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Lin Hai und Qi Yanchen (China)

Lin Hai, geboren im Jahre 1968 in Peking, hat Elektrotechnik studiert. Nach dem Studium gründete er 1995 in Shanghai ein Unternehmen, das sich auf Vertrieb von Internetdienstleistungen spezialisiert hatte. Zu seinen Angeboten gehörte der Austausch von Emails diverser Organisationen. Seit 1997 sammelte Lin Hai Emailadressen in China und schickte diese an international agierende Internetmagazine, die ihre Ausgaben per Email an die Leser bringen. Eine Praxis, die übrigens auch amtliche Zeitungen in China pflegen. Große Parteizeitungen etwa publizieren regelmäßig Emailadressbücher und verkaufen diese auf dem Markt.

Shi Ming |
    Die Selbstverständlichkeit der Publikationspraxis rettete den Medienunternehmer Lin Hai jedoch nicht. Am 25. März 1998 wurde Lin Hai von der Shanghaier Polizei heimlich festgenommen. Lange Zeit hörte man nichts von ihm. Erst Mitte Juni 1998 sickerte in Hongkonger Presse durch, was Lin Hai verbrochen haben soll: Unter seinen Internet-Kunden befinden sich zwei chinesischsprachige Internet-Magazine aus New York, die sich "Da Cankao" (das Große Journal) und "xiao cankao"(das Kleine Journal) nannten. Beide Magazine bekannten sich offen zur Informations- und Pressefreiheit und versuchten mit täglich über 250 000 Emails die Zensur der chinesischen Führung zu brechen. Täglich berichten sie über Protestbewegungen und Streiks in China, die im Reich der Mitte heute zum Alltag gehören, in amtlichen Medien jedoch totgeschwiegen werden. An diese beiden Internetmagazine hatte Lin Hai rund 30 000 Emailadressen weitergeleitet. Dazu der Sozialphilosoph Cai Chongguo aus dem Exil in Paris:

    Cai Chongguo: Noch nie zuvor waren die wirtschaftlichen und sozialen Probleme in China so ernst und kritisch wie heute. Die Massenarbeitslosigkeit und Massenkorruption erweitern im Zusammenwirken das Gefälle zwischen Arm und Reich. Aus sozialer Unzufriedenheit heraus entwickeln sich landesweit Proteste und Streiks, die fast jeden Tag stattfinden. Es ist nur folgerichtig, dass Menschen unter diesen Umständen alle Kanäle suchen und nutzen, um sich ungehindert über die Lage ihres Landes, ihrer Familie und schließlich auch über die eigene Lage zu informieren.

    Die Meinung von Cai Chongguo teilte der Ökonom Qi Yanchen, 35 Jahre alt. Der Unterschied: Qi Yanchen agierte politisch als bekannter Volkswirte in China. Anfang 1998 hatte er die "Vereinigung zur Entwicklung Chinas" mit begründet. Ein Jahr später, Anfang 1999, wurden die ersten führenden Mitglieder der Organisation verhaftet. Qi aber setzte die Arbeit fort und betreute das Magazin "Vergleichen und Nachdenken", ein Forum für Chinas junge Gelehrte, die sich über das Land und seine Reformpolitik Gedanken machen. Auch Qi Yanchen gehörte zu den Stammautoren für das Magazin und verfasste darüber hinaus das Buch "Der Zusammenbruch Chinas". Wegen kritischer Äußerungen konnte das Buch in China selbst nie gedruckt werden. Qi Yanchen publizierte deshalb im internationalen Netz. In mehreren Internet- Foren bzw. -magazinen konnte Qi aus seinem Buch über die zwingend notwendigen politischen Reformen Auszüge veröffentlichen.

    Cai Chongguo: Seit 1997 hofften selbst viele Mitglieder der KP Chinas auf eine politische Lockerung, auf politische Reform. Denn sie sahen ein, dass ohne eine politische Reform, ohne Freiheiten für einzelne Menschen in China, letztlich auch die Wirtschaftsreform scheitern wird. Doch zeigt sich die Führung unter Jiang Zemin als absolut unfähig zu einer derartigen Reform. Im Gegen-teil: All, ob anders Glaubende oder Dissidenten im Internet, erfahren wieder die alt vertraute Unterdrückung im Stil der Kulturrevolution.

    Am 2. September 1999 wurde der Publizist Qi Yanchen von der Polizei der Stadt Cangzhou verhaftet, wegen des Verdachts, die Regierung stürzen zu wollen. Sicherheitsbeamten holten ihn von seinem Büro ab. Gleichzeitig wurde seine Wohnung durchsucht. Vor allem Internetmagazine wie "Xiao Cankao", also jenes "kleine Journal" aus New York, wurde als Beweis-material für Qi’s Verschwörung sichergestellt. Am 16. Dezember 1999 übernahm die Staatsanwaltschaft den Fall Qi Yanchen. Eine Anklage wegen Staatsumsturzes ist geplant. Als weitere Beweise dienen Qi Yanchens Veröffentlichungen im Internet. Trotz Proteste chinesischer Dissidenten und westlicher Politiker, darunter auch Bundeskanzler Gerhard Schröder bei seinem China-Besuch im November 1999, ist eine Verurteilung Qi Yanchens zu mehrjähriger Freiheitsstrafe gegen Mitte Januar 2000 zu befürchten. Denn eine juristische Präzedenz gegen politisch Andersdenkende im Internet gibt es schon, und zwar die Verurteilung des Shanghaier Medienunternehmers und Publizisten Lin Hai.

    Auch im Fall Lin Hai lautete die Anklage "Umsturzversuch". Am 6. Dezember 1998, erst neun Monate nach seiner Inhaftierung und Isolation von der Außenwelt, begann der Prozeß gegen ihn unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Selbst Lin Hais Ehefrau Xu Hong durfte nicht zugegen sein. Xu wurde unter dem Vorwand des Diebstahls am Tag des Prozesses für sechs Stunden in Beugehaft genommen, damit sie die vierstündige Verhandlung nicht durch Proteste stören konnte. An ihrer Stelle protestierten einen Tag später, am 7. Dezember 1998, 13 Menschenrechts- und Wissenschaftlerorganisationen weltweit auf das Heftigste im Internet:

    Zitat: Wir sind empört über die jüngste Unterdrückungswelle, die nun in der Verurteilung gegen Lin Hai gipfelt. Damit entpuppt sich Chinas Unterschrift unter der Internationalen Konvention zum Schutz von politischen Bürgerrechten als leere Geste. Wir wollen das Internet nutzen, um Lin Hai zu verteidigen, der dafür bestraft wird, dass er Emails gesendet hat. Diese Protestaktion soll dazu beitragen, die Rede- und Meinungsfreiheit weltweit im Internet zu bewahren.

    Bislang sind alle Rettungsversuche der Menschenrechtsorganisationen ergebnislos geblieben - auch im Fall von Lin Hai. Am 20. Januar 1999, vor etwa genau einem Jahr, wurde Lin Hai verurteilt: zwei Jahre Gefängnis für den jungen Medienunternehmer, der es wagte, freieren Informationsfluss via Internet auch nur zu begünstigen.