum Hin- und Her- Blättern und Schmökern anregen.